Frankreich war vor dem Halbfinale gegen den Nachbar Belgien gewarnt, und entsprechend verhalten waren auch die Prognosen: 50: 50, mehr nicht. Schliesslich hatten die roten Teufel um die Weltklassespieler De Bruyne und Hazard schon in der Qualifikation über 40 Tore und damit die meisten überhaupt geschossen und auch beim Turnier in Russland lagen sie mit 14 Treffern klar an erster Stelle.
Belgien machte Druck
Dementsprechend begann auch das Spiel. Eine halbe Stunde lang nagelte die belgische Angriffmaschine die Franzosen in ihrer eigenen Hälfte fest. Nach 20 Minuten hatte Eden Hazard auf der linken Sturmseite schon drei Mal für Gefahr gesorgt, und Frankreichs Rechtsverteidiger, die 22-jährige Neuentdeckung Benjamin Pavard, in grosse Verlegenheit gebracht. In der 21. Minute brauchte es eine weitere Weltklasseparade von Frankreichs Torwart und Kapitän Lloris, um einen Rückstand zu verhindern. Sämtliche zwingenden Chancen waren eine halbe Stunde lang bei den Belgiern, auf französischer Seite verzeichnete man zwei lange Pässe auf den pfeilschnellen Mbappé, einen weiteren auf Giroud, den Turm im Angriff – das war es.
Doch Frankreich liess sich durch das Anrennen der Belgier nicht aus der Ruhe bringen, spielte unaufgeregt und souverän, und spätesten nach einer halben Stunde war klar, was folgen würde: eine Abwehrschlacht, die die Franzosen nicht erleiden sollten, sondern sehr bewusst in Kauf nahmen, ja provozierten, und ein Spiel, das nach und nach so intensiv und trotz Überlegenheit der Belgier auf den ersten Blick immer ausgeglichener wurde. Die Franzosen standen in der eigenen Hälfte extrem gut, hielten die Räume geschlossen und gaben den Belgiern schlicht keine Gelegenheit, ihr berühmt-berüchtigtes Konterspiel aufzuziehen.
Frankreichs Trainer hatte da eine Lösung aus dem Hut gezaubert, die seine Spieler nach und nach umsetzten und die die Belgier so nicht erwartet hatten. Nur Eden Hazard konnte in der ersten halben Stunde durch grossartige Einzelaktionen auf der linken Seite glänzen, Supertalent De Bruyne, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Prinz Harry aufzuweisen hat, brachte auf der andere Seite in der ersten Hälfte so gut wie gar nichts zustande. Bei genauerem Hinsehen konnte man auch feststellen, dass Frankreich fast zwei Drittel aller Zweikämpfe gewann, was doch einiges aussagt, und trotz seiner Defensivhaltung mit Kontern stets gefährlich bleiben konnte. 6 Minuten vor der Pause musste Belgiens Torhüter Courtois dann prompt seine Weltklasse beweisen, als er einen Flachschuss von Rechtsverteidiger Pavard reflexhaft mit dem Fuss abwehrte.
Siegtreffer
Nur 6 Minuten nach Wiederanpfiff fiel der Siegtreffer für Frankreich. Wieder eine Standardsituation. Griezmann schlug eine Ecke von rechts mit dem linken Fuss und Innenverteidiger Umtiti beförderte, obwohl 10 Zentimeter kleiner als sein Bewacher, den Ball mit einem wuchtigen Kopfstoss hinter die Linie. Es folgten zehn Minuten, in denen Frankreich sogar in der Offensive zauberte, bevor die kurzzeitig verunsicherten Belgier wieder zu ihrem gewohnten Spiel zurückfanden. Die restlichen 30 Minuten waren dann in der Tat nur noch mehr oder weniger ein Spiel auf das Tor der Franzosen, zu dem die Roten Teufel aber auch mit frischen Offensivkräften nicht den Schlüssel fanden.
Jung und reif
Kaum jemand hätte dieser jungen Mannschaft, bei der beide Aussenverteidiger erst in den allerlerzten Monaten integriert worden waren, eine derartige Abgeklärtheit und Reife zugetraut.
