Polens Wirtschaft und Gesellschaft - 25 Jahre nach der WeEs wurde viel gebaut und renoviert, die Strassen sind besser geworden und in den Städten ist es so sauber wie in Zürich.
Das Regierungslager wird denn auch nicht müde, die erreichten zivilisatorischen Fortschritte zu betonen. Der polnische Präsident Bronislaw Komorowski hat den Vorrang der Modernisierung in einen griffigen Slogan gefasst: „nie ma wolnosci bez nowoczesnosci“ (es gibt keine Freiheit ohne Modernität). Diese Abwandlung des alten Slogans der Solidarnosc-Bewegung „es gibt keine Freiheit ohne Solidarität“ bringt die Widersprüchlichkeit der Entwicklung auf den Punkt. Einerseits wurden wirtschaftliche Fortschritte und eine Verbesserung des Lebensstandards erreicht. Anderseits hat die Solidarität abgenommen und die sozialen Unterschiede sind gewachsen.
Wirtschaftliche Erfolge mit Schwachstellen
Polens Wirtschaft habe sich gut entwickelt, meint Wieczyslaw Samitowski, Chef einer der bedeutendsten polnischen Consultingfirmen Die meisten Firmen stünden gut da. Vor allem im Export hätte Polen enorm aufgeholt. Die Zahlen sind eindrücklich. Das Wachstum des Bruttoinlandproduktes hat sich nach einem nur kurzen Einbruch zu Beginn der 90er Jahre schnell erholt. Bereits 2003 wurde das Niveau des BIP von 1990 um gut die Hälfte übertroffen. Dabei war vor allem die auf den einheimischen Markt ausgerichtete Wirtschaft erfolgreich, wobei die sprichwörtliche Anpassungsfähigkeit der Polen und Polinnen eine wichtige Rolle spielte. Die Privatisierung ging einigermassen geordnet über die Bühne, und der Staatssektor blieb bedeutsam. Die Korruption stieg zwar stark an, hielt sich aber im Vergleich zu den Nachbarstaaten in Grenzen und nahm später sogar wieder ab.
Nach dem EU Beitritt 2004 hat sich die Entwicklung beschleunigt. In den letzten 10 Jahren hat das BIP nochmals um fast die Hälfte zugenommen. Einen positiven Einfluss übten die EU-Transfergelder aus. Polen holte 52 Milliarden Euro an Nettozahlungen herein, wobei neben der Landwirtschaft vor allem der Infrastrukturbereich profitierte. Angetrieben von steigenden ausländischen Direktinvestitionen – insgesamt rund 250 Milliarden Dollars – kam es zu einem Exportboom. 2013 wurden fast viermal soviel Waren exportiert wie 2003. Die Aussenhandelsbilanz war zum ersten Mal praktisch ausgeglichen.
Die Kehrseite der Medaille: die Abhängigkeit vom Ausland ist stark gewachsen. Wieczyslaw Samitowski meint, dass die zukünftige Entwicklung weitgehend von den internationalen Trends beeinflusst werde. Polen ist wie viele andere osteuropäische Länder auch direkt abhängig von den ausländischen Konzernen, welche die gut qualifizierten und weiterhin relativ billigen Arbeitskräfte in Fabriken mit relativ tiefem Wertschöpfungsgrad beschäftigen. Die Innovationskraft der Wirtschaft ist trotz einigen Fortschritten weiterhin tief.
Die meisten kleinen und mittleren Unternehmen, die heute die Mehrheit der Arbeitsplätze ausmachen, sind Anpassungs- und Überlebenskünstler. Du musst heute auf Draht sein, wieder was Neues probieren, meint Tadeusz, der zusammen mit seinem Schwager eine Gmbh für Produkte der Abfallentsorgung in einer südostpolnischen Provinzstadt betreibt. Die Werkstätten sind bescheiden eingerichtet, alles wirkt etwas improvisiert. Auf der Wiese steht ein Windrad, das neben der Reklamefunktion auch das Wasser aufheizt. Vor gut 10 Jahren hat die Firma mit der Produktion von Abfallentsorgungsbehältern begonnen und sich relativ stetig entwickelt. Und das alles ohne EU- Gelder, das wäre für sie zu kompliziert und einschränkend gewesen, meint Tadeusz. Auf einer Karte im alles andere als luxuriösen Büro sieht man, wie im Laufe der Jahre sehr viele Städte und Gemeinden beliefert worden sind. Der Markt sei etwas gesättigt, man produziere nun zusätzlich andere Produkte, die auch nach Holland exportiert werden sollen.
