Doris Fiala: Wir haben absolut kein Asyl-Chaos in der Schweiz. Eigentlich ist diese Behauptung eine Beleidigung für alle, die täglich direkt oder indirekt mit diesem Problem konfrontiert sind. Ich denke da an den Bundesrat, an die Asylzentren, an das Grenzwachtcorps beispielsweise in Chiasso, mit dessen Verantwortlichen ich mich intensiv ausgetauscht habe. Diese Leute machen unter den gegebenen Umständen alle den bestmöglichen Job.
Ich war vor wenigen Tagen im neuen Testzentrum in Zürich an der Förlibuckstrasse 110, da habe ich alles andere als ein Chaos angetroffen. Zudem war ich im Unterbringungszentrum Juch, da herrscht nicht nur kein Chaos. Ich habe dort gesehen, wie falsch die Aussage ist, dass die Flüchtlinge in Luxusunterkünften wohnen, angeblich weit besser als manche hiesigen Rentner. Im Juch sind die Unterkünfte Baracken aus den sechziger Jahren, vormals von Saisoniers bewohnt, sehr heruntergekommen – so muss wohl glücklicherweise kein Schweizer Pensionär logieren.
Also ist der Ausdruck Asyl-Chaos bezogen auf die Schweizer Verhältnisse pure Polemik?
Ja, aus meiner und aus heutiger Sicht ist das blosse Stimmungsmache. Man muss sich nur die Fakten vergegenwärtigen. Das Testzentrum konnte nun die Rekurse (gegen abgewiesene Asylanträge) auf 19 Prozent reduzieren. Maximal ist jemand noch 140 Tage in diesem Verfahren drin. In den besten Fällen, zum Beispiel im Falle der Kosovaren dauert das Verfahren nur noch rund 48 Stunden, denn die Schweiz hat mit Kosovo eine Migrationspartnerschaft abgeschlossen und die Rückführung klappt sehr gut. Die durch das Testzentrum in Zürich erreichte Beschleunigung des Asylverfahrens ist sehr eindrücklich. Und es ist deshalb unverständlich, weshalb die SVP im Nationalrat gegen die Beschleunigung des Verfahrens gestimmt hat, die sie ja früher immer verlangt hatte.
Ungenau oder verzerrt wird seitens der SVP auch über die kostenlosen Rechtsbeistände für Asylbewerber berichtet. Es wird zu wenig betont, dass diese Anwälte eine Pauschale von rund 1300 Franken für den Gesamtfall, den sie betreuen, bekommen. Das heisst, dass dieser Anwalt Null Interesse daran haben kann, einen Fall hinauszuzögern, oder zu verhindern, dass diese Beschleunigung auch tatsächlich greift. Mit dieser Regelung wiederum können die Gesamtkosten für einen Asylsuchenden drastisch gesenkt werden, da die Verfahrensdauer viel kürzer wird. Der Anwalt rechnet sich also absolut!
Gibt es ein Asyl-Chaos in der EU?
Ja, ich denke, dass man in verschiedenen Ländern durchaus von Chaos sprechen kann. Ich war ja zwei Jahre lang Präsidentin der Subkommission für Flüchtlingswesen im Europarat und bin heute zuständig für Ausschaffungsgefängnisse und Flüchtlingscamps. In dieser Funktion habe ich die wirklich teilweise katastrophalen Ausschaffungsgefängnisse beispielsweise in Griechenland besucht. Die Länder an der Schengen-Aussengrenze (wie Griechenland oder Italien) sind heute tatsächlich überfordert.
Jedes Land wäre mit diesem unglaublichen Ansturm während der letzten Monate überfordert. Alle diese Länder brauchen deshalb unsere Unterstützung durch Know-how und andere Hilfeleistungen sowie Finanzmittel und Frontex-Beiträge. Wir dürfen stolz darauf sein, dass unser neues Testzentrum für die Behandlung von Asylbewerbern in Zürich bei andern Ländern auf so viel Interesse stösst und als beispielhaft angesehen wird. Auch Experten aus Deutschland haben dieses Zentrum besichtigt und gelobt.
Wie beurteilen sie die jüngste Entwicklung des Flüchtlingszustroms in Deutschland?
