Laut Altbundesrat Ueli Maurer ist die Freiheit in der Schweiz in Gefahr. Immer weniger getrauten sich die Bürgerinnen und Bürger, ihre Meinungen offen zu sagen, behauptet er in einem ganzseitigen NZZ-Inserat. Maurer selber traut sich dennoch, seine Ansichten zu verkünden. Und scheut nicht davor zurück, sich zu demagogischen Verdrehungen und Unwahrheiten zu versteigen.
Ueli Maurer hat’s nicht leicht. Nach 14 Jahren im Bundesrat hätte er es eigentlich verdient, einen sorgenfreien Ruhestand zu geniessen, als er sich vor gut zwei Jahren aus der Regierung verabschiedete. Doch dieser Genuss ist ihm nicht vergönnt. Denn in unserem Land sei «die Freiheit in Gefahr» und davor muss der Altbundesrat seine Mitbürger dringend warnen. Er tut das in einem ganzseitigen Inserat, das die sich als hochpatriotisch verstehende Postille «Schweizerzeit» vor kurzem in der NZZ veröffentlichte. Billig ist das nicht. Laut der «Sonntagszeitung» kostet ein solches Inserat 18’000 Franken. Möglicherweise hat sich die «Schweizerzeit» dabei vom Reklamestil des politisch ähnlich tickenden Weltwoche-Chefs Roger Köppel inspirieren lassen, der seine globalen Erleuchtungen gelegentlich ebenfalls als bezahlte Anzeige in dem Zürcher Blatt verbreitet.
Welche Medien sind gemeint?
Ueli Maurer klärt uns in seinem Text auf, weshalb heutzutage die «Meinungs- und Redefreiheit torpediert» wird, auch in der Schweiz. Weil «eine neue Tendenz» sich verschärfe: «Politik und Medien, aber auch Teile der Gesellschaft moralisieren.» Diese Kräfte unterteilten in Gut und Böse. Wer kritische Fragen stelle, werde «aussortiert, an den Pranger gestellt».
Hier wüsste man gerne, was und wen denn Maurer genauer meint mit den pauschalen Begriffen Medien, Politik und Teile der Gesellschaft. Gehört seine SVP nicht auch zur Politik, wo moralisiert wird? Und spricht er mit seiner Kritik an den Medien, die angeblich so willkürlich in Gut und Böse unterteilen, auch von den Blocher-Medien, die der SVP-Übervater zu Dutzenden aufgekauft hat? Oder von der einst liberalen «Weltwoche», die sein Parteifreund Köppel zu einem Putinisten-Blatt umfunktioniert hat? Meint er mit seiner generellen Medien-Dämonisierung eventuell auch die bürgerliche NZZ, in der sein Text veröffentlicht wird, die aber politisch öfter nicht am gleichen Strick wie die Partei des Altbundesrats zieht? Antworten auf solche Fragen sind in Maurers Alarmbotschaft nicht zu finden.
Stasi-Renaissance in Deutschland
Dafür informiert er uns, wo die Rede- und Freiheit noch schlimmer bedroht und eingeschränkt wird als in der Eidgenossenschaft. Nämlich bei «unserem nördlichen Nachbarn». Wen er meint, ist klar: In Deutschland nähere man sich einem «totalitären Regime», weil dort über ein mögliches Verbot der rechtsautoritären AfD-diskutiert wird, die eine andere Meinung vertrete. Vorläufig wird in der Bundesrepublik aber nur über diese Frage debattiert, nichts ist entschieden. Man kann die Möglichkeit eines solchen Verbotes mit guten Gründen für falsch halten. Um der Wahrheit willen wäre dann aber auch zu erwähnen, weshalb man in Deutschland aus naheliegenden historischen Gründen solche juristischen Schritte gegen Parteien mit extremistischen Tendenzen überhaupt in Betracht zieht.
Maurer aber interessieren solche Differenzierungen nicht. Für ihn ist klar: «Eigentlich müsse man mit Blick auf Deutschland von Stasi 2.0 sprechen.» Das heisst, zwischen der demokratisch verfassten Bundesrepublik und der untergegangenen, totalitär regierten kommunistischen DDR gibt es keinen Unterschied mehr. Punkt. Dass im Februar in Deutschland wiederum freie Wahlen stattfinden und die AfD, um die sich der Altbundesrat so viel Sorgen macht, dabei zur zweit- oder drittstärksten Partei avancieren könnte, wird souverän ausgeblendet.
Das wehrlose Schweizer Volk und die Covid-Massnahmen
Ebenso einseitig Wahrheiten unterschlagend argumentiert der Freiheitsprediger Maurer bei seinem Rückblick auf die Corona-Debatte in der Schweiz, während der er noch selber im Bundesrat sass. Damals, so behauptet er kühn, «musste bedingungslos geglaubt werden, was durch Behörden und Medien verbreitet wurde». Offenbar hat Maurer damals keine Zeitungen gelesen, überhaupt keine Medien konsultiert und total vergessen, wie im Parlament und in unzähligen Regierungs- und Fachgremien über die Massnahmen zur Bekämpfung der gefährlichen Covid-Epidemie diskutiert und gestritten wurde. Er unterstellt in seinem Pamphlet, dass die Covid-Massnahmen dem wehrlosen Volk in totalitärer Manier aufgezwungen worden seien.
Diese bewusst völlig verzerrte Darstellung läuft auf eine platte Lüge hinaus. In Tat und Wahrheit haben die Schweizer Bürger in nicht weniger als drei Volksabstimmungen über die Covid-Massnahmen der Regierung abgestimmt. In jeder dieser nach demokratischen Verfassungsregeln gefällten Entscheidungen wurde die Massnahmen mit klarer Mehrheit legitimiert: Im Juni 2021 mit 60 Prozent Ja. Im November 2021 mit 62 Prozent Ja und im Juni 2023 mit 61,9 Prozent Ja-Stimmen. Zudem sind die Covid-Massnahmen auch in beiden Kammern des Bundesparlaments intensiv debattiert und durch Mehrheitsentscheidungen bestätigt worden. In welchem andern Land der Welt hat das Volk während der Covid-Krise so viel und so oft über die Strategien zur Bekämpfung der Epidemie mitreden und mitentscheiden können? Solche Fragen sind Maurer keine Zeile wert.
Vortrags- und Festredner trotz angeblicher Freiheitsbedrohung
Gewiss ist es das Recht auch eines Altbundesrates, nach dem Rückzug aus der Landesregierung weiter in der politischen Arena mit kämpferischen Meinungen mitzumischen. Aber ein Minimum an Wahrheitsgehalt, Differenzierung und Respekt für andere Standpunkte bei umstrittenen Themen würde einem pensionierten Magistraten, der 14 Jahre lang mit an den obersten Schalthebeln der Regierung sass, besser anstehen.
Maurers gleichzeitig polemisch und larmoyant artikuliertes Traktat über die angeblich eingeschränkte Meinungs- und Redefreiheit in der Schweiz wird schliesslich durch seine eigenen Auftritte widerlegt. Offenbar glaubt er persönlich durchaus daran, dass diese Redefreiheit in unseren Breitengraden noch eine geraume Weile funktionieren wird. Sonst würde er sich nicht im Internet über eine Agentur namens Premium Speakers als Vortrags- und Festredner empfehlen lassen.