Arbeitslosigkeit und fehlende Perspektiven
Die forcierte Modernisierung der polnischen Wirtschaft hatte einen hohen sozialen Preis. Viele Betriebe wurden dicht gemacht, Leute entlassen. Die Arbeitslosenrate stieg rasant an und erreichte ihren Höhepunkt 2003 mit 20%. Zwar sank sie in den ersten Boomjahren nach dem EU Beitritt auf knapp unter 10%. Unter dem Rationalisierungsdruck der globalen Krise und dem schwächeren Wachstum der letzten Jahre stieg sie wieder an und beträgt aktuell 14%. Vor allem junge, oft gut ausgebildete Leute emigrierten. Vor dem EU Beitritt arbeiteten rund 800'000 Personen im Ausland, 2013 schon gut 2 Millionen, ein Aderlass, der sich in Zukunft vermehrt bemerkbar machen wird.
Heute sei es für die jungen Leute viel schwieriger einen Job zu bekommen als vor einigen Jahren, als sie ihr Studium beendet habe, meinte eine junge Journalistin bei einer Diskussion im Zug von Warschau nach Krakau. Ein Kollege, der als Informatiker arbeitet, würde gerne im Ausland arbeiten und fragte halb scherzhaft, wie das denn so sei in der reichen Schweiz. Die Arbeitslosigkeit der unter 25 Jährigen ist rund doppelt so hoch wie im Durchschnitt. Rund 60% der jungen Arbeitnehmer haben keine Festanstellung, nur einen „Abfallvertrag“, wie die Polen es nennen. Sie unterstehen nicht dem Arbeitsrecht, und bekommen meistens auch später keinen normalen Vertrag. Die oft privat bezahlten Investitionen in die Bildung – seit der Wende ist Zahl der Absolventen von höheren Schulen um gut das Fünffache gestiegen – erweisen sich immer mehr als illusionär.
Zunahme sozialer Unterschiede
Die Entwicklung der Wirtschaft resultierte zwar in einem höheren Lebensstandard. Die Reallöhne stiegen seit 1990 um gut zwei Drittel. Heute besitzen über sieben von zehn Haushalten einen Computer, sechs ein Auto - meist Occasionsautos aus Westeuropa. Die sozialen Unterschiede aber hätten zugenommen, vor allem zwischen den besonders gut Gestellten und den besonders schlecht Gestellten, meint Yolanda Supinska, Professorin für Sozialpolitik in Warschau. Deutlich sehe man das bei der Wohnungssituation. Es würden viele Mieter rausgeworfen und erst langsam wachse der Widerstand dagegen. Die Oberschicht hingegen würde sich wie in den USA abschotten.
Rund 7% leben nach offiziellen Statistiken unter dem Existenzminimum, wobei die Zahl in den letzten Jahren wieder etwas gestiegen ist. Etwa gleich viele bezeichnen in Umfragen ihre materielle Situation als sehr schlecht, 14 % als schlecht. Die Wohnungskosten sind in den letzten 10 Jahren um das Doppelte gestiegen. Zwangsräumungen haben zugenommen und erreichten 2012 fast 8’000. Die Zahl der Obdachlosen wird in offiziellen Schätzungen auf 30- 40'000 beziffert. Nichtregierungsorganisationen gehen von doppelt so vielen aus. Als sehr gut bewerten ihre materielle Situation hingegen nur 2% ein. Das Vermögen des reichsten Polen, Jan Kulczyk, wurde 2013 vom Forbes Magazin auf knapp 3 Milliarden geschätzt. Damit liegt er allerdings deutlich hinter dem reichsten russischen und sogar ukrainischen Oligarchen. Der „Einzäunungstrend“ hat längst die wachsende Mittelschicht erreicht – rund 20% bezeichnen ihre materielle Lage als gut - und ist in Städten wie Krakau und Warschau unübersehbar. Die „Sicherheitsmanie“ hat dazu geführt, dass private Sicherheitsfirmen boomen und rund doppelt so viele Leute beschäftigen wie der Staat Polizisten im Einsatz hat.