Man muss da wohl sagen, das Herz hat mit der zeitweisen unkontrollierten Öffnung der Grenzen für die Flüchtlinge über den Kopf gesiegt. Aber die Gefahr besteht, dass die positive Stimmung zur Aufnamebereitschaft schnell einmal kippt, weil altruistischer Geist oft nicht nachhaltig ist. Ich verstehe sehr gut, dass ein solcher anhaltender Zustrom von Flüchtlingen in der Bevölkerung Ängste weckt und Abwehrreflexe. Wir müssen gleichzeitig erkennen, dass die Flüchtlingsfrage genauso wie andere international zusammenhängende Herausforderungen wie Terrorismus, Cyber-Crime, Menschenhandel und organisiertes Verbrechen nur in einem übernationalen Rahmen zu meistern ist oder wenigstens in erträglichen Dimensionen gehalten werden kann.
Sie haben die Idee lanciert von sogenannten „Swiss camps“ mit Schweizer Fachleuten in Ländern, wo Flüchtlinge besonders zahlreich und prekär zusammengedrängt sind.
Ich war kürzlich in Flüchtlingslagern für Syrer an der türkischen Grenze. Die Türkei hat rund zwei Millionen Flüchtlinge bei sich aufgenommen, dafür hat sie bisher um die sechs Milliarden Dollar aus eigener Kraft investiert. Rund 250'000 Flüchtlinge leben in diesen Camps, zum Teil in Zelten, zum Teil in Containern, die restlichen sind irgendwo im Land verteilt. Einige betreiben erfolgreich ihr eigenes Geschäft, sind selbstständig, man sieht aber auch andere, die betteln.
Seit der Krieg in Syrien ausgebrochen ist, hat die Schweiz bisher rund 178 Millionen Franken zur Unterstützung der Flüchtlingskrise in diese Region gegeben – z. B. für die intern Vertriebenen in Syrien, für die Camps in Jordanien, die ich ebenfalls besuchte. Ich glaube, dass wir auch der Türkei bei der Bewältigung ihrer enormen Aufgabe helfen sollten, denn sie hält uns, etwas krass ausgedrückt, noch viel grössere Probleme in Sachen Flüchtlingsandrang vom Hals.
Ist es denkbar, dass die Schweiz in absehbarer Zeit ein „Swiss camp“ für Flüchtlinge in Syrien selber oder in der Türkei betreiben könnte?
Ich habe mich von Fachleuten dazu näher informieren lassen. Die Antwort lautet, dass ein solches Projekt im jetzigen internationalen Umfeld kaum realisieren liesse. Ein solches Camp müsste ja militärisch bewacht werden. Es gibt Vorstellungen, dass man das mit Schweizer Uno-Blauhelmen tun sollte. Aber im Schweizer Militärdepartment hält man das offenbar für unmöglich.
Müsste man die Idee solcher Flüchtlingscamps in den Krisenregionen selber nicht in einem internationalen Verbund, etwa im Rahmen der EU, durchzusetzen versuchen?
Richtig, gute Ideen gerade in der Flüchtlingsfrage müssen mit internationaler Koordination angepackt werden. Ein gutes Beispiel dafür ist ja der jetzt diskutierte Verteilschlüssel für Flüchtlinge, der eine solidarischere Verteilung der Lasten bedeuten würde. Ich teile die Meinung jener, die überzeugt sind, dass sich die Schweiz an diesem Schlüssel beteiligen sollte – das wäre wahrscheinlich sogar für eine Entlastung für die Schweiz gegenüber dem jetzigen System.
In der Schweiz ist die Frage der Flüchtlinge aus Eritrea besonders umstritten. So wird etwa behauptet, solche Flüchtlinge könnten auf Kosten der Schweiz zu Verwandtenbesuchen oder zu Hochzeiten in die Heimat reisen. Was ist davon zu halten?
Es gibt kein Dossier, bei welchem derart viele Halb- und Unwahrheiten erzählt werden wie beim Eritrea-Thema. Ich kann der Bundespräsidentin Somaruga den Vorwurf nicht ganz ersparen, dass seitens der Regierung die Kommunikation nicht offensiv genug vorgetragen wird. Zu viel Unsicherheit wird bei dieser Frage geschürt – am allermeisten von Seiten der SVP. Es gilt, folgende Dinge zu unterscheiden:
Ja, es ist zur Zeit die grösste Flüchtlingsgruppe in der Schweiz. Insgesamt leben bei uns rund 25'000 Eritreer. Viele von sind aber schon vor längerer Zeit in die Schweiz gekommen, viele leben seit mehr als zehn Jahren bei uns und haben bereits den Permis C. Mit diesem Ausweis haben sie das Recht, z.B. in Deutschland Verwandte zu besuchen. 50 Prozent der Eritreer mit diesem Status sind erwerbstätig, gut integriert und gehen auf eigene Kosten Verwandte besuchen.
