Griechen und Armenier haben eine gemeinsame leidvolle Geschichte. Während die Griechen immerhin in der EU integriert sind, drohen die Armenier einmal mehr vergessen zu werden. Sie sind heute bedroht von Aserbaidschan, das von der Türkei unterstützt wird.
Ein kleines Theater in Athen, ein Stück über Pontosgriechen. Pontos (altgriechisch Πόντος, Meer) meint das Schwarze Meer und die Griechen, die seit dem Altertum an seinen Küsten siedeln. Der Völkermord an den Pontosgriechen im ottomanischen Reich nach dem Ersten Weltkrieg ist weniger bekannt und deutlich weniger erforscht als die Vernichtung der Armenier und die Vernichtung oder Vertreibung aller Griechen aus dem bis 1922 mehrheitlich von Griechen bewohnten Smyrna (heute Izmir).
Die Geschichte, von einer einzelnen Schauspielerin dargestellt, erzählt von einer pontosgriechischen Familie und einem armenischen Kind. Die Wirren der Vertreibung führen sie zusammen. Was diese Menschen durchmachten, ist unvorstellbar und im Theater schwer zu ertragen. Aber in der DNA der Griechen und der Armenier sitzen diese Geschichten tief drin. Jede Familie hat etwas zu erzählen von Vertreibung, Mord, Entwurzelung, Verrat, aber auch von übermenschlichem Mut und Durchhaltewillen.
Vernichtete und vertriebene Griechen
Die vertriebenen Griechen hatten nach dem Ersten Weltkrieg ein Mutterland: Die überlebenden Pontosgriechen vom Südufer des Schwarzen Meeres fanden eine neue Heimstätte in Griechenland und mussten ihre alte Heimat verlassen mit dem, was sie auf dem Leibe trugen. Wer nicht flüchtete, wurde zwangsassimiliert. Der pontosgriechische Dialekt – ein dem Altgriechischen ähnliche Variante – ist heute in der Türkei fast ausgestorben. Was das Schicksal der Griechen vom Nordufer des Schwarzen Meeres ist, wird sich zeigen. Mariupol (griechisch Μαριούπολη) wies noch vor einem guten Jahr einen hohen griechischen Bevölkerungsanteil aus. Jetzt ist die Stadt zerbombt und die Bevölkerung vertrieben. Wird von den seit der Antike am Schwarzen Meer siedelnden Pontosgriechen überhaupt noch etwas übrigbleiben?
Der Vertrag von Lausanne bot den Griechen auf Imbros und Tenedos sowie den damals noch zahlreichen Konstantinopler Griechen einen gewissen Schutz. Trotzdem wurden auch diese Menschen über Jahrzehnte langsam, aber stetig und planmässig von der seit der Antike angestammten Scholle vertrieben. Bis auf kleine Restbestände in Istanbul und auf der Ägäisinsel Imbros leben heute keine Griechen mehr in der Türkei. Zaghafte Verbesserungen unter Erdogan führten dazu, dass die Zahl der Griechen auf Imbros wieder steigt. Am Gesamtbild ändert das aber nichts.
Dass die Vergangenheit unbewältigt ist, zeigt sich am besten darin, dass der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan laufend mit dem Säbel rasselt: «Wir können plötzlich mitten in der Nacht kommen!» Er hat diesen Satz mehrfach benutzt vor dem Einmarsch in Nordsyrien und im Nordirak. Die Formulierung stammt aus dem Jahr 1974, als die Türkei den Norden Zyperns besetzte, den sie seither besetzt hält. Als ein Journalist neulich den türkischen Präsidenten fragte, ob damit ein Angriff auf Griechenland gemeint sei, bestätigte dieser das ganz offiziell.
In jüngster Zeit geht es den Türken nicht mehr nur um Hoheitsrechte in der Ostägäis, sondern Ankara stellt mittlerweile auch die griechische Hoheit über ostägäische Inseln wie Lesbos, Samos, Rhodos oder Kos in Frage. Beobachter denken, dass die Türkei versuchen könnte, gegen einzelne griechische Inseln eine Seeblockade zu verhängen. Ein solcher Schritt könnte innerhalb von Stunden zu einem offenen Krieg eskalieren.
