Deutschland will wegen der gestiegenen irregulären Migration erweiterte Kontrollen an den Grenzen zu Polen und Tschechien einführen. Das ist nur das vorläufig letzte Beispiel dafür, dass die Reisefreiheit in Europa, die das sogenannte Schengen-Abkommen verspricht, arg unter Druck steht.
Schengen ist ein Winzerdorf mit knapp 3800 Einwohnerinnen und Einwohnern an der Mosel. Es liegt im Südosten Luxemburgs, unmittelbar beim Dreiländereck mit Deutschland und Frankreich. Der Ort hat internationale Bekanntheit erlangt, seit dort 1985 Vertreter von fünf der damaligen zehn EG-Mitgliedstaaten (Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Belgien und Niederlande) auf dem Passagierschiff Princesse Marie-Astrid ein Abkommen unterzeichneten, mit dem die stationären Kontrollen an den Binnengrenzen der beteiligten Länder abgeschafft wurden. Mit diesem Abkommen sollte die Vollendung des EU-Binnenmarkts erleichtert werden, insbesondere im Bereich des freien Personenverkehrs.
Seither wurde das Schengen-Abkommen mehrfach ergänzt und modifiziert (Schengen I bis III) und ins EU-Recht überführt. Durch Zusatzverträge wurden die Schengener Abkommen auch auf die Efta-Länder Schweiz, Liechtenstein, Norwegen und Island ausgeweitet. Von den heutigen EU-Mitgliedstaaten wendet Irland die Schengen-Regeln nicht an; Bulgarien, Rumänien und Zypern sind Schengen-Beitrittskandidaten. Damit umfasst der sogenannte Schengen-Raum zurzeit 27 Nationen vom Nordkap bis Sizilien und vom Baltikum bis an den Atlantik.
Kontrollen an den Binnengrenzen der Schengen-Staaten dürfen gemäss Schengen-Abkommen nur noch in Ausnahmefällen – und zeitlich auf sechs Monate beschränkt – durchgeführt werden. Solche Ausnahmen können angezeigt sein, wenn die öffentliche Ordnung eines Schengen-Staates schwerwiegend bedroht oder dessen innere Sicherheit gefährdet ist. Es hat sie schon gegeben, etwa während Fussball-Europa- und -Weltmeisterschaften oder während der Durchführung von Gipfeltreffen der G-7-Industriestaaten. Auch während der Flüchtlingskrise 2015/16 sowie während der Coronavirus-Pandemie 2020 bis 2022 kam es zur Wiedereinführung von Grenzkontrollen und gar zu Grenzschliessungen. Diese dauerten teils länger als die maximal sechs Monate, die erlaubt gewesen wären.
Sonderfall Schweiz
Während stationäre Kontrollen an den Binnengrenzen der Schengen-Staaten in der Regel nicht zulässig sind, kann es mobile Kontrollen hinter der Grenze weiterhin geben. Sie müssen aber stichprobenartigen Charakter haben, dürfen also nicht systematisch sein. An den Grenzübergängen der Schweiz zu ihren Nachbarländern ist es – im Gegensatz zu den Grenzübergängen zwischen den EU-Mitgliedstaaten – indessen noch zulässig und üblich, Zollabfertigungen und stichprobenweise Personenkontrollen durchzuführen. Dies um herauszufinden, ob Personen zollpflichtige Waren mit sich führen, oder um den Ursprung von Waren festzustellen. Denn die Schweiz ist nicht Mitglied der EU-Zollunion und somit gegenüber der Europäischen Union handelspolitisch autonom.
An den schweizerischen Grenzübergängen gibt es deshalb weiterhin Zollhäuser und Geschwindigkeitsbeschränkungen für Fahrzeuge. Zudem patrouillieren schweizerische und deutsche Grenzschützer gemeinsam im Grenzgebiet – eine Kooperation, die von Deutschland als vorbildlich eingestuft wird. Aufgrund der zuletzt gestiegenen illegalen Grenzübertritte im Tessin plant das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit dort die Zahl der Grenzwächter aufzustocken.
Kontrollen nehmen zu
Den Vorschriften im Schengen-Abkommen zum Trotz haben die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen des Schengen-Raums in den vergangenen Jahren zugenommen – und dies nicht nur vorübergehend. Das untergräbt die Glaubwürdigkeit des Abkommens und beeinträchtigt die Personenfreizügigkeit im Schengen-Gebiet.
Hier eine Übersicht, wo zurzeit weshalb kontrolliert wird:
- Deutschland hat eben angekündigt, an der Grenze zu Polen und Tschechien erweiterte Kontrollen einführen zu wollen. Dies, um Schleppern, die diese beiden Länder zum Aufmarschgebiet für Asylsuchende aus Weissrussland und auf der Balkanroute gemacht haben, das Handwerk zu legen. Bereits seit 2015 gibt es stationäre Kontrollen an der Grenze zwischen Bayern und Österreich. Sie wurden in jenem Jahr nach der explosionsartigen Zunahme der Flüchtlinge auf der Balkanroute eingeführt und seither immer wieder verlängert.
- Ebenfalls seit 2015 führt Österreich aus dem gleichen Grund Kontrollen an der Grenze zu Slowenien durch. Nun will die Regierung in Wien auch an der Grenze zu Italien verstärkte Kontrollen einführen. Dies, nachdem immer mehr Flüchtlinge auf der zentralen Mittelmeerroute ins Nachbarland gelangen und unkontrolliert weiterreisen.
- Frankreich kontrolliert seine Grenzen seit Jahren. Zunächst tat das Land dies mit Verweis auf die innere Sicherheit nach den Terroranschlägen von 2015. Heute steht die Verhinderung der illegalen Migration im Vordergrund. An stärksten kontrolliert wird die Grenze zu Italien. Auch an der Grenze zu Spanien führt Frankreich Kontrollen durch sowie in geringerem Ausmass gegenüber Belgien, Luxemburg und Deutschland.
- Dänemark kontrolliert seine Grenze zu Deutschland. Als Begründung werden die negativen Auswirkungen einer gestiegenen Einwanderung angeführt. Die sozialdemokratische Regierung in Kopenhagen verfolgt eine der härtesten Migrationspolitiken in Europa.
- Auch Schweden kontrolliert seine Grenzen zu den Nachbarländern. Im Vordergrund steht dabei weniger die irreguläre Migration als vielmehr die gestiegene Terrorgefahr nach mehreren Koranverbrennungen, die zu Aufruhr und Protesten in muslimischen Ländern geführt haben. Die Regierung in Stockholm hat deshalb die Terrorwarnstufe erhöht.
Diese Beispiele zeigen, dass die Reisefreiheit in Europa noch mehr unter Druck kommen wird, wenn es der EU und ihren Mitgliedstaaten nicht rasch gelingt, die Flüchtlingsströme vor allem aus Nahost und Nordafrika sowie Kriminalität und Terror mit grenzüberschreitendem Charakter unter Kontrolle zu bringen. Rechtspopulistische, fremdenfeindliche Gruppierungen und Parteien verzeichnen jetzt schon grossen Zulauf. Verbuchen sie weitere Wahlerfolge, könnte das Europa ohne Grenzen, welches das Schengen-Abkommen verspricht, schon bald Fiktion sein. Die EU und Europa wären dann um eine wichtige Errungenschaft für ihre Einwohnerinnen und Einwohner ärmer.