Von Jakob Juchler
Der Beruf des Politikers rangiert seit einiger Zeit in Befragungen über das Berufsprestige ganz weit unten. Neben einer geschichtlich begründeten Distanz zum Staat und seinen Vertretern haben sich das die Politiker selbst zuzuschreiben. Die Politiker schauten nur für sich, wechselten oft das politische Lager oder gründeten wieder neue Parteien. So äusserte sich Barbara, Mutter von drei erwachsenen Kindern und Eigentümerin eines kleinen Medizinischen Labors in einem südostpolnischen Provinzstädtchen. Sie wisse schon gar nicht mehr, wem sie die Stimme bei den Wahlen ins Europaparlament geben solle. Und obwohl die EU- Mitgliedschaft nirgends in Europa so populär ist wie in Polen – 9 von 10 Befragten finden – das eine gute Sache betrug die Wahlbeteilung gerade mal 23%. Und bei den letzten polnischen Parlamentswahlen 2011 ging auch nur knapp die Hälfte an die Urne. In einer Umfrage meinten vier von fünf Befragten, Politiker wären vor allem wegen dem Geld und der Karriere aktiv und oft anfällig für Korruption und Mauscheleien.
Entsprechend schlecht fielen auch die Bewertungen von Parlament und Regierung aus. Die Tätigkeit des Parlamentes bekam nur von gut einem Fünftel positive Noten, die Regierung von gut einem Viertel. Nur die lokalen Behörden und der Staatspräsident bekamen deutliche Mehrheiten positiver Einschätzungen. Immer wieder werden auch von den breit aufgestellten Medien Affären publik gemacht. Hohe Wellen werfen momentan die unlängst von einer rechtsliberalen Wochenzeitschrift veröffentlichten (illegalen) Aufzeichnungen von Gesprächen von Ministern, Spitzenbeamten und Konzerbossen. Insbesondere das Gespräch des polnischen Innenministers mit dem Notenbankpräsidenten erregte grosses Aufsehen. Darin wird in recht rüdem Tone über einige Politiker und Staatsbeamte hergezogen und auch ein Tauschgeschäft angesprochen. Die Nationalbank könnte durch eine entsprechende Zinspolitik die Regierung bei den nächsten Wahlen unterstützen, die Regierung ihrerseits den unbequemen Finanzminister ablösen und der Nationalbank in einigen rechtlichen Regelungen entgegenkommen. Die Oppositionsparteien verlangten den Rücktritt der Regierung, aber diese gewann erst einmal die Vertrauensabstimmung.
Die Politszene ist in Polen seit der Wende stark polarisiert, obschon die grundlegenden Änderungen nur aufgrund eines Kompromisses am berühmten „Runden Tisch“ eingeleitet
werden konnten. Lange Zeit standen sich das meist zersplitterte Solidarnosc-Lager und die Postkommunisten mit wechselnden Machtverhältnissen und Parteienkoalitionen gegenüber.
Seit rund 10 Jahren bekämpfen sich die nationalkonservativ-katholische Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) unter Jaroslaw Kaczynski und die liberal-konservative Partei PO (Bürgerverständigung) unter Donald Tusk. Nach einer kurzen Machtdominanz der PiS konnte die PO die Regierungsmacht erringen und sie bei den letzten Wahlen verteidigen. In letzter Zeit lagen die beiden Parteien in den Umfragen aber praktisch gleich auf, was sich bei den letzen Europaparlamentswahlen bestätigte – je 32% der Stimmen. Die Sozialdemokraten, die ehemalige postkommunistische Linke, erreichte knapp 10%. Die Bauernpartei, der Koalitionspartner der PO, bekam 7%.
Rechte Extremisten im Aufwind
Einzig die radikal liberalkonservative „Neue Rechte“ sorgte mit ihren 7% für eine kleine Überraschung. Unter ihrem provokativen Vorsitzenden, Janusz Korwin- Mikke, der schon lange als Aussenseiter in der Politszene mitmischt, konnte sie mit ihren Parolen gegen das politische Establishment, gegen Bürokratie und Steuern auch junge Wähler ansprechen.
Er unterstütze die Neue Rechte, da sie sich als einzige von den andern abgewirtschafteten Parteien unterscheide und ein klares liberales Programm habe, meinte Grzegorz, ein gut ausgebildeter 27- jähriger Jurist. Die radikal rechtskonservative Partei „Nationale Bewegung“ hingegen kam nur auf gut ein Prozent, ist aber mit Strassenaktionen und Schlägereien mit Linksaktivisten oft im Medienfokus.
Anders als die Rechte bekundet die Linke grosse Mühe, sich zu organisieren. Sie ist in verschiedene kleine und kleinste Gruppierungen gespalten, die sich nicht zusammen raufen können. Dass die Linke sich so schwach präsentiere, sei eigentlich ein grosser Widerspruch. Denn in vielen Belangen seien die Leute mehrheitlich linksorientiert, insbesondere was die Rolle des Staates im Arbeitsmarkt und bei der Reduktion der Einkommensunterschiede betreffe, urteilt Yolanda, eine emeritierte Professorin für Sozialpolitik, die sich längere Zeit auch politisch engagiert hat. Sie habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass doch noch eine bedeutsame linke Politbewegung entstehe. Aber auch die aktuelle politische Krise begünstigte laut den neusten Umfragen die Rechte, während die Regierungsparteien deutliche Einbusse erlitten. Mit der Ankündigung einer baldigen grundlegenden Regierungsumbildung versuchten diese sich vorerst etwas Luft zu verschaffen.
