Wer die Befindlichkeit von heutigen Einwohnern Grönlands kennenlernen will, kommt im Alpinen Museum in Bern auf seine Rechnung. Zahlreich äussern sie sich zum Leben in einem Land, das extremen Änderungen unterworfen ist – und das nicht erst seit Donald Tramps jüngst erneut vorgebrachten Plänen.
Grönland ist vermehrt im Gerede. Wegen Trumps aggressiv geäusserter Absicht, die grösste Insel der Welt für die USA erwerben zu wollen – nicht um seiner schönen gebirgigen Landschaften willen oder wegen der spektakulären Gletscherströme, die riesige Eisberge ins Meer absondern, nicht wegen des Inlandeises oder wegen seiner geologischen Besonderheiten. Im Vordergrund steht, was immer im Vordergrund stand: Grönland weckte schon in der Vergangenheit ausländische Begehrlichkeiten, und Trump äusserte sich schon während seiner ersten Amtszeit in ähnlichem Sinn wie heute. Es geht um Geopolitisches und Wirtschaftliches. Geopolitisch: Macht über die arktische Zirkumpolarregion und damit über weite Teile der Erde. Wirtschaftlich: Die Seltenen Erden locken vor allem China und die USA, aber auch Russland, denn wer auf sie – und ihre Vorkommen auf der Insel sind riesig, wenn auch schwer abzubauen – zurückgreifen kann, beherrscht Weltmärkte.
Der Wikinger Eric der Rote nannte die Insel bei seiner Anlandung im Süden um das Jahr 1000 Grönland. «Grünland» ist im Süden tatsächlich grün, und da wird erfolgreich Landwirtschaft betrieben. Kim Neider zum Beispiel leitet hier als Agronom eine Forschungsstation für Gemüseanbau. Ob die Dänen sich des ab 1712 von Dänemark-Norwegen kolonialisierten und 1814 als Kolonie an Dänemark gefallenen Riesen-Eilands wegen des Gemüses bemächtigten, ist unwahrscheinlich. Schon damals standen Machtstreben und Wirtschaftliches (Stichwort: Walfang als Energiebeschaffung) im Brennpunkt – wie in der ganzen Kolonialpolitik Dänemarks, der sich u. a. auch Island und, im 19. Jahrhundert, Ländereien in Indien sowie, im 17. Jahrhundert, die Zuckerinseln Virgin Islands in der Karibik ausgesetzt sahen.
Innensicht
Kim Neider kommt in einem Video zu Wort, das in der Ausstellung «Grönland. Alles wird anders» im Alpinen Museum der Schweiz in Bern zu sehen ist. Die Schau ist bestens geeignet, unsere meist geringen Kenntnisse über die Insel zu vergrössern. Meist wissen wir ja bestenfalls, dass Fridtjof Nansen 1888/89 in einer extrem fordernden Expedition das Inlandeis Grönlands als Erster zu Fuss durchquerte, um zu beweisen, dass die Insel tatsächlich bis auf schmale Küstenstreifen ganz von Eis bedeckt ist. Vielleicht haben wir noch in Erinnerung, dass Alfred Wegener, der «Vater» der Kontinentalplattenverschiebungen, 1930 auf einer Expedition im Inlandeis an Erschöpfung starb. Oder wir sahen Fotos von putzigen bunten «Eskimo»-Dörfern und, vielleicht, im Nationalmuseum in Kopenhagen historisches Kulturgut der Inuit.
Kim Nelder ist nicht der einzige, der sich in den Videos der Ausstellung äussert. Mit ihm geben rund 30 Frauen und Männer, die in Grönland leben, ihre Statements ab – Inuit die meisten von Ihnen, aber auch Zugewanderte, die hier leben und ihr Auskommen finden, oder Touristen. Das Kuratorenteam, Museumsdirektor Beat Hächler und der Filmregisseur Gian Suhner vor allem, wählten sie vor Ort so aus, dass die ihrer Meinung nach relevanten Themen zur Sprache kommen und dass die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung ein authentisches Bild dessen vermittelt bekommen, wie die Grönländerinnen und Grönländer selber ihr Land und seine Zukunft sehen.
«Grönland – alles wird anders» ist also eine andere Ausstellung über Grönland als andere. Es gibt keine ethnologischen Objekte zu sehen und nichts Folkloristisches. (Beat Hächler: «Wir haben nichts derartiges in unserer Sammlung, während man in andern Museen genug davon sehen kann.») Natürlich darf ein Eisbär nicht fehlen, und man findet in Fotos und Videos auch Bilder von wunderbaren, alpin wirkenden Schnee- und Eislandschaften unter stahlblauem Himmel. Doch diese Blicke von aussen kontrastieren mit der Innensicht, welche die bunt gemischten Interviewpartner und -partnerinnen vermitteln. Da spürt man, dass ihre Heimat oder Wahlheimat auch ohne Trumps angedrohten (wirklich bloss abgedrohten? Hoffen wir es!) Griff nach der Insel vor enormen Änderungen steht.