Nach den holprigen Vorrundenspielen, dem mühsamen 2:1 gegen Australien, dem äusserst knappen, alles andere als souveränen 1:0 gegen Peru und dem langweiligen 0:0 gegen Dänemark mit einer B-Mannschaft, deutete nichts darauf hin, dass die Truppe von Teamchef Deschamps im Halbfinale eine derart abgeklärte und disziplinierte Leistung gegen eine der stärksten Mannschaften des Turniers hinlegen würde und in der Defensive auftrat, als wären da alterprobte Fahrensleute zugange, die schon mehrere Weltmeisterschaften hinter sich hätten. Die 22- und 23-jährigen Aussenverteidiger hielten stand, der 24-jährige Libero, Raphael Varane, dominierte mit seiner ganzen Eleganz den Luftraum, war am Boden trotz seiner 1,91 stets einen Schritt schneller, ja machte schlicht und einfach das Spiel seines Lebens. Und auf seinen Nebenmann, den 23-jährigen Umtiti vom FC Barcelona, war ebenfalls hundertprozentig Verlass; nebenbei erzielte er auch noch das Siegtor.
Ganz zu schweigen vom defensiven Mittelfeld mit einem überragenden Paul Pogba, der ab der 30. Minute Rechtsverteidiger Pavard beistand, um dem brandgefährlichen Eden Hazard im Sturm den Schneid abzukaufen. Und schliesslich der unverwüstliche Dauerläufer N’Golo Kante, der auf der anderen Spielfeldseite Kevin de Bruyne das Leben mehr als schwer machte.
Antifussball?
Die Kritik des belgischen Kapitäns Hazard und des Torwarts Courtois, die Franzosen hätten Anti-Fussball gespielt, ist angesichts des Spielverlaufs absolut unhaltbar und zeugte leider davon, dass sie extrem frustriert als schlechte Verlierer abtraten. Die französische Mannschaft hatte sich nicht nur einfach hinten reingestellt und den 16-Meter-Raum verbarrikadiert, die schnellen Sturmspitzen und auch die offensiven Aussenverteidiger hatten durchaus Gelegenheiten, die Statistiken beweisen es. Das französische Team präsentierte sich in diesem Halbfinale in quasi perfekter Geschlossenheit, auch die Stürmer Giroud und Griezmann verteidigten diesmal geradezu leidenschaftlich und hatten trotzdem auch ihre Chancen – Griezmann rannte bis zum Umfallen das Feld rauf und runter und war am Ende derartig erschöpft, dass er nach dem Schlusspfiff in Tränen ausbrach. Gleichzeitig schoss, wie schon in den Spielen gegen Argentinien und Uruguay, wieder ein Verteidiger ein entscheidendes Tor. „Wir waren wie elf Hunde, die den Sieg mit den Zähnen geholt haben“, hiess es hinterher. Dieses Halbfinale gegen Belgien war zugegebenermassen natürlich nicht das „jogo bonito“, nicht das spielerisch verrückte Match gegen Argentinien, das als wahre Augenweide in Erinnerung bleibt. Aber die Elf von Trainer Deschamps hat gegen die Roten Teufel auch nicht nur gemauert, sondern schlicht und einfach fast perfekt eine Taktik umgesetzt, die aus dem Lehrbuch zu kommen schien und der Schlüssel dazu war, das von allen befürchtete Offensivspiel der Belgier zu unterbinden. Dass diese hinterher geradezu grenzenlos frustriert waren, ist verständlich.
Kalkül des Staatspräsidenten
Die Equipe Tricolore zog ins Finale unter den Augen von Staatspräsident Macron ein, der mit seiner Anwesenheit ein Versprechen einlöste und es sich natürlich nicht entgehen lassen konnte, sich im Glanz der talentierten Nationalmannschaft zu sonnen. Wie gewohnt hatte sein Stab vor der Reise nach Moskau aufwendige Kommunikation betrieben, vor allem darüber, dass der Präsident einen 12-jährigen Jungen aus einer Pariser Vorstadt mitnahm, der ihm jüngst bei einem Besuch vor Ort aufgefallen war. Vielleicht auch um zu vertuschen, dass der Präsident am Tag der Reise nach Sankt Petersburg in Frankreich eigentlich einen Plan zur Bekämpfung der Armut im Land hätte vorstellen sollen. Die Präsentation wurde kurzerhand auf September verschoben. Wenn der Präsident beim Public Viewing in Frankreichs Städten auf den Grossleinwänden erschien, wurde er jedenfalls regelmässig ausgepfiffen. Kommunikationsstrategen können letztlich doch nicht alles vorausplanen. Trotzdem wird Macron sich zum Endspiel natürlich noch einmal gen Russland aufmachen, vielleicht sitzt er ja dann in der Nähe eines gewissen Vladimir Putin.
