Die Vernichtung und Vertreibung der Griechen aus Kleinasien und das Ende der dreitausendjährigen griechischen Besiedelung der kleinasiatischen Küstengebiete jährt sich zum hundertsten Mal – ungesühnt. Stattdessen droht Erdogan mit Eskalation und Krieg.
Am 22. August 1922 verliess ein Boot die kleinasiatische Küste. Das Ziel war die Insel Lesbos. An Bord ein sieben Tage alter Säugling aus der kleinen Stadt Phokaia (griechisch Φώκαια, türkisch Foça) in der Nähe von Smyrna an der kleinasiatischen Küste. Man musste vorsichtig sein, durfte nicht auf sich aufmerksam machen. Die türkischen Truppen rückten vor und sollten am 9. September Smyrna erreichen. Schreit das Kind noch einmal, dann muss es ins Meer geworfen werden, hiess es auf dem Weg zum Hafen unter dem Schutz der Nacht.
Das Mädchen, soeben in der Heimat frühzeitig und notfallmässig getauft durch den später durch die Türken auf bestialische Weise ermordeten Erzbischof Chrisostomos von Smyrna, wurde ruhig und das Boot mit den Smyrnagriechen an Bord erreichte das rettende, griechische Ufer unversehrt. Das Mädchen wuchs in einer ärmlichen Flüchtlingsunterkunft in Athen auf, wurde eine junge Frau und musste im Zweiten Weltkrieg wiederum vor den Schergen Hitlers und vor dem Hunger flüchten. Ich durfte die Frau in den frühen Neunzigerjahren kennenlernen. Ihre Erzählungen zeigten mir bildhaft, wie und warum sich das, was heute als Kleinasiatische Katastrophe bekannt ist, ins kollektive Gedächtnis der Griechinnen und Griechen eingebrannt hat.
Die Ereignisse am Ende des Ersten Weltkriegs prägen nicht nur das kollektive Bewusstsein, sondern belasten auch das bilaterale Verhältnis der beiden Länder bis heute. Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1821 umfasste Griechenland mehr oder weniger den Peloponnes, Attika, Euböa und einen kleinen Teil des Festlandes. Die Grenze war irgendwo in der Mitte Thessaliens. Deshalb entstand die «Megali Idea» (Grosse Idee). Sie bestand aus einer Glorifizierung des und einer Nostalgie für das byzantinische Reich und dem Wunsch, ein neues Griechenland mit Konstantinopel als Hauptstadt zu gründen. Obwohl diese Idee realistischerweise kaum Aussicht auf Umsetzung hatte, wurde sie doch Ende des 19. und anfangs des 20. Jahrhunderts zur Leitschnur der griechischen Aussenpolitik. Je erfolgreicher die griechische Aussenpolitik war, desto zahlreicher wurden die Anhänger der «Megali Idea».
Multikulturelles Smyrna
Zunächst deutete nichts auf eine Katastrophe hin. Die multikulturell geprägte Stadt Smyrna an der kleinasiatischen Küste war anfangs des 20. Jahrhunderts nicht nur Anziehungspunkt für Geschäftsleute und verfolgte Minderheiten, sondern auch für die griechische Mehrheitsbevölkerung sowie für Sepharden oder Armenier. Die Türken hingegen bezeichneten Smyrna als «Stadt der Ungläubigen».
Smyrna war wie andere kleinasiatische Städte wie Milet und Ephesus etwa 1000 v. Chr. von Griechen gegründet worden und geriet dann unter römische, byzantinische, seldschukische und osmanische Oberhoheit. Es handelte sich aber um eine praktisch 3000-jährige ununterbrochene griechische Besiedelung und Präsenz der griechischen Sprache und Kultur an der kleinasiatischen Küste. Im 19. Jahrhundert wurde Smyrna zur führenden Wirtschaftsmetropole Kleinasiens. Im Gefolge dieses Aufstiegs strömten immer mehr Menschen aus westlichen Staaten in die Stadt. So entwickelte sich eine tolerante Atmosphäre. Smyrna war friedlich, prosperierte und war sowohl europäisch wie orientalisch geprägt. In der Architektur dominierte der europäische Einfluss, was man auf alten Fotos sehr gut erkennt.