Die Nato verhält sich offiziell neutral, insbesondere Generalsekretär Stoltenberg vermeidet jegliche Stellungnahme. Aber innerhalb des Bündnisses wächst die Ungeduld. Die Türkei blockiert auch die Aufnahme von Schweden und Finnland. Klar auf die Seite Griechenlands stellt sich Frankreich. Beide Länder haben im letzten Jahr ein bilaterales Verteidigungsabkommen geschlossen, das zu Beistand verpflichtet. Paradoxerweise ist es gerade das Erdbeben in der Türkei und Syrien, das nicht nur grosses Leid über die Bevölkerung gebracht hat, sondern auch eine direkte kriegerische Auseinandersetzung in der kurzen Frist unwahrscheinlich erscheinen lässt: Die Griechen waren unter den Ersten, die halfen, und die beiden Aussenminister liessen sich auf gemeinsamer Besichtigungstour ablichten.
Vernichtete und vertriebene Armenier
Das Schicksal der Armenier war noch härter: Nach dem Völkermord im Ersten Weltkrieg sah der Vertrag von Sèvres vor, dass das ganze seit alters her armenisch besiedelte Gebiet in Ostanatolien zum armenischen Staat geschlagen würde. Der auf den Ersten Weltkrieg folgende griechisch-türkische Krieg machte den für Griechen und Armenier enorm vorteilhaften Vertrag von Sèvres zum toten Buchstaben. Der Vertrag von Lausanne 1923 legitimierte die Vertreibung und Entwurzelung von Griechen.
Allerdings war das Ziel des Bevölkerungsaustausches, die durch Minderheiten ausgelösten Spannungen zu vermindern, indem man kompakte Nationalstaaten schuf. Welch eine Fehleinschätzung! Dieses Präjudiz lud erstens geradezu zur Wiederholung ein. Zweitens hat sich in den letzten hundert Jahren gezeigt, dass gerade dieser Vertrag und seine Vorgeschichte enorme Wunden aufgerissen haben, die heute noch schwären. Und ein gutnachbarliches Verhältnis ist auch nur dann möglich, wenn beide Seiten guten Willens sind, vergangenes Unrecht anzuerkennen und Kompromisse zu schliessen.
Der Genozid und dessen Leugnung bis auf den heutigen Tag durch die Türkei sind das Trauma aller auf der ganzen Welt verstreuten Armenier. Genauso geht es auch den Pontosgriechen und den Griechen aus Smyrna und dessen Umgebung. Es gibt keine armenische Familie, die nicht Opfer zu beklagen hätte. Das Scheitern des Vertrages von Sèvres trieb die verbleibenden Armenier Russland in die Arme, denn es gab östlich der Türkei weiterhin geschlossene armenische Siedlungsgebiete.
Rückblende
Das Gebiet im Kaukasus (die Gegend zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer), das heute Armenien und Aserbaidschan bildet, wird seit dem Altertum von Armeniern bewohnt. Armenien ist die erste christliche und eine der ältesten Nationen der Welt. Seit dem 4. Jahrhundert sind die Armenier christianisiert. Die Einwanderung der muslimischen turksprachigen Aseris begann im 11. Jahrhundert. Deren Sprache wird heute als Aserbaidschanisch bezeichnet und ist dem Türkischen verwandt.
Noch im 14. Jahrhundert war die Region überwiegend christlich-armenisch, doch Raubzüge aus Zentralasien führten dazu, dass die Muslime zur Mehrheitsbevölkerung wurden. Baku, schon um das Jahr 500 von armenischen Kirchen geprägt, verfügte noch im 15. Jahrhundert über eine überwiegend christliche Bevölkerung, während die schlecht zugängliche Region Bergkarabach bis heute ihren christlich-armenischen Charakter behalten hat.
Machtpolitisch war die Region lange zwischen Persien, dem Zarenreich und dem osmanischen Reich umstritten. Anfangs des 19. Jahrhunderts obsiegte schliesslich das Zarenreich, was dazu führte, dass Armenier aus Persien wieder ins Zarenreich übersiedelten, während sich Muslime nach Persien begaben. Deshalb waren die Armenier im Armenischen Oblast (das heutige Armenien, Nachitschewan und Igdir, ein Gebiet, das nach dem ersten Weltkrieg von der Türkei erobert wurde und bis dato praktisch geschlossen armenisch war) wieder in der Mehrheit. Auch in grossen Städten, die heute zu Aserbaidschan gehören, gab es einen grossen armenischen Bevölkerungsanteil. Bergkarabach war praktisch geschlossen armenisch.