Rückgang der Solidarität
Dass Sicherheit so gross geschrieben wird, hängt nicht nur mit der Kriminalitätsrate zusammen, die nach der Wende stark angestiegen war, allerdings seit längerer Zeit wieder deutlich zurückgeht. Es hat auch mit einer spezifischen polnischen Eigenheit zu tun. Das soziale Vertrauen in Personen, die nicht dem engen Familien- und Bekanntenkreis angehören, fällt in internationalen Vergleichsstudien extrem tief aus. Das hat seine Wurzeln in der polnischen Geschichte. Die Leute konnten unter der langjährigen Fremdherrschaft seit Ende des 18. Jahrhunderts und der extrem harten Besatzungszeit im zweiten Weltkrieg nur im engen Kreis zuverlässige soziale Beziehungen aufbauen. Ähnliches galt unter dem realsozialistischen System, wo man vorsichtig sein und sich im Kampf um die knappen Güter durchsetzen musste.
Nach der Wende wurde der Kampf um die Mangelgüter durch den härteren Kampf um Stellen und Geldverdienen ersetzt. Der Stress nahm zu und die gesellschaftliche Solidarität, die in der Solidarnosc-Gewerkschaft und Bewegung von 1980/81 einen einmaligen Höhepunkt erreicht hatte, zersetzte sich wieder. Die Gewerkschaften verloren immer mehr Mitglieder und Einfluss – teilweise auch selbst verschuldet durch ungeschicktes einseitiges Politisieren. Heute sind nur noch 14% gewerkschaftlich organisiert. Von einigen Ausnahmen wie Bergarbeiter-, Pflegepersonal - und Lehrerstreiks abgesehen, gab es nur wenige unbedeutende Streiks.
Widersprüchliche Bilanz
In einer kürzlichen Umfrage zu den Ereignissen und Veränderungen der letzten 25 Jahre bekamen die Möglichkeit frei zu reisen, im Ausland zu arbeiten und die vollen Regale in den Läden überwältigende Mehrheiten positiver Bewertungen, während das moralische Niveau der politischen Eliten, die Vergrösserung der sozialen Unterschiede und vor allem die Arbeitslosigkeit sehr negativ eingestuft wurden. In der Gesamteinschätzung teilten sich die Meinungen: je knapp 40% gaben an, dass sich die allgemeine Zufriedenheit mit dem Leben in den letzten 25 Jahren verbessert bzw. verschlechtert habe. Nur bei der Beurteilung der Lebensbedingungen sahen über die Hälfte eine Verbesserung, ein Drittel eine Verschlechterung. Kritischer eingestellt waren ältere Leute, weniger Gebildete und vor allem Arbeitslose. Aber auch Kleingewerbler sind oft nostalgisch. Im Sozialismus sei alles irgendwie einfacher gewesen, man habe weniger unter Druck gearbeitet, meinte Barbara, die in der erwähnten südostpolnischen Provinzstadt ein kleines Medizinallabor betreibt.
Eine Gesamtbilanz muss widersprüchlich ausfallen. Positiven Entwicklungen - wie leistungsfähigere und effizientere Wirtschaft, bessere materielle Lebensbedingungen - stehen negative Trends wie Arbeitslosigkeit, mehr Stress und weniger sozialer Zusammenhalt gegenüber. Der junge Informatiker drückte es kurz vor Ende der Zugsreise so aus. Ja, es sei vieles besser geworden, und man sei auch etwas stolz darauf, aber jeder schaue halt für sich. Und eine derart interessante und offene Diskussion mit einem Fremden sei leider nur noch selten. Eigentlich schade.
Zum Autor:
Jakob Juchler, Dr. phil., Soziologe,
Seit fast 40 Jahre verfolgt Jakob Juchler die Entwicklungen in Polen als Wissenschaftler und Publizist. Er ist vor kurzem von einer längeren Polenreise zurückgekehrt
Ein erster Artikel über Politik und Religion wurde am 7. Juli publiziert.