Die Revolution von 1908 und die Jungtürken
Zunächst hatte auch die Terrorherrschaft des Sultans des ottomanischen Reiches, Abdülhamid II., keine negativen Auswirkungen auf die Stadt. Dieser unterdrückte die aufkommende jungtürkische Bewegung und regierte mit Zensur, Spionage und der Unterdrückung von Oppositionellen. Er ist auch für die ersten Massaker und Pogrome an den Armeniern verantwortlich, im Rahmen derer 1894–1896 bis zu 300’000 Menschen getötet wurden. Abdülhamid – das deklarierte Vorbild des heutigen Präsidenten Erdogan – wurde der «rote (blutige) Sultan», der «grosse Mörder» und der «scheussliche Türke» (the unspeakable Turk) genannt. Seine Aussenpolitik war genauso aggressiv wie die Innenpolitik. Trotzdem verlor das ottomanische Reich sukzessive die meisten europäischen Gebiete. Smyrna blieb aber ein Hafen des Friedens, der Prosperität und des Handels.
Die Revolution von 1908 führte zum Sturz des «Grossen Mörders» und zur Restauration der liberalen Verfassung von 1876. Deshalb blieb es auch in Smyrna friedlich. Die Wiederherstellung der Verfassung wurde anfänglich im multikulturellen Smyrna begrüsst, weil sie ein Versuch war, christliche und andere Minderheiten einzubinden. Es darf nicht vergessen gehen, dass noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa zwanzig Prozent der Gesamtbevölkerung des ottomanischen Reiches aus christlichen Minderheiten bestand.
Dieser Versuch scheiterte aber, einerseits aufgrund von Widerständen aus der türkischen Armee und den ottomanischen Eliten, andererseits weil die Minderheitenvölker gleich die nationale Unabhängigkeit anstrebten. Bereits 1908 hatte Österreich-Ungarn die türkische Schwäche ausgenützt und Bosnien-Herzegowina besetzt.
Auf griechischer Seite war Ministerpräsident Eleftherios Venizelos wichtiger Unterstützer der «Grossen Idee». Es gelang ihm, in den Balkankriegen von 1912 bis 1913 das griechische Territorium beträchtlich auszudehnen. Das ottomanische Reich verlor alle europäischen Provinzen; sogar die Hauptstadt Istanbul war akut bedroht. Nach einem kurzen konservativen Intermezzo übernahmen die Jungtürken wieder die Regierung. Diese hatten sich aber gewandelt, und es setzten sich nationalistische und rassistische Ideen durch. Unter Führung von Enver Pascha und Talât Pascha regierten die Jungtürken mit nahezu diktatorischen Vollmachten. Es war vor allem Enver Pascha, der von einem grosstürkischen Reich träumte, für das Aserbaidschan, Usbekistan, Turkmenistan und Teile Chinas vorgesehen waren.
Wendepunkt: Der Erste Weltkrieg
Der Erste Weltkrieg führte schliesslich dazu, dass die Türkei durch Völkermord, Pogrome und Vertreibungen von einem Vielvölkerstaat zu einem ethnisch praktisch homogenen Land wurde, das mit vielen seiner Nachbarn permanent im Streit liegt und diesen alle Schuld für die bilateralen Problem zuweist.
Das ottomanische Reich trat praktisch von Anfang an auf Seiten der Achsenmächte in den Krieg ein. Gleichzeitig verschärfte es die Angriffe im Innern auf Minderheiten und politische Gegner. Das begann mit Säuberungen in Armee, Verwaltung und Presse – auch Vertreter zum Beispiel der armenischen Minderheit hatten zum Teil in der Armee wichtige Offiziersränge inne – und kulminierte 1915 im planvoll ausgeführten Völkermord an der armenischen Bevölkerung, den die Türkei bis heute leugnet. Zwischen 800’000 und 1,5 Millionen Menschen fielen diesem Genozid zum Opfer. Mit seinem Jahrhundertroman «Die vierzig Tage des Musa Dagh» setzte der österreichische Schriftsteller Franz Werfel dem Leiden der Armenier ein Denkmal.
Auch Smyrna sollte nicht verschont bleiben. Der Provinzgouverneur verfügte 1916 Deportationen von Armeniern. Anders als überall sonst im ottomanischen Reich schritt aber ein Offizier des verbündeten Deutschlands ein: Otto Viktor Karl Liman von Sanders – sein Name sei positiv vermerkt – drohte dem Provinzgouverneur, er würde Deportationen der armenischen Bevölkerung in Smyrna mit Waffengewalt verhindern. Deshalb blieb Smyrna auch während des Ersten Weltkriegs eine multikulturelle Stadt. Ausser Liman von Sanders stelle sich im deutschen Heer niemand den Deportationen und dem Völkermord in der Türkei während und nach dem Ersten Weltkrieg entgegen.