Absolut unwahr ist die Behauptung, dass die Schweiz irgendeinem Menschen, der bei uns den Flüchtlings- oder Asylstatus hat, erlauben würde, in seine Heimat zu reisen und um dort Ferien zu machen. Solche Unwahrheiten werden verbreitet – aber „vom Hörensagen lernt man lügen“. Ganz klar ist: sollte ein Flüchtling nachweisbar in seine Heimat – sagen wir Eritrea – reisen, dann hätte er seinen Flüchtlingsstatus verwirkt. Diese Fakten sollte unsere Regierung gezielter und wahrnehmbarer bekanntmachen.
Gibt es Missbräuche beim Asylrecht?
Gewiss, überall wo Recht besteht, gibt es leider auch Missbräuche des Rechts. Ich bin der Meinung, man muss solche Missbräuche mit allen Mitteln und aller Härte bekämpfen. Es gibt das Beispiel der eritreischen Botschaft und des Konsulats in Genf. Es wird behauptet, dass von diesen Vertretungen unter den Eritreern in der Schweiz Steuern eingezogen werden, auch Visa für Rückreisen würden ausgestellt. Das würde gegen unser Recht verstossen.
Man muss aber auch wissen, dass es unter den Eritreern zwei verschiedene Lager gibt und die Aussagen von beiden Seiten oft sehr widersprüchlich sind. Nun ist die Bundespolizei dabei, diese Vorwürfe gegen die Botschaft genauer abzuklären. Die Schweiz kann die Botschaft nur auf Grund eindeutiger Beweise schliessen oder den Botschafter zur Persona non grata erklären. Ich meine, wenn solche Beweise vorliegen, muss unsere Regierung energisch einschreiten und der Botschaft das Handwerk legen.
Bei jungen Eritreern ist es so, dass sie durch die Flucht dem Einzug in den Nationaldienst zu entgehen versuchen, der oft viele Jahre als Zwangsarbeit dauert. Hier scheint mir eine juristisch-humanitäre Klärung wichtig: In der Schweiz ist Dienstverweigerung grundsätzlich kein Asylgrund. Doch würde man diese jungen Männer zurückschicken nach Eritrea, dann wären sie laut Uno-Berichten tatsächlich an Leib und Leben bedroht. Sie werden daher als Härtefälle eingestuft und nicht zurückgeschickt. Es ist keinesfalls nur die Schweiz, die hier auf eine Rückschaffung verzichtet. Zurzeit gibt es kein einziges europäisches Land, das anders handelt – auch nicht Dänemark, entgegen anderslautenden Berichten.
Übrigens sollte man wissen: 90 Prozent der Eritreer, die bei uns leben, haben einen christlichen Hintergrund. Obwohl in Eritrea 90 Prozent der Bevölkerung muslimisch ist, kommen viel mehr Flüchtlinge mit christlichem Hintergrund zu uns. Eritreer muslimischen Glaubens flüchten eher nach dem Sudan, weil sie glauben, sich dort besser integrieren zu können.
Im Zusammenhang mit dem Eritrea-Problem haben Sie diese Woche im Nationalrat eine Interpellation eingereicht betreffend der Rückreise von Eritreern aus Israel. Worum geht es da?
Es geht um ein neues, offenbar einmal mehr vom eritreischen Honorarkonsul Locher verbreitetes Gerücht, dass Israel Flüchtlingen aus Eritrea Geld auszahle und diese dann in ihr Land zurückkehrten, ohne Gewalt oder Verfolgung zu erleiden. In meiner Interpellation will ich vom Bundesrat wissen, ob er von diesen Behauptungen Kenntnis hat und falls ja, wie er sie einschätzt. Weiter frage ich, ob der Bundesrat gewillt ist, Generalkonsul Locher zu diesen Punkten durch schweizerische Experten befragen zu lassen. Sollten sich die Aussagen bewahrheiten, müsste die Eritrea-Frage eindeutig neu beurteilt werden.
Aus aktuellen Bildern gewinnt man den Eindruck, dass es vor allem junge, kräftige Männer sind, die in Europa als Flüchtlinge ankommen. Stimmt dieser Eindruck und ist das nicht eine Benachteiligung von Frauen und Kindern, die möglicherweise durch kriegerische Zustände stärker bedroht sind?