Und vielleicht erlebt er ja mit, wie sich Frankreichs Nationaltrainer, Didier Deschamps, Kapitän und unermüdlicher Rackerer der Weltmeistermannschaft von 1998, am Sonntag in die kurze Liste derer einreiht, die sowohl als Spieler als auch als Trainer Weltmeister geworden sind. Vor ihm haben das nur der Brasilianer Mario Zagallo und der Deutsche Franz Beckenbauer geschafft.
Kroatien
Dazu muss Deschamps Elf in Moskau nun die scheinbar unverwüstlichen Kroaten besiegen. Eine Mannschaft, die vor dem Halbfinale bereits 60 Minuten Verlängerung und zwei Nerven aufreibende Elfmeterschiessen hinter sich hatte. Und dementsprechend begann die Elf um Mittelfeldregisseur Modric dann auch: Ihr Motor kam nicht in Gang, vom ansonsten oft berauschenden Passspiel dieser Elf war in den ersten zwei Dritteln kaum etwas zu sehen. Es waren vielmehr die Engländer, die in der ersten Halbzeit das Spiel beherrschten. Sie standen mit einer schier unüberwindbaren 5er-Kette vor dem eigenen Tor, waren insgesamt deutlich schneller als die ausgelaugt wirkenden Kroaten und hatten vor allem die Partie mit einem Paukenschlag begonnen. Ausgerechnet Kroatiens Kapitän Modric verursachte in der 5. Minute knapp vor dem eigenen Strafraum einen Freistoss. Abwehrspieler Trippier zirkelte den Ball rechts oben unter die Latte, Kroatiens Torwart war nicht ganz auf dem Posten. Während seine zehn Mitspieler im Moskauer Stadion danach in eine Art Schockstarre verfielen, warfen in England beim Public Viewing Tausende ihre vollen Bierbecher für eine Dusche der ganz besonderen Art in die Luft und sahen ihr junges Team in der Folgezeit deutlich im Vorteil. Es hätte zur Pause gut 3:0 führen können.
Erst zu Beginn der 2. Halbzeit wurde die Partie etwas ausgeglichener, insgesamt aber konnte man sich lange nicht vorstellen, wie die zwar bemühten, aber diesmal behäbig wirkenden Kroaten, die sich reihenweise Schnitzer und Fehlpässe leisteten, den Abwehrriegel der Three Lions knacken könnten.
Die Wende
Bis dann in der 68. Minute Ivan Perisic von Inter Mailand, früher Borussia Dortmund, nach einer weiten Flanke von rechts mit einer artistisch-athletischen Einlage und mit der Fusssohle in gut einem Meter Höhe, nur Zentimeter vor dem Kopf seines Bewachers, den Ball ins Tor der Engländer beförderte. Ein Tor hart an der Grenze zum gefährlichen Spiel.
Von da an aber – als hätte irgend jemand auf den Knopf gedrückt – spielten die Kroaten plötzlich wieder, wie man es von ihnen aus vorhergehenden Begegnungen gewohnt war. Auch Real Madrids Mittelfeldstar Modric dirigierte wieder wie üblich, während die Three Lions nun sichtlich aus dem Takt gekommen waren, das Unentschieden aber über die letzten 20 Minuten hinweg in die Verlängerung retten konnten. Der Wandel, der sich im Team der Kroaten vollzogen hatte, war kaum,zu glauben. Da wurden gegen Ende der regulären Spielzeit Kräfte mobilisert, die schon längst verschlissen schienen, und ein unerschütterlicher Wille machte sich noch einmal breit, als blase da jemand zum letzten Gefecht.
