Gewiss, Zwingli war ein Moralist und sein Zürich eine sittenstrenge Stadt. Doch alles, was an Zürich bis heute als bieder, freudlos und langweilig empfunden wird, Zwingli und seiner Reformation in die Schuhe zu schieben, greift zu kurz. Zwingli war ein humanistisch gebildeter, weltläufiger und hoch musikalischer Mensch, der hohe Ansprüche an sich und andere stellte. Er war aber auch ein Pragmatiker, der sich der eigenen Unzulänglichkeit bewusst war.
Als Leutpriester in Einsiedeln hatte er eine junge Frau geschwängert, in Zürich lange Zeit in einer heimlichen Beziehung zu einer Witwe, seiner späteren Frau, gelebt. Und als der Buchdrucker Froschauer am ersten Fastensonntag des Jahres 1522 sein berühmtes Wurstessen veranstaltete, ass er zwar nicht mit, nahm aber teil und wetterte von der Kanzel herab gegen kirchliche Speisevorschriften, die mit der Botschaft des Evangeliums nichts zu tun hatten. Dieses Wurstessen gilt, ähnlich wie Luthers Thesenanschlag in Wittenberg, als symbolischer Auftakt der Reformation in Zürich: ein durchaus sinnenfroher Akt, der allein schon dem Klischee vom lustfeindlichen und verklemmten Zwingli-Geist widerspricht.
Wenn Zwingli später die Heiligenbilder aus den Kirchen entfernen liess, den Choralgesang aus dem Gottesdienst tilgte und gegen öffentliche Lustbarkeiten zu Felde zog, dann tat er dies nicht aus mangelndem Kunstverstand oder Prüderie, sondern weil er aus den Kirchen verbannt haben wollte, was vom klaren Wort des Evangeliums ablenkte. Wie für Luther stand auch für Zwingli die Schrift und nur sie im Zentrum der religiösen Praxis. Und wie Luther waren auch ihm die in der katholischen Kirche seiner Zeit herrschende Prunksucht, Geldgier und Doppelmoral zuwider.
Gerade weil er aus Erfahrung wusste, wie leicht kirchliche Gebote sich unterlaufen liessen, plädierte er für eine Lebensführung, die das hohe Ethos der christlichen Botschaft beim Wort nahm. Dass diese Haltung mit einer gewissen Strenge und Kompromisslosigkeit einherging, war wohl unvermeidlich. Gleichwohl wäre es falsch, in Zwingli einen religiösen Taliban zu sehen, der seine Stadt für alle Zeiten zu einer Hochburg verklemmten Biedersinns machte.
Wenn Zürich auch heute noch Spuren von Zwingli-Geist aufweist, so sind dies nach Meinung des Zürcher Alttestamentlers Konrad Schmid eine gewisse Schlichtheit im öffentlichen Auftreten sowie ein gesundes Misstrauen gegenüber selbsternannten Autoritäten. Und dies sind Eigenschaften, auf die man in Zürich durchaus stolz sein könnte.