In den türkischen oder jordanischen Lagern begegnet man sehr vielen syrischen Flüchtlingsfamilien mit Frauen und Kindern. In Griechenland wurden in den Auffanglagern Männer und Frauen getrennt, Frauen teilweise in schäbigen Gefängnissen untergebracht – wenn man die betroffenen Menschen live gesehen und sich mit ihnen unterhalten hat, empfindet man diese unhaltbaren Zustände schlicht als menschenunwürdige Tragödie.
Aus Afrika und der Subsahara ist es tatsächlich so, dass von dort überwiegend junge, kräftige Männer nach Europa kommen, auch aus Ländern, in denen kein Krieg herrscht. Bei aller Problematik, die damit verbunden ist, kann man auch positive Aspekte schwer leugnen: Wenn es ein junger Mann schafft, in Europa Fuss zu fassen und Arbeit zu finden, so wird er möglicherweise mit hundert Franken monatlich, die er nach Hause schickt, dort eine mehrköpfige Familie ernähren können.
Es ist erwiesen, und das wird zu wenig beachtet, dass die weltweite Diaspora von Arbeitenden in fremden Ländern in einem Ausmass Finanzmittel nach Hause schickt, welches ein Vielfaches der weltweit geleisteten Entwicklungshilfe ausmacht. Das heisst, die materiell grössten „Entwicklungshelfer“ oder Armutsbekämpfer in der Dritten Welt sind die hier erwähnten Teile der Diaspora. In vielen Fällen kann diese Leistung dazu beitragen, dass der Rest der Familie nicht auch noch flüchten muss, sondern zu Hause überleben kann.
Ein ganz anderer Zusammenhang: Wie weit wird das Flüchtlingsthema die eidgenössischen Wahlen vom 18. Oktober beeinflussen?
Keine Frage, das Thema wird die Wahlentscheidung mit beeinflussen. Die Bürger sind verunsichert von den Bildern und Berichten über die rasant angeschwollenen Flüchtlingsströme Richtung Europa. Sie fragen sich, ob auch bei uns teilweise chaotische Zustände ausbrechen könnten, wie wir sie in einigen Ländern wahrnehmen. Natürlich hat auch für mich die innere Sicherheit hohe Priorität. Aber ich ärgere mich besonders, dass nun die im Nationalrat beschlossene Beschleunigung der Asylverfahren, vermutlich aus Politmarketing-Gründen, ausgerechnet von der SVP abgelehnt worden ist, obwohl gerade die SVP immer eine Beschleunigung verlangt hatte.
Die SVP fordert ja die Kündigung des Schengen- und des Dublin-Abkommens durch die Schweiz. Diese seien ohnehin gescheitert.
Dazu möchte ich mindestens drei wesentliche Aspekte geltend machen. Erstens auf die Unwahrheit hinweisen, dass bei uns jeder einfach nur die Grenze passieren kann. Wer aus einem Nicht-Schengenland, etwa aus der Ukraine, bei uns einreisen will, muss über ein Schengen-Visum verfügen. Dieses kann, muss aber nicht zwingend von unseren Grenzbeamten kontrolliert werden. Wer kein gültiges Schengen-Visum vorweisen kann, wird zurückgewiesen – es sei denn, er stelle einen Antrag auf Asyl.
Kommt hinzu, was meist ausgeblendet oder vergessen wird: Die Schweiz ist nicht Mitglied der EU-Zollunion. Ich habe mich über diese Aspekte lange mit den Grenzwächtern und den Verantwortlichen in Chiasso unterhalten. Kommt jemand an die Grenze, so kann man immer danach fragen, ob Waren mitgeführt werden. Damit ist immer auch die Möglichkeit zur Kontrolle von Ausweisen und Dokumenten grundsätzlich gegeben, selbst für EU-Bürger.
Zweitens: Entgegen den Aussagen der SVP ist der Bestand des Grenzwachtkorps erhöht worden, von 1700 auf rund 2000 Grenzwächter. Ausserdem verfügen sie heute über neue technische Möglichkeiten. Heute gibt es auch Grenzkontrollen mit Drohnen, man praktiziert verdeckte Überwachung in Zivil. Selbst wenn jemand die Grenze zur Schweiz bereits überquert hat, kann er zwei oder drei Kilometer landeinwärts noch gestoppt und kontrolliert werden. Von diesen Möglichkeiten werde aktiv Gebrauch gemacht, sagten mir die Verantwortlichen in Chiasso. Zudem profitieren wir vom internationalen Fingerabdruck-System.