Der am Ende des Ersten Weltkrieges gegründete armenische Staat war kurzlebig. Die Türkei nahm die einstmals armenischen Siedlungsgebiete, die zum ottomanischen Reich gehört hatten, zurück und tilgte nach dem Genozid praktisch alle kulturellen und religiösen Zeugen armenischer Präsenz in Anatolien. Kirchen wurden geschleift oder zerstört; nur wenige sind übriggeblieben.
Die Gebiete, die zum Zarenreich gehört hatten, wurden nach blutigen Pogromen in Nachitschewan, Baku und Bergkarabach der UdSSR einverleibt. Der Genozid an den Armeniern in der Türkei – ignoriert von den gleichgültigen Grossmächten – sollte der Vergessenheit anheimfallen. Dann kam Franz Werfel.
In seinem voluminösen Jahrhundertroman «Die vierzig Tage des Musa Dagh» setzte der Österreicher dem verzweifelten Kampf der im Ersten Weltkrieg auf verlorenem Posten stehenden Armenier ein Denkmal. Er breitete vor dem Leser ein faszinierendes Panorama der ostchristlichen Kultur aus, das in Westeuropa auch in recht gebildeten Kreisen weitgehend ignoriert wurde und wird. Die Dankbarkeit der Armenier, dass Werfel ihnen seine gewaltige Stimme lieh und den Opfern des ruchlosen Völkermordes zu Unsterblichkeit verhalf, ist bis heute grenzenlos. In vielen armenischen Orten heisst der zentrale Platz «Franz-Werfel-Platz».
Die Armenier in der UdSSR
Die armenischen Siedlungsgebiete, die nach dem Ersten Weltkrieg auf dem Gebiet des ehemaligen Zarenreichs und nunmehr in der Sowjetunion lagen, waren ein Flickenteppich mit vielen Minderheiten und einigen ethnisch homogenen Siedlungsgebieten.
Auf einem der geschlossenen armenischen Siedlungsgebiete entstand zum einen die Armenische Sozialistische Sowjetrepublik mit Hauptstadt Eriwan. Sie entspricht weitgehend den Grenzen des heute international anerkannten Armeniens. Armenien liegt seither wie ein Sperrriegel zwischen der Türkei und ihrem aserischen Brudervolk und blockiert den Türken den Weg nach Zentralasien. Westlich davon, an der Grenze zur Türkei, liegt Nachitschewan, ein Gebiet mit einstmals komplexen ethnischen Verhältnissen. Während des Ersten Weltkriegs bestand die Bevölkerung aus rund 60 Prozent Aseris und 40 Prozent Armeniern, während im späten 19. Jahrhundert ein Gleichgewicht bestanden hatte. Um Atatürk etwas entgegenzukommen, wurde Nachitschewan zur Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik geschlagen und damit zur Enklave, obwohl es im Zarenreich immer zum Oblast Armenien gehört hatte. Auch im übrigen Aserbaidschan gab es bedeutende armenische Minderheiten. Allein in der Hauptstadt Baku lebten zum Beispiel 1979 noch über 200’000 Armenier.
Ein weiteres, praktisch geschlossen armenisches Siedlungsgebiet ist seit alters her Bergkarabach. Dieses Gebiet wurde aber von den Sowjets ebenfalls nicht Armenien zugeschlagen, sondern als autonomer Oblast innerhalb der Aserbaidschanischen SRR mit begrenzter Autonomie versehen.
Nachdem die Präsenz der Armenier in der Türkei ausgelöscht worden war, wurden diese in der Sowjetunion durch die Grenzziehung nach dem Ersten Weltkrieg extrem benachteiligt. Viele Gebiete mit starken Minderheiten kamen zu Aserbaidschan und verblieben dort während der ganzen Sowjetzeit ohne jeden Minderheitenschutz. Sogar der Oblast Bergkarabach, der praktisch geschlossen armenisch war, erhielt lediglich beschränkte Autonomie. So spielten die Sowjets die Völker des Kaukasus gegeneinander aus – teile und herrsche!
