Cédric Wermuth ist seit 2011 für die SP Aargau im Nationalrat. Er ist Mitglied der nationalrätlichen Finanzkommission. In der SP ist er Co-Präsident der Kantonalsektion Aargau, Vize-Präsident der Internationalen Sektion und zuständig für Beziehungen zur Sozialistischen Internationalen. 2008-2011 war er Präsident der JUSO Schweiz. 1986 geboren und im aargauischen Freiamt aufgewachsen, lebt Cédric Wermuth heute in Zofingen.
Journal 21: Cédric Wermuth, was ist ihre Motivation zum Politisieren?
Cédric Wermuth: Ich komme aus einem sehr politischen Elternhaus. Meine politisch ähnlich wie ich gelagerten Eltern haben sich, als ich jung war, vor allem im Asylbereich engagiert. Das hat mich stark geprägt. Ihre Werthaltungen habe ich übernommen. Sie haben mir beigebracht, dass es wichtig ist, sich gegen Ungerechtigkeiten zu wehren. Es gehört zum Erwachsensein, sich politisch zu beteiligen. Erst in der Schule habe ich gemerkt, dass es auch Leute gibt, die sich nicht für Politik interessieren.
Dazu kommt sicher die extravertierte Veranlagung, die Freude daran, sich zu exponieren, an Debatten und intellektuellen Auseinandersetzungen teilzunehmen. Was mich am Politischen reizt, sind die grundsätzlichen Fragestellungen. Politik ist für mich die Frage: Wie wollen wir unsere Gesellschaft organisieren? Da treffe ich auf Systemlogiken und Politiken, die mir extrem widerstreben. Das ist sehr emotional. Die zentrale Triebfeder hat mit Wut zu tun, auch mit Befremden und Trauer, und sie verbinden sich mit der positiven Hoffnung auf Emanzipation.
Sozialismus ist ja historisch immer eine revolutionäre oder oppositionelle Kraft. Er ist gegen Ausbeutung, gegen Unrecht, gegen Krieg. Dieses «Gegen» ist offenbar der Kern Ihres politischen Antriebs.
Die Dogmatisierung des „Wegs zum Paradies“ hat sich als historischer Fehler erwiesen. Das hat mit einer Unterschätzung der Kraft der Negation zu tun: Genau zu wissen, was man nicht will, ist oft schon sehr viel. Man sieht es jetzt in der Flüchtlingskrise: Die Leute sind bewegt vom Nein zum Status quo. Das ist es, was zur politischen Bewegung führt. Es ist im Moment ihrer Entstehung nicht so wichtig, im Detail zu wissen, worin das positive Ziel besteht, welches das genaue Modell der gesuchten Alternative ist. Diese Debatte ist sicher wichtig, doch meine persönliche Triebfeder ist zunächst auch die Negation: die Ablehnung von Ungerechtigkeiten, Ungleichheiten, Elend. Das ist es, was mich emotional trifft; was darauf reagiert, ist dann eine intellektuelle Angelegenheit.
Da Sie jetzt im Nationalrat sind, haben Sie ständig mit Konstruktion von Realitäten zu tun. Sie stehen also vor der Aufgabe, die Opposition zu transformieren in konstruktive Mitarbeit.
Es gibt da eine Mischung. Ich habe mein Mandat nie allein als ein parlamentarisches, sondern im weiteren Sinn als ein öffentliches verstanden. Und da gehört immer die grundsätzliche Debatte dazu, welche die Dekonstruktion der politischen Konstruktionen vorantreibt. Man ist in verschiedenen Arenen – und dann wieder in der Finanzkommission, die sich um die Organisation von Informatikprojekten kümmert. Das ist dann sehr konstruktiv. Mit dieser Spannung muss man klarkommen. Mein Herz ist beim Grundsätzlichen, aber das oft mühsame politische Handwerk gehört halt auch dazu.
Gibt es Ziele, die Sie im politischen Betrieb erreichen wollen?
