Wenn es um die Reformation geht, sind die Zürcher Reformierten schon fast ein wenig katholisch. Sie begingen Anfang Januar 2017 die Eröffnung ihres Reformationsjubiläums nach dem Motto: Man muss die Feste feiern, wie sie (in Wittenberg) fallen, was immer im (Zürcher) Geschichtsbuch steht.
Im Schatten Luthers und Calvins
Die frierenden Referenten und Besucherinnen bei der Veranstaltung vom 6./7. Januar in der eisigen Zürcher Bahnhofshalle erinnerten eher an die Askese der katholischen Möncherei (wie Zwingli gesagt hätte), von der die Reformation doch Abschied genommen hatte.
Konsequenterweise hat Bundesrat Schneider-Ammann in seiner Festrede vor dem Zürcher Grossmünster viel von Martin Luther und nichts von Zwingli erzählt. Einmal mehr fand der Zürcher Reformator nur im Schlepptau von Luther und Calvin Erwähnung. Steht der Reformator an der Limmat zu Recht im Schatten seines grossen Bruders an der Elbe? (1)
Pfarrer im Kloster- und Wallfahrtsdorf Einsiedeln
Vor 500 Jahren wirkt Zwingli als Pfarrer im Kloster- und Wallfahrtsdorf Einsiedeln. Da muss er als Seelsorger Messe lesen, Beichte hören, Predigten halten, Ablässe verwalten und Prozessionen zum Gnadenbild der Schwarzen Madonna organisieren. Ausserdem begleitet er als Feldprediger die jungen Söldner in die oberitalienischen Kriege und macht sich bei allen Zweifeln bezüglich des Söldnerwesens dafür stark, dass die Eidgenossen für den Papst und nicht für den französischen König in den Krieg ziehen.
Dass der Walliser Kardinal Schiner Zwingli schon zuvor in Glarus besucht hat, zeigt, welche Bedeutung man seiner Position zumisst. Zur Zeit, da Luther im fernen Wittenberg seine 95 Thesen verkündet, belohnt darum der Vatikan Zwingli für seine Treue zum Papst mit einer stattlichen Pension von 50 Gulden, die fast ein zweites Salär ausmachen – bis 1520. Er lebt und wirkt also noch ganz und gar in der alten katholischen Welt, auch wenn es in seinem Kopf bereits rumort. Erst zwei Jahre später – auf den 1. Januar 1519 – wird er ans Grossmünster in Zürich gewählt.
Toggenburger Bauernsohn mit politischem Bewusstsein
Wie aber kommt ein Toggenburger Bauernsohn dazu, innert weniger Jahre die nebst Basel wichtigste Stadt der Eidgenossenschaft kirchlich und gesellschaftlich auf den Kopf zu stellen? Ein politisches Bewusstsein bekommt er von seinem Vater und Grossvater mit auf den Lebensweg. Beide sind tüchtige Bauern und Ammänner der Talschaft im oberen Toggenburg, die wenige Generationen zuvor gerodet und mit einer Strasse ins Rheintal erschlossen worden ist. Die fünf älteren Brüder werden Bauern, zwei jüngere gehen wie Ulrich an die Universität, sterben aber früh an der Pest. Zwei der drei Schwestern werden Nonnen; ihr Bruder rät ihnen später, evangelisch zu heiraten.
Vielseitiges humanistisches Studium in Wien und Basel
Zwingli erbt von seinem Vater einen wachen Geist. Dieser erkennt früh, was in seinem Sohn steckt, und bringt ihn mit sechs Jahren auf die andere Seite der Kurfirsten zu seinem Onkel Bartholomäus. Dieser ist in Weesen Pfarrer und Dekan und hat die nötige Zeit, um den jungen Ueli tüchtig zu schulen. Man darf annehmen, dass ihn der Onkel liebevoll betreut hat und nicht mit Prügeln und Paukerei wie Luthers Lehrer in Mansfeld. Als er fünf Jahre danach die Lateinschule in Basel und später in Bern besucht, wollen die Dominikaner den guten Sänger und in Kompositionslehre bereits geschulten Jüngling für ihr Kloster gewinnen.
Da wehrt sich der Vater und schickt ihn 1498 mit knapp 15 Jahren zum Studium an die Universität Wien. An jener Hochburg des europäischen Humanismus befreundet er sich mit dem angesehenen Humanisten und Mediziner Joachim von Watt, der später in St. Gallen Stadtarzt, Bürgermeister und Reformator wird. Von dort schreibt der junge Scholar dem Vater einmal von seinem Lebenswandel und erzählt von seinen Instrumenten und heiteren Gesellschaften. Der Vater habe nur geantwortet, ihm wäre ein Philosoph lieber als ein «Komödient».