Drang nach Eigenständigkeit
Diese Änderungen sind einerseits weitgehend klimabedingt und können von den rund 56’000 Einwohnern nur marginal beeinflusst werden. Andererseits: Der sich abzeichnende – auch geopolitisch bedingte – gesellschaftliche und kulturelle Wandel belastet viele Menschen in Grönland, spornt aber umgekehrt manche Grönländerinnen und Grönländer zu neuen Initiativen an. Die wirtschaftliche Basis der Einwohner ist schmal, ihre Perspektiven sind düster. Alkoholismus ist verbreitet. Gebildete Nachwuchskräfte wandern ab. Qualifizierte Spezialisten beispielweise für den Bergbau sind rar. Aus eigener Kraft – so Naaja H. Nathanielsen, Ministerin für Wirtschaft, Handel, Bodenschätze, Justiz und Gleichberechtigung in einem der Videos – ist die Nutzung der Seltenen Erden nicht zu bewältigen. Es braucht die Zusammenarbeit mit internationalen Konsortien. Trotz allen Erschwernissen und trotz aller Abhängigkeit vom Weltgeschehen ist aber der Drang nach politischer Eigenständigkeit Grönlands gross. Die Bergbau-Ministerin konstatiert jedenfalls ein wachsendes Selbstbewusstsein der Grönländer.
«Wohnt ihr in Iglus?»
Die Bandbreite der Interviews ist gross. Alkoholismus und Depression werden höchstens am Rand thematisiert, Probleme mit der Sprache und der Verlust herkömmlichen Handwerks, etwa des Herstellens der wunderschönen Lederstiefel für die Tracht der Grönländerinnen, schon eher. Klimaveränderungen wie die Erwärmung und das Abschmelzen des Eises, das neben anderen gravierenden Folgen auch die Lebensgrundlagen der arktischen Fauna, der Eisbären zum Beispiel, belastet, sind wichtige Themen. Dass die Mehrheit der Unternehmen in Grönland in dänischem Besitz ist, da die Banken mit Krediten an Grönländer sehr zurückhaltend sind, konstatiert ein Unternehmer. Die Rede ist auch vom Tourismus, der aus wirtschaftlichen Überlegungen hochwillkommen ist, aber zugleich die eigenen Grundlagen zu zerstören droht. Da äussert der Hoteldirektor naturgemäss eine andere, fast euphorische Meinung als der Soziologe und Jugendarbeiter. In einem der Videos kommt eine eigenständige Clubkultur Grönlands zur Sprache, und in einem eigenen Raum können die Besucher grönländischen Rap und einheimische Rockmusiker hören. Ihre Musik ist europäisch oder amerikanisch, ihre Texte aber sind grönländisch und sprechen aufbegehrend vom Wunsch nach totaler Unabhängigkeit.
Eine umweltpolitisch engagierte Bäuerin im Süden schildert ein arges Dilemma: Sie weiss genau, dass Eisbären weltweit bedrohte Tiere sind. Die Bären werden aber wegen der Klimaerwärmung immer zahlreicher – und reissen ihr Vieh. Mehr als seltsam sind wir berührt, wenn wir den Inuits beim Training der «Eskimo-Rolle» im ultramodernen Hallenbad in der Hauptstadt Nuuk zusehen. Doch warum sollen sie das nicht tun? Und kurios muten die Aussagen der Betreiber einer Modeboutique in der Hauptstadt Nuuk an: Sie würden alles verkaufen – wenn es nur nicht grönländisch ist: Eine radikale Absage an Souvenirs oder an Disney-Land, als das viele Ausländer Grönland noch immer sehen: Sie fragen dann: «Lebt ihr in Iglus?» oder: «Seid ihr alle Alkoholiker?»
Wer in der Ausstellung «Grönland. Alles wird anders» Vorurteile bestätigt sehen will, kommt nicht auf die Rechnung; wer sich Zeit nimmt und die Videos anschaut, schon eher.
Alpines Museum der Schweiz. Helvetia-Platz, Bern. Bis 16.08.2026.
Das begleitende Magazin (200 Seiten), eine reich bebilderte, phantasievoll gestaltete und betreute Publikation mit zahlreichen vertiefenden Texten kostet 20 Franken.
Grönland, die grösste Insel der Welt, gehört geographisch zum amerikanischen Kontinent. Das Land – rund 2 Millionen Quadratkilometer – ist bis auf die Küstenregionen eisbedeckt. Auf der Insel leben rund 56 000 Einwohner.
Grönland war seit dem 18. Jahrhundert dänische Kolonie. 1953 wurde es dekolonisiert und ins Königreich Dänemark eingegliedert. Ab 1979 ist es autonom und verfügt über ein eigenes Parlament. Die Autonomie wurde 1985 ausgeweitet. Im gleichen Jahr trat es aus der EU aus. Grönland ist finanziell immer noch von Dänemark abhängig. Wichtigste Wirtschaftszweige sind Fischerei und Bergbau. Immer wichtiger wird der Tourismus.
Grönland wurde im 18. Jahrhundert christlich missioniert – vom norwegisch-dänischen Pastor Hans Egede und von Missionaren der Herrnhuter Brüdergemeine.
Da es keine Strassenverbindungen zwischen den meist kleinen Siedlungen gibt, sind Luftverkehr und Küstenschifffahrt die einzigen Verkehrsmittel.