Was mich am meisten umtreibt, ist die Frage der Ungleichheit, sowohl der politischen – z.B. das Ausländerstimmrecht – wie der ökonomischen. Da hoffe ich, am Ende meiner parlamentarischen Tätigkeit dereinst sagen zu können, ich hätte einen Beitrag zu mehr Gleichheit geleistet. Wichtig sind für mich ferner die Rückkehr zu einem solidarischen Asylwesen, also die Zurücknahme der Verhärtungen, sowie die Öffnung der Schweiz zu Europa und zur Welt. Am konkretesten engagiere ich mich zurzeit für die Regulierung des Rohstoffhandels. Ein Punkt hiervon ist die Nachverfolgbarkeit in den Produktionsketten von Gold. Hier habe ich in den letzten vier Jahren einen Schwerpunkt gesetzt. Wenn ich mal abtrete, müssen wir in diesen Fragen einen bedeutenden Schritt weiter sein; sonst wäre dieses Engagement verpufft.
Schweizerische Politik ist enorm langsam, und sie bringt nie grosse Würfe hervor. Das muss für Sie als junger linker Politiker qualvoll sein! Fühlen Sie sich als Nationalrat nicht manchmal im falschen Film?
Oh doch! Manchmal ohnmächtig, manchmal im falschen Film. Ich bin immer wieder an den Punkt gestossen, wo ich mich fragen muss, was ich eigentlich hier „in Bern oben“ mache. Was wir seinerzeit als Jungsozialisten der SP vorgeworfen haben, stimmt durchaus: Man ist schnell im Hamsterrad des parlamentarischen Klein-Klein.
Ich habe Unmengen Zeit verbracht mit dem Informatikskandal «Insieme». Für die Bundesverwaltung war das sicher wichtig, aber die Welt haben wir nicht verändert. Man ist monatelang fast ausschliesslich mit so etwas beschäftigt, das dann erst noch langsam vorangeht. Daran verzweifle ich manchmal fast. Gewählt wird man ja mit dem hohen Anspruch, mit der scheinbaren Macht etwas Bedeutungsvolles zu machen. Doch im Rückblick auf meine ersten vier Jahre im Parlament fühlte ich mich oft sehr machtlos. Da stellt sich immer wieder die Frage, ob es nicht andere Formen des Wirkens gäbe, die effektiver sind. Würde es zum Beispiel in der Flüchtlingskrise nicht mehr bringen, vor Ort selber konkrete Hilfe zu leisten?
Offenbar ziehen Sie bei allen Zweifeln dann doch den Schluss, das Engagement im politischen System sei wichtig genug, um dabeizubleiben.
Das ist die positive Lesart; die negative wäre, dass ich vielleicht nichts anderes könnte (lacht). Ich glaube, es gibt hier eine Arbeitsteilung. Die Kritik am Parlamentarismus im real existierenden Kapitalismus kann ich sehr gut nachvollziehen, aber die parlamentarische Arbeit bietet auch Chancen, die nicht zu nutzen fatal wäre. Manchmal sind es kleine Schritte. So habe ich nach vier Jahren zum Beispiel erreicht, dass die Goldhandelsstatistik jetzt offengelegt wird. Solche Dinge zeigen, dass sich der Einsatz im Parlament eben doch lohnt. – Aber fragen Sie mich dann hierzu am Ende meiner Karriere nochmals (lacht).
Die Begriffe Sozialdemokratie und Sozialismus stehen für zwei zwar verwandte, aber doch unterschiedliche politische Kulturen. Welcher fühlen Sie sich stärker zugehörig?
Das ist eine komplizierte Diskussion auch in der Partei. In der Romandie heisst sie ja «Parti socialiste», italienisch «Partito socialista». Im lateinischen Sprachraum ist «Sozialdemokratie» parteiintern ein Schimpfwort. Damit bezeichnet man die sozial-neoliberale Schröder-Blair-Linie oder die Cüpli-Sozialisten. In der Deutschschweiz hat sie eine andere Konnotation. Ich mache die Trennung nicht. Sozialdemokratie ist für mich die Partei des demokratischen Sozialismus. Ich bezeichne mich als Sozialdemokraten. Die historischen Errungenschaften dieser Partei ringen mir – bei all ihren Fehlern – derart viel Respekt ab, dass ich mich gern in dieser Tradition einreihe. Bei den Jungsozialisten war das immer eine epische Debatte. Ich finde das heute nicht mehr so relevant.