Drittens: Bei einer Kündigung des Schengen-Abkommens würden wir zur Schengen Aussengrenze. Wir haben das vor einigen Jahren in Basel mit stundenlangen Auto-Staus an der Grenze erlebt, als Deutschland die Schweiz kurzerhand während einer Übergangsfrist zur Schengen-Aussengrenze erklärte. Das war ein Stau-Chaos!
In Deutschland wird in diesem Jahr von bis zu 800'000 Flüchtlingen gesprochen. Mit wie vielen Flüchtlingen muss die Schweiz rechnen?
Verlässliche Zahlen gibt es nicht, aber in den Prognosen rechnet man bis Ende Jahr um die 30'000 Flüchtlinge. Sollte die jetzige Krise in Europa anhalten oder sich gar ausweiten, sind auch höhere Zahlen nicht ausgeschlossen.
Ich mache in diesen Wochen die Erfahrung, dass überall wo ich auftrete, auch bei Wahlkampf-Veranstaltungen, viele Bürger dankbar sind für möglichst sachliche und differenzierte Informationen zur vielschichtigen Flüchtlingsproblematik. Wenn man ihnen hieb- und stichfeste Fakten liefert zur Tatsache, dass wir kein Asyl-Chaos haben, dass wir inzwischen ein Testzentrum für die Aufnahme von Asylbewerbern mit Modellcharakter aufgebaut haben, dann sind sie für diese versachlichenden Informationen sehr dankbar. Mit solchen Fakten kommt eher eine konstruktive Diskussion zustande als mit aufwühlenden Behauptungen und Halbwahrheiten.
Noch eine Frage zu den Parlamentswahlen. Die Präsidentin der Grünen, Regula Ritz, hat im Interview mit „Journal21“ erklärt, die FDP werde zur „Steigbügelhalterin der SVP“, weil sie wohl dafür sorgen werde, dass diese einen zweiten Bundesrat bekomme. Was sagen Sie dazu?
Ich kann mich dazu ganz klar outen. Ich stehe zu hundert Prozent zur Konkordanz. Ich habe Frau Widmer-Schlumpf nie gewählt, ich würde sie auch nicht wählen. Ich stelle auch keine Bedingungen an die von den Parteien nominierten Kandidaten. Die Konkordanz muss sich bei der Arbeit des Bundesrates bewähren. Bewährt sich ein Bundesrat nicht, muss man das offen ansprechen und den Finger auf wunde Punkte halten.
Ich lasse mich auch nicht zur Steigbügelhalterin machen für die Interessen der Linken. In Wirtschafts- und ordnungspolitischen Fragen sind wir auf die Partnerschaft mit der SVP angewiesen. Man denke nur an all die übertriebenen Forderungen und Initiativen zum Mindestlohn, zum 1:12-Lohnverhältnis, zur Verkehrspolitik. Die Differenzen mit der SVP bestehen hauptsächlich bei der Abgrenzung liberal oder konservativ. Das Offenhalten der bilateralen Verträge mit der EU, das ist für mich, anders als für die SVP, ein entscheidender Punkt. Aber ich bin gleichzeitig gegen einen Beitritt zur EU.
Sie sind also für einen zweiten SVP-Sitz im Bundesrat?
Ja, ganz dezidiert. Mir ist es viel lieber, dass die SVP Verantwortung übernehmen muss und mit uns im Regierungsboot mitrudert, als dass sie nur neben dem Boot Wellen schlägt. Deshalb war Blochers Abwahl aus dem Bundesrat aus meiner Sicht ein fataler Fehler. Wäre er eingebunden geblieben in die Regierung, hätten er und seine Partei sich wohl weitaus konstruktiver verhalten, als wir das in den letzten Jahren erlebt haben.
Aber hat Ihr Parteipräsident Philipp Müller nicht erklärt, die Unterstützung durch die FDP bei der Bundesratswahl hänge von der Person ab, die die SVP portiere?
Nein, er hat das differenzierter gesagt: Die Unterstützung durch die ganze FDP-Fraktion hänge davon ab, wen die SVP dann ins Rennen schicken werde. Da hat er wohl recht.