Umfassende Bildung
Bei der Fortsetzung der Studien an der Universität Basel (der einzigen Universität in der damaligen Eidgenossenschaft) von 1502 bis 1506 begegnet er vielen kritischen Geistern, die Basel als Drucker-Stadt schätzen. Sein wichtigster Lehrer, Thomas Wyttenbach, kritisiert den Ablass und fordert das Studium des Griechischen, damit Theologen das Neue Testament im Urtext verstehen können. Ebenso prägt der Humanist Erasmus von Rotterdam den frühreifen intellektuellen Kopf. Zwingli kennt sich in der Dichtung des klassischen Altertums und in der Philosophie des Aristoteles ebenso gut aus wie in der Theologie des Thomas von Aquin und des Wilhelm von Ockham. Was in seiner Lebenszeit an wichtigen Werken erscheint, findet sich nach dem Tod des Reformators in seiner Bibliothek.
Dass Zwingli schon damals liest und bewundert, was der zeitgenössische Philosoph Pico della Mirandola «Über die Würde des Menschen» schreibt, beweist seinen enormen geistigen Spürsinn: «Daher liess sich Gott den Menschen gefallen … und sprach zu ihm: … Du bist durch keinerlei unüberwindliche Schranken gehemmt, sondern sollst nach deinem eigenen festen Willen, in dessen Hand ich dein Geschick gelegt habe, sogar die Natur dir selbst vorbestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt gesetzt, damit du von dort bequem um dich schaust, was es alles in dieser Welt gibt …, damit du als eigener, völlig frei und ehrenhalber schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form bestimmst, in der du zu leben wünschest.»
Zwingli ist gewiss ein Eklektiker, der da und dort Ideen auffischt und in sein Weltbild integriert. Doch seine grosse Sympathie für den visionären Geschichtsoptimismus des Humanisten Pico della Mirandola offenbart einen diametralen Gegensatz zum augustinisch-lutherisch-calvinistischen Sündenpessimismus. Im Vergleich zum Hass, den Luther gegen alle Philosophie, insbesondere gegen Aristoteles hat, ist Zwingli ein aufgeklärter Mensch.
Mit 22 Jahren zum Pfarrer von Glarus gewählt
In relativ späten Jahren seines vielseitig angelegten Studiums entscheidet sich Zwingli für den Priesterberuf. Nach der Zulassungsprüfung in Konstanz wird er schon mit 22 Jahren zum Pfarrer von Glarus gewählt. Er empfängt vom Bischof in Konstanz die Weihe und tritt die Pfarrstelle an. Allerdings muss er – obwohl von Gemeinde und Bischof gewählt – die Pfarrpfründe einem römischen Günstling für teures Geld abkaufen; ein Anschauungsunterricht, wie kirchliche Ämter zentralistisch kommerzialisiert werden. In Glarus gelingt es ihm, die 1300-Seelen-Gemeinde zu überzeugen, an der Landsgemeinde 1510 eine Lateinschule zu beschliessen. So wird Zwingli als Lateinlehrer zu einer starken Bezugsperson von Aegidius Tschudi, dem später berühmten Chronisten der Eidgenossenschaft und Gegner von Zwinglis Reformation.
Begeisterung für das Neue Testament von Erasmus
Doch auch in all den Verpflichtungen eines engagierten Pfarrers mit mehreren Kaplänen treibt Zwingli seine Studien fort, korrespondiert mit den gelehrten Häuptern seiner Zeit und lässt sich die besten Neuerscheinungen der eben erst aus der Taufe gehobenen Verlage nach Hause liefern. 1516 ist er wie elektrisiert vom Neuen Testament, das Erasmus neu herausgegeben hat. Brecht würde die kritische Ausgabe des griechischen Urtextes und die neue lateinische Übersetzung wohl eine «Verfremdung» der bekannten und abgegriffenen Vulgata nennen.
Sie erlaubt Zwingli, einen völlig neuen Blick auf die Botschaft Jesu zu gewinnen. Jedenfalls fühlt er sich im Jahr 1516 wie neu geboren und beginnt, «das Evangelium zu predigen». Er legt grossen Wert darauf, dass er schon vor Luthers Thesenanschlag dazu gekommen ist, auch wenn Euan Cameron wohl zu Recht einwendet: «Wenn Zwingli die reformatorische Kernbotschaft der Erlösung durch bedingungslose Vergebung, die allein der Glaube erfahrbar macht, tatsächlich zur selben Zeit wie Luther, aber vollkommen unabhängig von ihm entwickelt hat, dann ist das der atemberaubendste Zufall, der sich im 16. Jahrhundert ereignet hat.» (The European Reformation, Oxford 1991)
Bittere Erfahrungen als Feldprediger
Doch Zwingli ist nicht nur ein führender Kopf, der bereits weit über das Glarnerland hinaus wahrgenommen wird. Er macht auch praktische Erfahrungen, die ihn veranlassen, sich in die Politik einzumischen. Zweimal begleitet er als Feldprediger die einheimischen Söldner nach Oberitalien, wo der deutsche Kaiser, der französische König und der Papst mit militärischen Mitteln um Einfluss und Macht ringen. Mal stehen Schweizer auf der einen, dann auf der anderen und manchmal gar auf beiden Seiten einander feindlich gegenüber. Hunderte, ja Tausende sterben auf den Schlachtfeldern. Zuhause hat Zwingli hernach sehr viel zu tun mit Witwen und Waisen, mit Eltern und Geschwistern.