Die Schweiz ist immer öfter in einem Zustand der politischen Blockade. Schuld daran sind aus Sicht der Beteiligten immer die anderen.
Das ist auch so (lacht)!
Die SP wird als «Pol-Partei» bezeichnet und für diese Misere mitverantwortlich gemacht.
Was heisst schon Pol? Zu sagen, wo Pol und wo Mitte ist, das ist immer schon eine Konstruktion. Ich fühle mich sehr eingemittet, in der Mitte einer rationalen Vorstellung von gesellschaftlicher Organisation. Ich halte mich nicht für wahnsinnig radikal. Dieses Land ist seit mindestens zwanzig Jahren in einer Sinnkrise. Die Insel der Glückseligen bricht stückweise weg: Ende der Hochkonjunktur, Arbeitslosigkeit, UBS, Swissair, Bankgeheimnis. Plötzlich erlebt die Schweiz unter dem Druck des Neoliberalismus soziale Kälte. Wir wissen nicht mehr, was wir sind in der Welt. Das zeigt das ewige Ringen mit der EU. Genau betrachtet ringen ja eigentlich nur wir mit uns selber, nicht die EU.
Diese Suche nach einer Identität des Landes in der Welt ist nicht negativ. Wir leben in einer unheimlich interessanten Zeit. Meine Vorgängergeneration führte dreissig Jahre lang einen aussichtslosen Kampf gegen das Bankgeheimnis. Jetzt fällt dieses Ding, und wir haben die Chance, etwas Neues zu konstruieren. Dreissig Jahre dauerte der Kampf für die Mitgliedschaft in der Uno. Heute können wir uns der Frage zuwenden, wo der Platz der Schweiz in Europa ist, wie die institutionelle Angliederung an die EU aussehen soll.
Tatsächlich führt dies zu eine politischen Blockade. Ich finde das kein Unglück, denn es zwingt die politischen Akteure zu grundsätzlichen Überlegungen, wohin man mit diesem Land will. Leider hat man bei der politischen „Mitte“ in den letzten vier Jahren einen Rechtsrutsch gesehen, der zu politischem Isolationismus führt. Wie man aus der Blockade hinauskommt, kann ich nicht sagen. Am Ende des Tages müssen wir versuchen, die Mehrheiten zu kehren.
Ich bin in Bern diesbezüglich ziemlich enttäuscht worden von der CVP und Teilen der GLP. Martin Landolt von der BDP ist einer der ersten, der begriffen hat, dass es so etwas wie eine bürgerliche Vernunft braucht, wie er das nennt. Also einen Schritt hin zum Kompromiss in sozialen Fragen, in der Migrationspolitik und eine Ent-Dogmatisierung der Europapolitik. Dann gibt es eine Perspektive für unser Land, doch diese Erkenntnis ist in bürgerlichen Kreisen noch nicht recht angekommen.
Sie erkennen in der Blockade Chancen einer vermehrten Beschäftigung mit Grundsatzfragen. Wo sehen Sie das?
Schon die Zahl der Volksinitiativen stellt die Legitimation der parlamentarischen Arbeit in Frage. Es gibt ein grosses Misstrauen gegen das System, in dem wir leben. Eine Politik, die es geschafft hat, acht Jahre nach der Finanzkrise wieder auf einen Kurs des Business as usual einzuschwenken, verdient tatsächlich kein Vertrauen. Ich halte diese Politik vielmehr für dramatisch gefährlich. Im besten Fall führt sie zu Abstinenz, im schlechtesten zu den nationalistischen Tendenzen, die wir in Europa überall sehen.
Die Hoffnung jedoch ist, dass linke Gegenbewegungen gestärkt werden. Podemos in Spanien, Corbyn in Grossbritannien, Sanders in den USA, Syriza in Griechenland sind Ausdruck davon. Plötzlich werden wieder Ideen denkbar, die bis vor zehn Jahren als politische Utopien abgetan wurden. Jetzt gelangen sie in den Bereich der politischen Macht. Schaut man die Volksinitiativen inhaltlich an, so zeigt sich vielfach grundsätzliche Kritik. Selbst die Masseneinwanderungsinitiative war letztendlich eine Infragestellung des ökonomisches Modells, ein Stopp der Integration der Schweiz in die globalisierte Welt. Solche Momente sind auch Chancen für eine neue Orientierung. Erst recht stellen solche Fragen die Initiativen zu einem bedingungslosen Grundeinkommen, 1:12, Spekulationsstopp, Vollgeld etc. Sie bringen Utopien aufs Tapet, die vor zehn Jahren noch nicht diskutierbar waren.