Die Folgen davon waren für die Armenier katastrophal, sie machten sich aber erst langfristig bemerkbar. Gehen wir zunächst auf Nachitschewan ein.
Nachitschewan
Noch vor der definitiven Grenzziehung wurden die Armenier Opfer heftiger Pogrome, die die türkische Armee und die Aseris 1919 gemeinsam begangen hatten.
Der armenischen Bevölkerung in dieser Enklave wurde nach dem Ersten Weltkrieg ganz langsam, über Jahrzehnte, durch Schikanen, ökonomischen Druck und Assimilationszwang die Tür gewiesen. In der Sowjetzeit lebten sie praktisch isoliert. Ein Besuch in und von der Armenischen SSR war bewilligungspflichtig und wurde selten und nur für kurze Zeit gewährt. So wurde das Leben der Armenier in der Enklave langsam, aber sicher abgeschnürt. Eine Vertreibung im Zeitlupentempo.
Die reichen kulturellen und religiösen Stätten der Armenier in Nachitschewan wurden zuerst dem Verfall preisgegeben. Nach der Unabhängigkeit Aserbaidschans gab es kein Halten mehr: Sämtliche Kirchen, Friedhöfe und christlichen Kreuze wurden zerstört und dem Erdboden gleichgemacht. Heute ist die offizielle Position Aserbaidschans, dass es in Nachitschewan keine Armenier gibt und nie welche gegeben hat.
Als Beispiel erwähnt seien Dschulfa, armenisch Dschugha, seit dem 5. Jahrhundert bevölkert von armenischen Christen und Muslimen, im Mittelalter ein Handelszentrum, gelegen am Südende von Nachitschewan, unmittelbar an der Grenze zum Iran. Die Stadt geriet zwischen das osmanische Reich und Persien, der Schah liess sie niederbrennen und bot den Armeniern in Isfahan eine neue Heimstätte, wo sie bis heute leben. Zeuge der armenischen Präsenz war der Friedhof, der 2005 zerstört wurde. Die Unesco weigerte sich, auf diese barbarische Zerstörung zu reagieren und der Vorwurf steht im Raum, dass die diskrete, aber wirksame von den Machthabern Aserbaidschans ausgehende «Kaviar-Diplomatie» dabei eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hat.
Nach der Vertreibung die Geschichtsfälschung
Der Armenologe Argam Ayvazyan schaffte es in den Jahren 1964 bis 1987, in Nachitschewan 89 bestehende Kirchen und Kathedralen zu fotografieren und zu dokumentieren, die heute nicht mehr existieren. Er zählte und dokumentierte tausende von Chatschkaren (Kreuzsteine) und schätzt die Zahl der zerstörten Grabsteine auf 22’000. Augenzeugenberichte bestätigen, dass alle verbliebenen Denkmäler durch eine barbarische Zerstörungskampagne zur Auslöschung der armenischen Kultur in der Region bis zum Jahr 2008 zerstört wurden.
Argam Ayvazyan, geboren 1947 in Nachitschewan, arbeitete bei der Denkmalschutzbehörde der Armenischen SSR in Eriwan und ist heute leitender Forscher am dortigen Institut für Archäologie und Ethnographie.
Im Jahre 1965 konnte Ayvazyan wieder für kurze Zeit nach Nachitschwan reisen. Er fotografierte Kirchen, Inschriften und Chatschkare. Von aserischen Dorfbewohnern der Polizei gemeldet, wurde er festgenommen. Auf dem Posten wurde er von einem hochgewachsenen Mann befragt. «Das war das erste Mal. Geh, und mach nie wieder so etwas. Vergiss, dass es in Nachitschewan irgendwelche armenischen Denkmäler gibt», sagte der Mann. Es war Heydar Aliyev, der Chef des KGB in Nachitschewan. Dieser wurde später erster Sekretär der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik, danach Präsident des unabhängigen Aserbaidschans. Er ist der Vater des heutigen Präsidenten Ilham Aliyev.