Rueb zeigt den zeitgenössischen Hintergrund auf: «Die Schweiz wurde nach den Erfolgen der Burgunderkriege zum eigentlichen Menschenmarkt, auf dem sich die Grosshändler Europas überboten. Die Schattenseiten dieses Sklavenhandels bestanden nicht nur in der Verkommenheit zurückgekehrter Söldner, die, ehrlicher Arbeit entwöhnt, müssiggingen und der Mildtätigkeit zur Last fielen, wenn sie sich nicht durch Totschlag, Raub und Plünderung zu helfen suchten.»
Nach der vernichtenden Niederlage in der Schlacht von Marignano 1515 stellt Zwingli das Söldnerwesen grundsätzlich in Frage. Er stellt auf der Grundlage der Bibel ethische Reflexionen über das hautnah erfahrene Unrecht an und wird als Theologe zum Gesellschaftskritiker. Seine Auffassung vom Amt des Geistlichen verbietet es ihm, in der politischen Arena zu schweigen und sich zu ducken:
Die Eidgenossenschaft gehört den Eidgenossen. Jene Soldherren, die das Land in Kriege anderer Länder hineinziehen, die junge Männer gegen fette Pensionen an fremde Mächte verkaufen, schaden dem Vaterland. Darum Hände weg vom Blutgeld der Pensionen! Mischt euch nicht in fremde Händel! Damit steht Zwingli erstaunlich nahe bei Niklaus von Flüe, der 1481 beim Stanser Verkommnis vermittelt hat. Die Eidgenössische Tagsatzung verbietet zwar die Reisläuferei, also den Handel mit Söldnern, und die damit verbundene Korruption schon 1503, sie bleibt aber ohne Erfolg. Zwinglis Haltung in dieser Sache begünstigt seine Wahl nach Zürich. So kann er wenigstens dort das Blatt wenden. Zürich kündigt als einziger Stand anfangs der 1520er Jahre das Söldnerwesen auf.
Als wirtschaftlichen Ausgleich fördert Zwingli den Sinn und Wert der Arbeit, was der aufstrebenden gesellschaftlichen Schicht entgegenkommt. Er rät den Zürcher Handwerksmeistern, ihre Söhne besser einen weltlichen Beruf lernen zu lassen, als Geistliche aus ihnen zu machen, denn am christlichen Handwerk liege mehr für eine christliche Zukunft. Konsequenterweise schafft er viele Feiertage ab. Arbeit gibt es für ihn mehr als genug: Die Bevölkerung auf dem Gebiet des Zürcher Stadtstaates – etwa des heutigen Kantons – hat sich zwischen 1480 und 1520 fast verdoppelt.
Neujahr 1519: Wer ist Zwingli auf der Kanzel vom Grossmünster?
An seinem 35. Geburtstag predigt er über den ersten Abschnitt des Matthäus-Evangeliums und nimmt sich programmatisch vor, an den kommenden Sonntagen über die weiteren Kapitel dieses Evangeliums zu predigen – unbekümmert darum, was eine lange Tradition an Perikopen für kirchliche Feiertage und Heiligenfeste festgelegt hat.
Er hat ein gesundes Selbstbewusstsein und die Energie und Zähigkeit eines Bergbauern. Völlig fremd ist ihm jene Angst vor Teufel und Hexerei, vor dem strafenden Gott und der ewigen Verdammnis, die Luther umtreibt und mitunter zweimal täglich beichten lässt. Familie und Verwandtschaft, Erfahrungen auf dem Bauernhof und in der Natur haben Zwingli ein Grundvertrauen vermittelt, er ist «aufgewachsen in der Luft der Freiheit», wie er bekennt.
Offen und wach verschlingt er neugierig das Wissen seiner Zeit; ein hochgebildeter, profilierter und europäisch vernetzter Theologe; er ist ein sensibler Seelsorger, der sich der Sorgen seiner Gläubigen annimmt und auf der Kanzel die biblische Botschaft in freier Rede auslegt, nie nur abstrakt, sondern immer bezogen auf die konkreten Probleme seiner Pfarrgenossen.
Wie sein Pestlied aus dem Jahr 1519 zeigt, ist er ein frommer Mann, ganz auf das Heil der Seelen bedacht. Seine Reflexionen und Proteste gegen die Reisläuferei und deren Profiteure gehören wohl zu den stärksten Motiven, die Zwingli auf den Weg der Reformation bringen.
(1) Zwinglis Biographie und den historischen Kontext hat Franz Rueb in seinem Buch «Zwingli. Widerständiger Geist mit politischem Instinkt», Baden 2016, neu aufgearbeitet; die folgenden Ausführungen stützen sich vor allem auf ihn und auf Diarmaid MacCulloch: «Die Reformation», München 2008