Prononciert linke Politik, auch wenn sie da und dort ein Revival erfährt, ist im Schweizer Politsystem nicht so recht zuhause – halt so, wie auch Utopien immer fremd sind in der Welt der Realitäten und Sachzwänge.
Was sagen Sie zur Gegenthese: Die Geschichte dieses Landes nach der liberalen Gründung von 1848 basiert auf der Verfassung der direkten Demokratie, der Einführung der AHV, dem freien Stimmrecht, dem Aufbau des Sozialstaats, der starken Zivilgesellschaft, der Entwicklung der Gesamtarbeitsverträge, des starken Service public mit der Swisscom, der Post und der SBB, der öffentlichen und genossenschaftlichen Organisation der zentralen Lebensbereiche wie Energie-, Wasser-, und Gesundheitsversorgung oder der Bildung. Das sind sozialdemokratische Errungenschaften – wenn auch mit bürgerlicher Unterstützung.
Systemfremd ist doch vielmehr der neoliberale Gedanke, der seit zehn Jahren versucht, diese Errungenschaften anzugreifen. Nehmen Sie die Alters- und Arbeitslosenversicherung: Überall in Europa wurden diese Versicherungen substantiell abgebaut, in der Schweiz scheiterten die Angriffe bisher fast alle. Das gleiche gilt für die Privatisierung der Post, der Bahn und der Stromproduzenten. Diese starken, öffentlichen Strukturen sind der Hauptgrund, weshalb die Schweiz von der Krise weniger betroffen ist als andere Länder. Fremd und fehl am Platz ist nicht die Sozialdemokratie, sondern die bürgerliche Rechte.
Sie beschreiben die spiegelbildliche Sicht zur gängigen Auffassung.
Recht haben Sie hingegen mit der Feststellung, dass die Sozialdemokratie im Kapitalismus immer etwas systemfremd ist. Sie steht im dauernden Zwiespalt zwischen konstruktiver Beteiligung und radikalem Bruch. Diese linke Fremdheit gibt es auch gegenüber dem Nationalstaat. Als Politiker bin ich da oft im Dilemma. Bei der Unternehmenssteuerreform III ist es aus linker Sicht einerseits klar, dass die Schweiz nicht das Steuersubstrat anderer Länder schädigen darf; andererseits kann die fällige Reform im Land Arbeitsplätze kosten. Es gibt keine goldene Regel zur Auflösung des Konflikts.
Die Sozialdemokratie hat das sozialistische Feuer domestiziert und sich in die Parteiendemokratie integriert. Aber es haftet der SP etwas Doppeldeutiges an zwischen Bodenständigkeit und Revoluzzertum. – Ein Nachteil? Oder vielleicht auch ein Vorteil?
Ich glaube, es ist ein Vorteil, eigentlich sogar der Existenzgrund der Sozialdemokratie. Was seit 150 Jahren die Leute zu dieser Parteienfamilie bringt, ist die fundamentale Überzeugung, dass man die Gesellschaft anders organisieren kann. Der Glaube an Freiheit, Gleichheit, Solidarität speist sich immer aus einem Hoffnungsüberschuss. Nachher muss er sich dann messen lassen an dem, was realpolitisch erreichbar ist.
Ich engagiere mich aufgrund dieser Hoffnung, bin dann aber bereit, bei der Realisierung Kompromisse zu schliessen. Doch ohne das Element der Utopie wäre die Sozialdemokratie nicht möglich. Ich wehre mich aus diesem Grund gegen die Trennung zwischen Realos und Utopisten. Beide Haltungen sind Teil einer politischen Logik, die ohne Vision in der politischen Tagesarbeit nicht funktionieren würde. Ohne Vision fehlt die Richtung, und ohne realen Erfolg fehlt die breite Unterstützung der Bewegung.
Als Theorie leuchtet das ein, doch in der Praxis haben Sie damit ja auch parteiintern immer wieder Schwierigkeiten.
