Einmal mehr zeigen verstörende Berichte und Bilder von der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa, dass die EU-Asylpolitik nicht funktioniert. Bleibt das so, könnten die Folgen für die EU und ihre Mitgliedstaaten gravierend sein.
Jetzt also Lampedusa. Die italienische Mittelmeerinsel ist der neueste Brennpunkt der EU-Asylpolitik. An einem einzigen Mittwoch im September befanden sich rund 7000 Bootsflüchtlinge aus Nordafrika auf der Insel – fast genau gleich viele, wie diese reguläre Einwohner zählt.
Das Aufnahmezentrum für Flüchtlinge in Lampedusa ist auf 400 Personen ausgelegt. Kein Wunder, dass der Bürgermeister den Notstand ausrief. Angesichts des Flüchtlingsansturms forderte die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni Hilfe von der EU an. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reiste daraufhin auf die Insel, um sich ein Bild der Lage zu machen, und kündigte einen Zehnpunkte-Plan an. Mit ihm soll Italien geholfen und der Flüchtlingsstrom auf der zentralen Mittelmeerroute unter Kontrolle gebracht werden.
Mitte Juni dieses Jahres war es vor der griechischen Halbinsel Peleponnes bereits zum seit Jahren schlimmsten Bootsunglück mit Flüchtlingen im Mittelmehr gekommen. Über 500 Asylsuchende ertranken beim Untergang des völlig überbelegten Kutters «Adriana», rund 100 Personen überlebten. Niemand an Bord trug eine Rettungsweste. Rund um das Verhalten der griechischen Küstenwache beim Unglück tauchten zahlreiche Ungereimtheiten auf. Rekonstruktionen verschiedener Medien lassen den Schluss zu, dass mehr Menschen hätten gerettet werden können, wenn die Küstenwache einen Rettungseinsatz koordiniert und mehr Schiffe zum Unglücksort geschickt hätte.
Nicht alle Flüchtlinge sind gleich
Im November 2021 war die Grenze Polens zu Weissrussland der Brennpunkt. Nachrichten von Tausenden gestrandeter Flüchtlingen im Grenzgebiet zu Polen sorgten während Tagen für Schlagzeilen. Der weissrussische Machthaber Alexander Lukaschenko hatte die Asylsuchenden – vorwiegend aus Nahost – dorthin gebracht. Es war der Versuch, die EU für Sanktionen zu bestrafen, die diese gegen Weissrussland verhängt hatte wegen mutmasslich manipulierter Präsidentschaftswahlen.
Polen und die EU blieben hart. Polen errichtete hastig einen Grenzzaun, schloss die Grenzen und schickte Militär ins Gebiet. Dieses Vorgehen kontrastierte stark zur wohlwollenden Aufnahme von über 1,5 Millionen Flüchtlingen aus der Ukraine im Frühjahr 2022, die in Polen Schutz vor dem russischen Angriffskrieg suchten.
Im September 2020 kam es zu einem verheerenden Brand im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Er rückte die prekären Verhältnisse in den Auffangzentren und das gemäss einer Expertin «desaströse Migrationsmanagement» der EU-Mitgliedstaaten im Mittelmeerraum ins Scheinwerferlicht. Zu diesem Migrationsmanagement gehörte auch, dass Grenzbehörden Flüchtlinge, die von der Türkei aus griechische Inseln mit Booten fast erreicht hatten, wieder in internationale Gewässer abdrängten, statt sie aufzunehmen. Solche Pushbacks gab es auch in anderen EU-Grenzstaaten.
Und im Juni 2019 erlangte die deutsche Kapitänin Carola Rackete internationale Bekanntheit. Sie war mit dem Schiff «Sea Watch 3» mit 53 aus Seenot im Mittelmeer geretteten Flüchtlingen an Bord nach wochenlangem Warten vor der Küste trotz eines Verbots der italienischen Behörden in den Hafen der Insel Lampedusa eingelaufen. Rackete wurde verhaftet und wegen Widerstand gegen ein Kriegsschiff angeklagt. Nach drei Tagen wurde sie wieder freigelassen. Das Verfahren gegen sie wurde im Mai 2021 eingestellt.
Die Probleme und die Lösungen
Solche Ereignisse stehen stellvertretend für die Krise, in der sich die Asylpolitik der EU seit Jahren befindet. Diese weist folgende Hauptmängel auf:
- Die Grenzschutz- und Asylbehörden in den EU-Grenzstaaten, insbesondere am Mittelmeer, sind angesichts der sehr grossen Zahl von Flüchtlingen heillos überfordert. Es fehlt an genügend Kapazitäten in den Auffangzentren und an genügend Personal für die Durchführung der Asylverfahren.
- Die Verteilung der Flüchtlinge auf die EU-Mitgliedstaaten klappt nicht. Insbesondere osteuropäische EU-Länder wie Polen und Ungarn weigern sich, solidarisch einen Anteil an Asylsuchenden aufzunehmen.