Baku und Bergkarabach
Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb in Baku der multiethnische Charakter der Stadt zunächst erhalten. Während in Bergkarabach die Armenier unter sich blieben und praktisch ausschliesslich Endogamie (Heirat unter sich) praktizierten, gab es in Baku gemischte Ehen und ein friedliches Nebeneinander. Auch andere aserische Städte verfügten zu Sowjetzeiten über starke armenische Minderheiten, aber auch in Eriwan gab es umgekehrt einen gewissen aserischen Bevölkerungsanteil. In Bergkarabach, die Region wurde von Aserbeidschan jahrzehntelang ökonomisch vernachlässigt, lebte nur in der Stadt Schuschi eine nennenswerte aserische Minderheit.
Die Beziehungen der Aseris und der Armenier waren immer gespannt und einmal mehr, einmal weniger konfliktbeladen. Die Pogrome am Ende des Ersten Weltkrieges waren nicht vergessen. Die Armenier von Bergkarabach verlangten seit den Sechzigerjahren erfolglos in mehreren Memoranden den Anschluss an die Armenische SSR. Als Gorbatschow in Moskau Parteichef wurde, flackerten diese Konflikte wieder auf. In Sumgait, Kirowabad (heute: Gəncə) und in der Hauptstadt Baku wiederholte sich das, was 70 Jahre vorher passiert war: Es kam zu heftigen antiarmenischen Pogromen, denen mehrere hundert Armenier zum Opfer fielen.
Die Armenier in Aserbaidschan hatten verstanden: Von der Weltgemeinschaft weitgehend ignoriert, begannen sie Ende 1988 aus dem nördlichen Teil von Bergkarabach ins armenischen Kernland zu flüchten und nach den Pogromen in Baku flohen etwa 300’000 Armenier, während circa 200’000 Aseris aus Armenien nach Aserbeidschan flüchteten.
«Both-sideism» – der Westen nimmt Partei für Aserbaidschan
Der Sowjetunion gelang es nicht mehr, die Situation zu bereinigen. Es begannen Kampfhandlungen zwischen bewaffneten Einheiten Aserbaidschans auf der einen und Armeniern – aus der gleichnamigen Sowjetrepublik und Bergkarabach – auf der anderen Seite. Die Moskauer Zentralgewalt, die Truppen schickte, konnte den Konflikt bestenfalls zeitweise eindämmen. Am 30. August 1991 erklärte sich die Aserbaidschanische SSR unter dem oben genannten Heydar Aliyev für unabhängig und vollzog ihren Austritt aus der Sowjetunion. Der Autonome Oblast Bergkarabach spaltete sich daraufhin von Aserbeidschan ab und erklärte sich zur Sowjetrepublik innerhalb der damals noch existierenden UdSSR.
Genau hier begann das heute im Westen vorherrschende Narrativ:
- Bergkarabach wird von armenischsstämmigen Christen bewohnt, gehört aber völkerrechtlich zu Aserbaidschan.
- Aserbaidschan wird von der Türkei unterstützt, Armenien von Russland.
Mit diesem Versuch, objektiv zu sein, nimmt der Westen in Tat und Wahrheit Partei für den Aggressor, für Aserbaidschan! Warum?
Am obigen Narrativ ist fast alles falsch, ausser dass Aserbaidschan massiv von der Türkei unterstützt wird. Es handelt sich bei den Bewohnern von Bergkarabach nicht um «Armenischstämmige» sondern um Armenier – dieses Volk mit einem kleinen, ständig bedrohten Staat lebt über die ganze Welt verstreut seit vielen Jahrhunderten seine Sprache, Kultur und Religion. Und die Unterstützung Russlands hält sich in engen Grenzen. Während Aserbaidschan durch sein Öl zu Reichtum gekommen ist und von der Türkei die neusten Waffen erhält, wird Armenien – wenn überhaupt – mit altem russischem Material beliefert und versucht gegenwärtig, alte Kontakte nach Iran zu reaktivieren und zu einigermassen brauchbaren Waffen zu gelangen.
Aber noch wichtiger: Bergkarabach berief sich, als es sich von Aserbaidschan abspaltete, auf das Gesetz der Sowjetunion, das jedem autonomen Gebiet erlaubte, sich von einer ehemaligen Sowjetrepublik zu lösen, wenn diese sich ihrerseits von der Sowjetunion abspaltete.