Selbstverständlich. Schauen Sie die Reform der Altersvorsorge an. Wenn sie so durchkommt, wie vorgesehen – was machen wir dann? Eigentlich möchten wir ja viel weiter gehen in Richtung eines Einsäulen-Systems. Oder die Armee: Soll man sie für sinnvolle Dinge einsetzen, wenn man sie doch lieber abschaffen möchte? Akzeptieren wir die vom Denkansatz und der politischen Konstruktion her falsche Asylgesetzrevision, weil sie im Moment wahrscheinlich einzelne Verbesserungen bringt? – Es gibt nicht immer die ganz klare Antwort. Mit solchen Zwiespältigkeiten kämpfe ich immer wieder.
Sie schildern, wie die SP eingebunden ist in die Kompromiss- und Konkordanzpolitik. Ist das aus linker Sicht eigentlich gut? Oder müsste die Partei stärker Opposition sein?
Die SP hat in den Jahren um Christian Levrat grosse Schritt gemacht in Richtung von mehr Opposition und der Arbeit an Entwürfen für eine alternative Gesellschaft. Levrat ist diesbezüglich immer noch ein Glücksfall für uns. 1:12 war so ein Versuch, den er und die SP stark unterstützt haben. Es braucht beides. Bei den JUSO führt man die Debatte über den Austritt aus dem Bundesrat alle paar Jahre.
Ich glaube inzwischen, dass diese Diskussion nicht zentral ist, meine aber auch, dass der Austritt aus der Regierung falsch wäre. Fundamentalopposition in einem System, das von 95 Prozent der Leute für legitim gehalten wird, ist wenig erfolgversprechend. Der Mittelweg zwischen Opposition und Beteiligung ist unumgänglich. Gerade die Reform der Altersvorsorge ist das Beispiel, dass es einen Unterschied macht, ob Pascal Couchepin oder Alain Berset in diesem Departement sitzt. Unsere Anhänger erwarten die Regierungsverantwortung der SP. Sie erwarten, dass wir nicht immer einfach auf das Paradies von morgen verweisen, sondern diese Möglichkeiten zur Verbesserungen ihrer Lebensrealitäten nutzen. Und diese Erwartung ist völlig berechtigt.
Konkrete Veränderung ist das Stichwort. Welche linken Postulate sind im nächsten Jahrzehnt mehrheitsfähig?
Wenn ich das wüsste! Die grösste Hoffnung setze ich in die Kritik an der Verteilungsungerechtigkeit. Hier hat sich der breiteste Stimmungsumschwung abgespielt, sodass Postulate, die diesen Bereich betreffen, Mehrheiten bekommen können – zum Beispiel auch bei der Reform der Altersvorsorge. Der zweite mehrheitsfähige Punkt ist sicher Atomausstieg und die Energiewende.
Chancen sehe ich ferner bei Schritten zur europapolitischen Integration der Schweiz. Da war der 9. Februar wohl heilsam, weil er ein Tabu durchbrochen und so politische Diskussionen sogar über den Beitritt wieder möglich gemacht hat. Auch gesellschaftspolitisch sind wir beweglicher geworden, etwa bei der rechtlichen Stellung der Homosexuellen oder beim Vaterschaftsurlaub. Da gibt es eine neue Dynamik, die ich hoffnungsvoll finde.
Welche Postulate werden in mittlerer Frist nicht realisierbar sein und müssen aus Ihrer Sicht trotzdem weiterverfolgt werden?
Skeptisch bin ich, ob wir neue Mehrheiten für die für ein liberaleres Migrationsrecht und ein humanitäres Asylrecht finden. Da stehen wir mit den Grünen zur Zeit ganz alleine. Zum Beispiel auch, wenn es um das Ausländerstimmrecht oder um erleichterte Einbürgerungen geht. Obwohl die Realität völlig absurd ist: Eine Demokratie funktioniert nicht, wenn 25 Prozent der Menschen keine politischen Rechte haben. Aber da ist der Widerstand enorm gross. Trotzdem, diese Postulate müssen auf jeden Fall weiter vorangetrieben werden.
Cédric Wermuth, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Das Interview mit Cédric Wermuth führte Urs Meier am 16. September im Bundeshaus.