Mächtige Kirche
Dass es keine starke Linke gibt, hat neben der Tatsache, dass auch rechte Parteien linke Anliegen bewirtschaften, mit der Stellung der katholischen Kirche zu tun. Sie stellt die einzige mächtige nichtstaatliche Organisation dar. In der Volkszählung von 2010 bezeichneten sich 89% als Katholiken. 1992 gingen rund 47% regelmässig am Sonntag in die Kirche, 2013 ist die Zahl auf gut 40% leicht zurückgegangen. Die Kirche hat ihr Personal aufstocken können, von 23’100 auf 30'600 Priestern. Interessant ist ein historischer Vergleich. Die kommunistische Partei hatte selbst in der dunkelsten Stalinismuszeit fast dreimal weniger Funktionäre. Dass die Kirche ihre dominierende Stellung so gut halten konnte, hat historische Gründe. In den Zeiten der Fremdherrschaft und während des Realsozialismus war sie die einzige autonome Institution, die Polens nationale Kultur verteidigte. Nach der Wende baute die Kirche ihren politischen und geistigen Einfluss aus und schuf sich ein eigentliches Medienimperium. Dabei verfolgte sie einen konservativ-traditionalistischen Kurs.
Die Kirche ist so etwas wie ein Staat im Staate. Bei offiziellen Anlässen ist sie fast immer dabei. Ihr Einfluss auf die Politik ist gross, vor allem in weltanschaulichen Fragen. So setzte sie schon 1993 ein rigides Abtreibungsverbot durch, obwohl sich die Mehrheit der Bevölkerung in allen Umfragen dagegen aussprach. Als einziges Land in Europa betreibt die polnische Bischofskonferenz eine gemeinsame Kommission mit der Regierung. Mehrheiten kritisierten in Umfragen immer wieder den zu grossen politischen Einfluss und lehnten moralisch-ethische Positionen der Kirche ab wie das Verbot von vorehelichem Sex oder der Schwangerschaftsverhütung. (Polen hat nicht ohne Grund eine der tiefsten Geburtenraten in Europa.) Die Kirche sei ein grosser Konzern, der die eigenen Interessen vertrete, meinte ein junger Informatiker bei einer Diskussion im Zug von Warschau nach Krakau. Und sein Kollege pflichtete ihm bei und kritisierte Lebensstil und Einfluss, den viele Priester ausübten. Aber rund 60% geben in Meinungsumfragen der Tätigkeit der Kirche trotzdem noch gute Noten. Und in einigen ethischen Fragen gelang es der Kirche sogar, ihre Position populärer zu machen. So gab es bei der Abtreibung einen Meinungsumschwung, fast zwei Drittel lehnten diese 2012 ab.
Fundamentalistische Minderheit
Obwohl die Mehrheit der Katholiken von Ritualen und Volksfrömmigkeit geprägt sind, gibt es eine beträchtliche Minderheit von rund einem Viertel, die mehr oder weniger stark fundamentalistisch ausgerichtet ist. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Sender Radio Maria, der von treuen Anhängern tagtäglich gehört wird und eine sehr traditionalistische Orientierung vertritt. So soll auch der ehemalige Solidarnosc-Führer und Ex-Präsident Lech Walesa nach der Aussage eines Sohnes ein fleissiger Zuhörer sein. Dies dürfte mit erklären, weshalb er immer wieder mit extremen Sprüchen auffällt. Kürzlich erregte er grosses Aufsehen, als er sich zu der Aussage verstieg, Homosexuelle gehörten eigentlich hinter (Gefängnis-) Mauern. Auch die offizielle Kirche lancierte eine Kampagne gegen liberale Auffassungen in der Geschlechterfrage. Genderismus wurde als eine gefährliche widernatürliche Ideologie abqualifiziert.
Tradition wird allgemein gross geschrieben, die hierarchische Struktur in der Kirche hoch gehalten. Kürzlich wurde z.B. ein engagierter und offen eingestellter Dorfpriester vom Bischof abgesetzt. Als die Gläubigen sich wehrten, wurde kurzerhand die Kirche geschlossen.
Anschuldigungen von sexuellen Übergriffe gegenüber Kindern und Erwachsenen wurden möglichst unter den Teppich gekehrt. Allerdings hat dagegen der Widerstand in der Öffentlichkeit zugenommen. Auch die rund 10% Nicht-Katholiken beginnen sich stärker zu organisieren. So wurde im Frühling zum ersten Mal in Warschau „Tage des Atheismus“ veranstaltet. Als ein Höhepunkt wurde die Hinrichtung eines atheistischen Freigeistes aus dem 17. Jahrhundert auf dem Hauptplatz der Altstadt nachgestellt. Im Internet hat die Atheisten Community immerhin schon gegen 10'000 Followers.
Widersprüchliche Bilanz
In einer Umfrage zu den Ereignissen und Veränderungen der letzten 25 Jahre bekam die „Existenz vieler Parteien und freie Wahlen“ nur eine schwache Mehrheit von positiven Bewertungen, „die Einführung des Religionsunterrichtes“ sogar nicht mal die Hälfte, während „das moralische Niveau der politischen Eliten“ sehr negativ eingestuft wurde. In der Gesamteinschätzung teilten sich die Meinungen: je knapp 40% gaben an, dass sich die allgemeine Zufriedenheit mit dem Leben in den letzten 25 Jahren verbessert bzw. verschlechtert habe. Trotz aller widersprüchlichen Entwicklungen: Polen hat in den letzten 25 Jahren auf dem Weg zu einer einigermassen funktionierenden Demokratie und einer offeneren Gesellschaft ein beträchtliches Stück zurückgelegt.
Zum Autor:
Jakob Juchler, Dr. phil., Soziologe,
Seit fast 40 Jahre verfolgt Jakob Juchler die Entwicklungen in Polenals Wissenschaftler und Publizist. Er ist vor kurzem von einer längerenPolenreise zurückgekehrt.