Das heisst: Die Abspaltung Bergkarabachs von Aserbaidschan war 1991 nicht nur ein verständlicher Schritt, sondern nach dem damals geltenden sowjetischen Recht völlig legal. Wenn unsere Medien schreiben, Bergkarabach gehöre «völkerrechtlich zu Aserbaidschan», so nehmen sie, sei es aus Unwissen, sei es absichtlich, für Aserbaidschan Partei. Wohl ist es richtig, dass selbst Armenien Bergkarabach nicht als Teil seines Staatsgebietes betrachtet und es diplomatisch wie alle anderen Staaten der Welt auch nicht anerkannt hat. Eriwan stellt aber die aserbaidschanischen Ansprüche auf das Gebiet infrage.
Diese Zusammenhänge sind nicht allgemein bekannt. Wikipedia nimmt denn auch im entsprechenden Eintrag nur implizit Bezug darauf und erwähnt, dass beim Abfall Bergkarabachs von Aserbaidschan, als das letztere sich zur Sowjetrepublik erklärte, Formvorschriften nicht eingehalten wurden. Überzeugend ist diese Argumentation nicht.
An der Sicherheitskonferenz in München wurde über eine «regelbasierte» Weltordnung gesprochen. Es ist wahr, dass dem Völkerrecht ein Widerspruch zwischen der Unverletzlichkeit der Grenzen und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker innewohnt. Aber das ist kein Freipass für den Westen, das Völkerrecht so auszulegen, wie es geopolitisch gerade passt.
Die zwei Kriege um Bergkarabach
Zurück zur Geschichte: Die Sowjetunion zerfiel kurz nachdem sich Bergkarabach von Aserbaidschan losgesagt hatte. Damit war auch Armenien unabhängig und der Zwist wurde zum Krieg. Dieser endete 1994 überraschend mit einem klaren Sieg Armeniens, das sich zusätzlich eine Pufferzone aneignete, die weit über das Gebiet des ehemaligen Oblast Bergkarabach hinausreichte. Diese Pufferzone hatte den Sinn, dass Bergkarabach nicht nur über den schmalen und fast nicht zu verteidigenden Latschin-Korridor erreichbar war, sondern dass Armenien und Bergkarabach ein zusammenhängendes Ganzes bilden würden.
Die Besetzung dieser Pufferzone war jedoch widerrechtlich und – auch das muss gesagt werden – es wurden dabei hunderttausende von Aseris vertrieben. Aber der Ausgang des Krieges verlieh der Region ein Vierteljahrhundert Ruhe, und Armenien schien auch keine weiteren expansionistische Absichten, zum Beispiel Richtung Nachitschewan, zu hegen. Der überraschende armenische Erfolg war denn auch eher der Entschlossenheit und Unterstützung durch die Zivilbevölkerung geschuldet und weniger der militärischen Stärke.
Als im Herbst 2020 die Welt mit Corona beschäftigt war, nutzte das durch Öl und Gas wohlhabende und mittlerweile durch die Türkei aufgerüstete Aserbaidschan den unbewachten Moment zu einem vierzigtätigen Angriffskrieg, der nur durch die russische Vermittlung eines demütigenden Waffenstillstandes beendet werden konnte.
Das Resultat: Die aserische Armee, unterstützt von dschihadistischen Söldnern, konnte die ganze Pufferzone zurückerobern und zusätzlich einen Drittel des Kerngebietes von Bergkarabach für sich gewinnen, darunter die strategisch wichtige Stadt Schuschi, die sich in unmittelbarer Nähe zur Gebietshauptstadt Stepanakert befindet. Das Ziel, Bergkarabach vollständig zu kontrollieren, konnte das Aliyev-Regime aber nicht erreichen. Russische Friedenstruppen überwachen diesen brüchigen Waffenstillstand bisher mehr schlecht als recht. Bergkarabach hat seither keine Landverbindung zum armenischen Kernland mehr, wenn man vom schmalen Latschin-Korridor absieht, dessen Status indes auch nicht ganz geklärt ist.