Im November 1918 war der Krieg zu Ende. Die Niederlage der Mittelmächte und damit des ottomanischen Reiches war besiegelt.
Der Friede von Sèvres
Griechenland hingegen war am 29. Juni 1917 auf der Seite der Entente in den Krieg eingetreten. Ziel seiner Aussenpolitik war es weiterhin, alle Gebiete mit mehrheitlich griechischer Bevölkerung für Hellas zu gewinnen, was notwendigerweise zum Konflikt mit der Türkei führen würde. Nach dem Sieg der Entente im Ersten Weltkrieg und der Schwäche der Türkei schien die Verwirklichung der «Grossen Idee» aber ein grosses Stück näher gerückt zu sein, denn Griechenland war bei den anschliessenden Friedensverhandlungen auf der Seite der Sieger und gegenüber der Türkei am längeren Hebel.
Bereits 1919 nutzte Griechenland nach Absprache mit den anderen Siegermächten die Schwäche des ottomanischen Reiches, um sich Ostthrakiens und Smyrnas zu bemächtigen – die griechische Armee besetzte die Stadt und ihre kleinasiatische Umgebung. Der Nordepirus, die Inseln Imbros und Tenedos sowie Ostthrakien (mit der Stadt Adrianopel, dem heutigen Edirne) und alle mehrheitlich griechischsprachigen Gebiete an der kleinasiatischen Küste einschliesslich der Stadt Smyrna (aber nicht Istanbul) wurden dann tatsächlich im Friedensvertrag von Sèvres 1920 Griechenland zugesprochen.
Dieser Vertrag ist das grosse Trauma der Türkei. So wie im Vertrag von Trianon im gleichen Jahr Ungarn über 50 Prozent seines Territoriums einbüsste – was immer noch nicht vergessen ist – verlor die Türkei grosse Teile an Griechenland und (im Osten) an Armenien. Wie konnte es passieren, dass Hellas diese gute Position wieder verspielte?
Die griechischen, armenischen und levantinischen Einwohner Smyrnas begrüssten mehrheitlich den Einmarsch der griechischen Armee. Er verhiess Schutz vor der brutal gewordenen ottomanischen Regierung. Die Erinnerung an den Armeniergenozid war noch frisch. Ein Teil der christlichen Bevölkerungsmehrheit sah dem Einmarsch hingegen mit gemischten Gefühlen entgegen. Sie hatten eine Vorahnung davon, dass sich das Kriegsglück wenden könnte und die türkischen Schergen furchtbare Rache an der christlichen Zivilbevölkerung der Stadt nehmen würden.
Ihre Befürchtungen schienen sich zunächst nur zum Teil zu bewahrheiten. Direkt nach dem Einmarsch der griechischen Armee im Mai 1919 entwickelte sich eine rege türkische Partisanentätigkeit. Die griechische Armee reagierte mit brutalen Strafexpeditionen gegen die türkische Zivilbevölkerung – auch das gehört zur historischen Wahrheit und darf nicht verschwiegen werden –, obwohl Ministerpräsident Venizelos die Armeeführung angewiesen hatte, alle Menschen unabhängig ihrer Religionszugehörigkeit human zu behandeln. Die Exzesse steigerten den Hass und stärkten innerhalb der griechischen Politik die Gegner der griechischen Armeepräsenz in Kleinasien.
Der griechisch-türkische Krieg
Neuer Führer der in der Türkei regierenden Jungtürken wurde ein gewisser Mustafa Kemal Pascha, später Atatürk genannt (1881–1938). Er bildete 1920 eine Gegenregierung zum Kabinett im von den Alliierten besetzten Istanbul, das den Vertrag von Sèvres unterschrieben hatte, mit dem Ziel, sich Griechenland entgegenzustellen. Die griechische Armee drang nämlich über die im Vertrag von Sèvres vereinbarte Demarkationslinie ins Landesinnere vor. Das geschah aufgrund einer Absprache mit der britischen Regierung, um die Türkei dazu zu zwingen, die Aufteilungspläne nicht nur auf dem Papier zu akzeptieren, sondern tatsächlich umzusetzen. Sèvres war der Versuch, die Türkei ein für allemal aus Europa zu vertreiben und die ständige Bedrohung, die über Jahrhunderte von der Hohen Pforte in ständig wechselnden Ausprägungen ausgegangen war und die türkische Armee zeitweise bis vor die Tore Wiens gebracht hatte, zu beseitigen.