Nach jahrelangem Ringen um eine Lösung für diese Probleme gibt es nun seit vergangenem Juni im EU-Ministerrat eine Einigung – allerdings nur mit qualifizierter Mehrheit – über die Leitlinien der EU-Asylpolitik, den sogenannten Migrationskompromiss. Zwei Ziele sollen damit erreicht werden:
- Verringerung der irregulären Einwanderung in die EU. Vorgesehen sind geschlossene und streng bewachte Flüchtlingscamps mit einer Kapazität von 30’000 Plätzen an den EU-Aussengrenzen. Asylsuchende sollen von den EU-Grenzstaaten, die theoretisch für die Durchführung der Aufnahmeverfahren zuständig sind, nicht einfach durchgewinkt werden und so unregistriert in EU-Binnenstaaten weiterreisen können. Dazu kommen schnellere Asylverfahren für Flüchtlinge aus Ländern mit geringer Anerkennungsquote; in maximal drei Monaten sollen deren Gesuche in der Regel erledigt sein. Die Antworten auf Rekurse gegen negative Asylbescheide sollen in einem sicheren Drittstaat abgewartet werden müssen.
- Bessere Verteilung der Lasten auf die EU-Mitgliedstaaten. Anders als früher erfolglos versucht, sind diesmal keine fixen Aufnahmequoten für Flüchtlinge festgelegt worden. Das Stichwort dazu lautet jetzt «flexible Solidarität»: Länder, die den Ersteinreisestaaten keine Asylbewerber abnehmen wollen, müssen zahlen. Die Rede ist von einer Pauschale von rund 20’000 Euro pro Flüchtling. Alternativ kann materielle Hilfe für den Aussengrenzschutz oder Personal für Asylverfahren zur Verfügung gestellt werden.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban bezeichnete diesen Kompromiss als «erpresserisch». Die EU, polterte er, wolle Ungarn «gewaltsam in ein Migrantenland verwandeln». Auch Polen, Tschechien, die Slowakei, Bulgarien und Malta lehnten den Migrationskompromiss ab. Ob sich angesichts dieses grossen Widerstands nun etwas ändert in der EU-Asylpolitik, wird sich erst noch zeigen. Es könnte gut sein, dass diese eine Baustelle bleibt.
Kompromiss mit Konstruktionsfehler
Der Migrationskompromiss hat aber noch einen anderen Pferdefuss: Er hindert Flüchtlinge zum einen nicht daran, nach Europa zu kommen. Und schnellere Asylverfahren nützen zum anderen nichts, wenn nicht auch dafür gesorgt ist, dass abgewiesene Bewerber rasch in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden können. Die EU hat deshalb begonnen, mit den Herkunftsstaaten sogenannte Migrationsabkommen auszuhandeln. Sie sehen vor, dass diese Länder Massnahmen gegen das Weiterreisen von Flüchtlingen ergreifen und Migranten zurücknehmen, die es bereits nach Europa geschafft haben. Als Gegenleistung erhalten diese Länder von der EU unter anderem beträchtliche finanzielle Hilfen.
Solche Abkommen existieren seit 2016 mit der Türkei und seit vergangenem Juni mit Tunesien. Während das Abkommen mit der Türkei einigermassen funktioniert, ist der Erfolg bei Tunesien bisher ausgeblieben. Allerdings ist in diesem letzteren Fall das Abkommen noch nicht voll implementiert. Zusammenarbeit der EU in Migrationsfragen gibt es auch mit Libyen und Marokko. Mit Ägypten soll ein Abkommen nach dem Vorbild Tunesiens angestrebt werden. Schwierig ist eine Kooperation mit diesen Ländern, weil sie fast alle von unberechenbaren Autokraten regiert werden.
Konsequenzen eines Scheiterns
Es ist wichtig, dass die EU an ihren Aussengrenzen ein funktionierendes Migrationsregime etablieren kann. Gelingt das nicht, kommen bald auch die Binnengrenzen unter Druck. Bereits sind in einzelnen Mitgliedstaaten Stimmen zu hören, die wieder Grenzkontrollen einführen wollen, um unerwünschte Flüchtlinge abzuwehren. Käme es soweit, würde der Schengenraum zu einer Fiktion. Wenn das Migrationsregime nicht funktioniert, könnte das auch rechtsnationalen, fremdenfeindlichen Parteien zu einem weiteren Aufschwung verhelfen.
Die Schweiz ist im Übrigen an der EU-Asylpolitik beteiligt. Dies aufgrund des Dublin-Assoziierungsabkommens, das sie 2008 im Rahmen der bilateralen Verträge II mit der EU abgeschlossen hat. Dabei kann die Schweiz im EU-Ministerrat bei der Gestaltung der Asylpolitik mitreden, aber nicht mitentscheiden. Trotzdem muss sie das EU-Recht in diesem Bereich übernehmen und anwenden. Den jüngsten Migrationskompromiss der EU trägt die Schweiz mit.