Unnötig zu sagen, dass die Armenier aus den von Aserbaidschan eroberten Gebieten umgehend vertrieben wurden. 161 Klöster und Kirchen sowie etwa 600 Kreuzsteine befinden sich in den von Aserbaidschan eroberten Gebieten – insgesamt 1456 bedrohte Monumente armenischen Ursprungs. Darunter die Kathedrale von Schuschi oder das Kloster von Dadiwank, ein wichtiger armenischer Pilgerort in der ehemaligen Pufferzone, das die russische Friedenstruppe seither mehr schlecht als recht bewacht und vor der Vernichtung bewahrt.
Bei diesem sechswöchigen Krieg konnte sich Aserbaidschan fest auf die Gleichgültigkeit des Westens verlassen, der damit jeden Einfluss im Kaukasus verloren hat. Das dortige Kräfteparallelogramm wird nun bestimmt zwischen der Türkei, Russland und dem Iran. Obwohl der Krieg von beiden Seiten auf brutale Art ausgefochten wurde, gibt es viel mehr Beweise für aserbaidschanische Kriegsverbrechen als für solche von armenischer Seite.
Der Kampf ist nicht vorbei
Dieser zweite Krieg hat die Spannungen aber eher angefacht als beseitigt. Gestritten wird weiterhin über den Latschin-Korridor, über die Ausbeutung von Rohstoffen in Bergkarabach und über einen Transportweg vom aserischen Kerngebiet nach Nachitschewan. Im September 2022 griffen aserische Soldaten erstmals direkt armenisches Kerngebiet an und rückten bis nahe an die touristisch wichtige Stadt Dschermuk vor. Die Idee war vermutlich, westlich bis in die Enklave Nachitschwan vorzudringen und Armenien so in zwei Hälften zu teilen.
Es waren wohl Telefonanrufe aus Washington in Ankara und Baku, die dieses Vorhaben gestoppt haben. Eine kleine EU-Beobachtermission ist alles, was ein erneutes Aufflackern der Kämpfe verhindert. Ein im Internet zirkulierendes Video zeigt, wie aserische Soldaten eine armenische Soldatin auf bestialische Weise foltern und anschliessend ermorden; es stammt aus diesem Angriff.
Im Dezember 2022 versuchte dann Aserbaidschan, Bergkarabach an der empfindlichsten Stelle zu treffen: Unter einem Vorwand blockiert es seit diesem Zeitpunkt den Latschin-Korridor und schnürt damit den Armeniern in Bergkarabach die Lebensader ab. Offensichtliches Ziel ist es, dieses Gebiet zu strangulieren, bis es sich ergibt oder bis Armenien in einem anderen Punkt ein weiteres, demütigendes Zugeständnis macht, zum Beispiel das Einrichten eines exterritorialen Korridors zwischen Aserbaidschan und der Enklave Nachitschewan. Damit wäre der Weg für die Türkei nach Zentralasien frei und es wäre möglich, dass sich ein grosser, von der Türkei geführter, muslimischer Machtblock ergibt, der bis an die Grenzen Chinas reicht. Bisher hält die leidensgewohnte armenische Bevölkerung in Bergkarabach unter schwierigsten Bedingungen durch.
Ein Hoffnungsschimmer für Armenien
Armenien reagierte jüngst mit einem Friedensangebot an Aserbaidschan. Der Entwurf soll den Streit um Bergkarabach beenden, wie der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan mitteilte. Details zum Angebot sind aber nicht bekanntgeworden. Auch eine aserische Reaktion steht noch aus.
Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat Aserbaidschan am 22. Februar aufgefordert, die Blockade des Latschin-Korridors aufzuheben. Aserbaidschan «muss alle ihm zur Verfügung stehenden Massnahmen ergreifen, um den ungehinderten Personen-, Fahrzeug- und Warenverkehr entlang des Latschin-Korridors in beide Richtungen zu gewährleisten», sagte Joan E. Donoghue, Richterin am IGH in Den Haag. Die beiden Streitparteien hatten das Gericht um sein Eingreifen gebeten.
In einem weiteren Punkt wies das Gericht den Antrag Aserbaidschans zurück, Armenien zu verbieten, Antipersonenminen an der Demarkationslinie zu verlegen. «Das Gericht kommt zum Schluss, dass die Voraussetzungen für eine Unterlassungsanordnung nicht erfüllt sind», sagte Donoghue trocken. Baku behauptet, dass Armenien seit dem Abkommen, das den Krieg in der Region 2020 beendete, 2’700 Minen verlegt habe. Die beiden Länder haben den IGH ersucht, superprovisorische Verfügungen zu erlassen, denn es kann Jahre dauern, bis der IGH ein definitives Urteil fällt.