Der Versuch sollte scheitern. Die Alliierten hatten einerseits den Widerstandswillen der Türken, die Sèvres als demütigend empfanden, und die Mobilisierungskraft Atatürks unterschätzt, anderseits waren sie sich bald selber nicht mehr einig. Die kriegsmüden Alliierten wollten die Umsetzung des Vertrages nicht mehr mit eigenen Truppen erzwingen – so schickte England die willigen Griechen vor. Zusätzlich begann Italien, die Umsetzung von Sèvres zu torpedieren, weil es durch die griechische Präsenz in Kleinasien seine eigenen Interessen gefährdet sah. Rom hatte eben die Dodekanesinseln und eine Besatzungszone in der Südtürkei dazugewonnen.
Die Parlamentswahlen vom November 1920 führten zu einem folgenschweren Machtwechsel in Griechenland. Venizelos’ liberale Partei verlor und die deutschfreundliche, königstreue konservative Partei gewann. Nachdem sie den Wahlkampf mit dem Ruf nach einer Beendigung des Krieges geführt hatten, taten sie nun das genaue Gegenteil. Gleichzeitig erkaltete nach dem Regierungswechsel die Unterstützung der Alliierten. Während Venizelos zwar für eine expansionistische, aber rationale und mit Partnerländern abgestimmte Aussenpolitik Gewähr geboten hatte, überschätzten sich die Königstreuen völlig. Auch die Disziplin in der Armee liess nach. Es kam nicht nur zu Übergriffen gegen die türkische Zivilbevölkerung, sondern auch zu Plünderungen von Griechen.
Während die griechische Armee zunächst in Anatolien schnell vorrückte, wurde sie dann kurz vor Ankara vernichtend geschlagen und nach Westen zurückgedrängt. Die Türkei eroberte Kleinasien vollständig zurück. Sie begnügte sich aber nicht damit, den Vorkriegszustand wiederherzustellen. Bereits vorher hatte es Gewalttaten gegen die griechische Bevölkerung Anatoliens gegeben, nach der fehlgeschlagenen griechischen Offensive ging es nun aber um nicht weniger als um deren Vernichtung und Vertreibung.
Am 9. September 1922 erreichten türkische Truppen Smyrna und es begann das, was sich ins kollektive Gedächtnis der Griechen als die Kleinasiatische Katastrophe (griechisch Μικρασιατική καταστροφή) eingebrannt hat. Am Schluss versuchte die griechische Armee nicht einmal mehr, eine geordnete und rechtzeitige Evakuation von Smyrna sicherzustellen. Die Autorin Filio Chaidemenou, geboren 1899 in Smyrna, schreibt in ihrem kurz vor ihrem Tod 2005 erschienen Lebensbericht «Das Testament Ioniens» (Η διαθήκη της Ιωνίας), dass die Regierung den Untergang Smyrnas und das Köpferollen bis zum letzten Mann einem geordneten Rückzug und einer Evakuation der Stadt vorgezogen habe. Die politisch Verantwortlichen wurden dann des Hochverrats angeklagt und Ende 1922 in Goudi bei Athen hingerichtet.
Ende des Griechentums in Kleinasien
Am 8. September 1922 waren Nachrichten in der westlichen Presse zu lesen, die über die verzweifelte Lage der Stadt Smyrna berichteten. Das Mädchen, von dem eingangs die Rede war, hatte aufgrund von Warnungen, die an seine Familie ergangen waren, bereits die rettende Insel Lesbos erreicht, als die türkischen Truppen bereits in den ersten Tagen mehr als 40’000 griechische und armenische zivile Einwohner von Smyrna ermordeten und das griechische und das armenische Viertel der Stadt brandschatzten. Als das Feuer am 13. September 1922 ausbrach – wer es legte, ist umstritten: Waren es türkische paramilitärische Banden oder reguläre Truppen? –, strömten die Menschen zum Hafen und versuchten die rettenden Schiffe zu erreichen. Engländer und Amerikaner weigerten sich zuerst, Flüchtlinge aufzunehmen, die sich auf die schon überladenen Schiffe drängten. Erst am 22. September begannen die Alliierten und griechische Transportschiffe, die 150’000 Überlebenden aus der Stadt zu evakuieren. Die westliche Presse hatte praktisch täglich berichtet – über die Brutalität der türkischen Truppen und paramilitärischen Banden, über die nur sehr zögerlichen Rettungsaktionen der Alliierten und sogar über den bestialischen Lynchmord an Erzbischof Chrysostomos von Smyrna.