Und so war es dann auch der bereits angeschlagene alte Haudegen und Mittelstürmer, Mario Mandzukic von Juventus Turin, einst auch Bayern München, der mit phantastischem Torinstinkt in der 109. Minute gegen langsam gewordene Engländer den Siegtreffer erzielte.
Der 32-Jährige, der als Flüchtlingskind im Bosnienkrieg in der schwäbischen Kleinstadt Ditzingen bei Stuttgart mit dem Fussballspielen begonnen hatte und gestern das ganze Spiel über zwischen zwei englischen Abwehrrecken keinen einzigen Stich gemacht hatte, er war, wie schon in den zwei vorhergehenden Verlängerungen, am Ende von Krämpfen geplagt, nach einem Zusammenprall mit dem gegnerischen Torwart Minuten lang behandelt worden und nur humpelnd wieder aufs Feld zurückgekommen. Ausgerechnet er, der am Ende aussah, als sei er über 50 und kaum mehr stehen konnte, war 11 Minuten vor Spielschluss an der richtigen Stelle.
Für das Sport- und Fussball-verrückte Kroatien, mit seinen gerade vier Millionen Einwohnern, ist der Traum vom WM-Finale wahr geworden. England muss nach 52 Jahren weiter darauf warten, dass der Fussball in sein Heimatland zurückkommt, wie es in den letzten Tagen auf der Insel allerorts geheissen hatte. Es hat aber nach langer Zeit wieder eine Nationalmannschaft, die mit ihrer Spielweise angenehm überrascht hat und die angesichts der vielen jungen Spieler erst noch im Werden ist. Eine Schwäche wurde jedoch überdeutlich: Aus dem Spiel heraus gelingt ihnen kaum ein Tor. Von den Zwölfen, die sie in Russland erzielt haben, resultierten drei Viertel aus Standardsituationen.
Zweiter Stern für Frankreich?
Frankreich, das in Russland bislang taktisch und spielerisch sechs sehr unterschiedliche Spiele abgeliefert und davon keines verloren hat und letztlich als unerwartet abgezocktes Team aufgetreten ist, sollte sich auch auf den Endspielgegner entsprechend einstellen können. Teamchef Deschamps, der schlaue Fuchs mit grossem Understatement, hat mit seinen taktischen Vorgaben im Halbfinale die so geniale belgische Angriffsmaschine gestoppt. Der bescheiden wirkende, aber extrem ehrgeizige gebürtige Baske, der die 0:1-Niederlage gegen Portugal vor zwei Jahren beim Finale der Europameisterschaft im eigenen Land immer noch nicht verdaut hat, dürfte sicherlich auch noch einen Plan auf Lager haben, um die überraschende kroatische Elf zu knacken. Zumindest um deren genialen Dirigenten im Mittelfeld, Luka Modric, vielleicht den besten Spieler dieses Turniers, weitgehend auszuschalten, verfügt die Equipe Tricolore über ein Wunderwaffe mit Namen N’Golo Kante. Dieser nur 1,68 grosse wunderbare und zähe Dauerläufer mit drei Lungen und einem unglaublichen Instinkt für den Lauf des Balls beim Gegner, hat das im Spiel gegen Argentinien an Lionel Messi bereits vorexerziert. Sollte ausserdem die Abwehr der Blauen am Sonntag ähnlich gut stehen wie gegen den Wundersturm aus Belgien, müsste sie auch die rot-weiss karierten Angreifer vom Balkan in Zaum halten können. Dazu kommt: die Kroaten mussten bislang drei Mal in die Verlängerung, haben also ein gesamtes Spiel mehr auf dem Buckel und ausserdem noch einen Tag weniger zur Regeneration bis Sonntag 17 Uhr. Und doch: Kroatiens Elf hat bislang in Russland den Eindruck hinterlassen, dass sie einfach nicht kaputt zu bekommen ist und Kräfte und Fähigkeiten entwickeln kann, die ganz tief aus ihrem Inneren bzw. aus überirdischen Bereichen zu kommen scheinen.