Es ist das erste Mal, dass sich ein internationales Gremium zu diesem Konflikt äussert – klar zugunsten von Armenien. Ob Aserbaidschan sich an die Anordnungen hält oder sie ignoriert, wird sich weisen. Bis dato scheint es aber nicht so zu sein, dass sich Aserbaidschan bewegt.
Westliche Gleichgültigkeit hat Geschichte – und Gründe
Armenien mag zwar immer noch keine lupenreine Demokratie sein, aber das Land hat insbesondere seit dem Amtsantritt von Ministerpräsident Paschinjan auf diesem Gebiet riesige Fortschritte gemacht, wird aber fast komplett alleingelassen. Das vom Westen favorisierte Aserbaidschan hingegen ist eine dynastische Diktatur mit ständigen Menschenrechtsverletzungen und ohne Pressefreiheit. Ein in der Schweiz lebender aserischer Dissident wird auch bei uns ständig bedroht. Um ihn zu schützen, verlangt die Schweiz, dass er sich politischer Äusserungen enthalte.
Was veranlasst den Westen, Alijew gewähren zu lassen, obwohl es sich hier um eine expansionistische Diktatur handelt, die daran ist, einen eigenen Machtblock aufzubauen, der den Westen schwächen würde und das arme, aber demokratische Armenien als einzigen Sperrriegel zwischen der Türkei und Aserbaidschan alleine lässt?
Aserbaidschan ist einer der grossen Gewinner der Entwicklung der letzten Monate. Der Westen lässt den Diktator in Baku nicht zuletzt des Krieges in der Ukraine wegen gewähren. Das Land profitiert von der hohen Nachfrage nach Öl und Gas und geniesst eine noch viel grössere Handlungsfreiheit, seit sich der Westen aufgrund der Sanktionen gegen Russland in Abhängigkeit von Aserbaidschan gebracht hat.
Auch die Türkei hat gewonnen und tritt gegenüber dem Westen (nicht nur gegenüber Griechenland) – höflich ausgedrückt – viel selbstsicherer auf. Denn die Sprengung der North-Stream-Pipelines machte das Land ohne eigenes Zutun zum Verteilzentrum für Erdgas aus dem kaspischen Meer und dem Nahen Osten. Verlierer sind die Republik Armenien, die um ihre Existenz fürchten muss, und die Armenier von Bergkarabach, die in ständiger Angst vor Krieg und Vertreibung leben müssen.
Russland hat im Kaukasus ebenfalls an Einfluss verloren. Die Armee ist in der Ukraine gebunden und Moskau ist politisch geschwächt. Deshalb kann das Land kaum mehr auf einen Ausgleich zwischen den beiden Ländern hinwirken oder wie im Spätherbst 2020 eine Waffenruhe durchsetzen. Präsident Putin muss im Gegenteil zusehen, wie Baku sich durch Gaslieferverträge und ein brüderliches Nahverhältnis zum Nato-Land Türkei ökonomisch und geopolitisch weiter von Russland entfernt.
War können wir tun?
Die westlichen Staaten erklären den russischen Überfall auf die Ukraine als Konflikt zwischen Demokratie und Diktatur. Beim Überfall Aserbaidschans auf Armenien greifen sie auf ein wie oben gezeigt parteiisches und einseitiges Narrativ zurück, das einer expansionistischen Diktatur praktisch Narrenfreiheit verleiht, etwas, das aufgrund von Energieinteressen sowohl die Geopolitik wie sämtliche demokratische Grundsätze zur Seite schiebt. Als Bürger sind wir aber nicht komplett machtlos. Niemand zwingt uns dazu, an einer SOCAR-Tankstelle (oder im Tessin an einer Picadilly-Tankstelle) tanken zu gehen. SOCAR heisst nämlich State Oil Company of Azerbaijan Republic und ist ein aserisches Staatsunternehmen. Es betreibt in der Schweiz über 200 Tankstellen.