Mehr als 3000 Jahre hatten Griechen dort gelebt, sie hatten diese Stadt gegründet und zum Blühen gebracht. Nun war die multikulturelle Symbiose in Smyrna zerstört! Die «Megali Idea» und die Brutalität des türkischen Regimes führten dazu, dass Smyrna heute der Name einer Stadt ist, die nicht mehr existiert. Auf deren Ruinen entstand das türkische Izmir.
Ob Smyrna ohne die Ereignisse nach dem Ersten Weltkrieg heute immer noch ein Vorbild für friedliche Koexistenz unterschiedlicher Völker und Religionen wäre? Keiner weiss es. Zweifel sind aber angebracht, wenn man bedenkt, wie die Türkei später mit den restlichen griechischen Minderheiten umging. Zwei aussergewöhnliche Persönlichkeiten standen sich gegenüber – Venizelos und Atatürk. Innenpolitisch wollten sie ihre Länder modernisieren, aussenpolitisch mussten sie aber aneinandergeraten. Venizelos wollte alle Gebiete mit griechischer Mehrheit in einem Land vereinen, Atatürk den Vertrag von Sèvres revidieren und die verlorenen Gebiete für sich haben.
Der Vertrag von Lausanne
Die Konsequenzen dieser griechischen Niederlage im griechisch-türkischen Krieg waren katastrophal. Im Vertrag von Lausanne, der für Griechenland weit weniger günstig war als derjenige von Sèvres, wurde 1923 – euphemistisch ausgedrückt – ein Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei vereinbart. Die Zwangsumsiedlung betraf alle Griechen, die noch nicht getötet oder vertrieben waren, das heisst etwa 1,25 Millionen Griechen und 500’000 Türken. Als Kriterium wurde die Religion festgelegt: orthodox = griechisch, muslimisch = türkisch.
Durch den Zuzug praktisch aller Griechen aus Kleinasien – vor allem aus den Küstengebieten, Kappadokien und dem Pontos – hatte Griechenland eine unglaubliche Flüchtlingsquote von ca. 25 Prozent zu verdauen. Ausgenommen waren die Konstantinopler Griechen, die Griechen auf den türkischen Ägäisinseln Imbros und Tenedos, sowie die türkischstämmigen Muslime in Westthrakien. Imbros und Tenedos sowie Ostthrakien wurden wie erwähnt – abweichend vom Vertrag von Sèvres – an die Türkei zurückgegeben, während der Nordepirus an Albanien zurückfiel. Seither ist die muslimische Minderheit im griechischen Westthrakien eher gewachsen. Von den Konstantinopler Griechen und von den Griechen in Imbros und Tenedos blieb nur eine ganz kleine Minderheit übrig. Diskriminierung, Vertreibung und Pogrome gingen weiter und führten dazu, dass die Präsenz der Griechen in der heutigen Türkei praktisch vollständig erloschen ist.
Der Vertrag von Lausanne hatte eine weitere katastrophale Konsequenz. Er machte die Entwurzelung und Vertreibung ganzer Bevölkerungsgruppen salonfähig und akzeptabel und diente mutmasslich weiteren Vertreibungen, die das 20. Jahrhundert säumten, als Blaupause und Vorbild. Auch der Genozid an den Armeniern, bis heute ungesühnt und geleugnet, hat mutmasslich als Vorbild für noch scheusslichere Taten gedient. Es erscheint unbegreiflich, warum dieser Vertrag bis heute nicht stärker hinterfragt und kritisch reflektiert wird.
Erdogan droht wieder mit Krieg
Zum Gedenken an die Ereignisse vor hundert Jahren finden in Griechenland landauf landab Veranstaltungen statt. Auf politischer und diplomatischer Ebene hätte dieses Gedenkjahr zusätzlich Gelegenheit geboten, eine Verständigung zu suchen. Stattdessen trugen Präsident Erdogan und Ministerpräsident Mitsotakis ihre Differenzen an der Uno-Vollversammlung ungehemmt aus. Die beiden Männer sprechen nicht mehr miteinander, schicken aber fleissig Tweets über die Ägäis. Den Vogel abgeschossen hat Erdogan, der Griechenland offen mit Krieg droht.
Genau wie vor hundert Jahren reagiert die Weltgemeinschaft mit Gleichgültigkeit. Weit und breit tritt keine Figur vom Format eines Liman von Sanders auf den Plan. Deutschland liefert U-Boote und die USA will das Teil-Waffenembargo gegen die Türkei aufheben, wenn diese bereit ist, ihr Veto gegen den Nato-Beitritt von Schweden und Finnland aufzuheben. Reicht ein Krieg in Europa nicht?