Weitgehend unbeachtet schaukelt sich ein Konflikt gefährlich auf, derjenige in der Ägäis zwischen den Nato-Partnern Griechenland und Türkei. Ultranationalistische Kräfte in der Türkei nutzen den Umstand aus, dass Präsident Erdogan politisch auf sie angewiesen ist.
Das seit Jahren konfliktträchtige Verhältnis zwischen Griechenland und der Türkei hat einen neuen Tiefpunkt erreicht. Devlet Bahceli, der Vorsitzende der ultranationalistischen türkischen Partei MHP und Koalitionspartner von Präsident Erdogan, will griechische Inseln annektieren.
Rhodos, Lesbos, Chios, Samos und sogar Kreta – Inseln, auf denen im Moment Touristen ihre Ferien verbringen – der Inbegriff des Griechentums und des griechischen Sommers.
Bahceli hat eine Karte veröffentlicht, auf der diese Inseln als türkisch markiert sind. Präsident Erdogan ist auf den rechtsextremen Hetzer angewiesen, da er sonst keine Mehrheit im Parlament hat und da er die Stimmen der Ultranationalisten bei den spätestens nächsten Frühling fälligen Präsidentenwahlen braucht. «Fiebertraum von Extremisten oder offizielle türkische Politik?», fragte der griechische Ministerpräsident Mitsotakis auf Twitter. Aber Erdogan schweigt. Aufgrund der labilen politischen Situation in der Türkei und der schlechten Wirtschaftslage mit galoppierender Inflation erwarten politische Beobachter, dass Erdogan die Konflikte mit Griechenland in den nächsten Monaten weiter schüren wird.
Gefährlicher Revisionismus
Auch Aussenminister Mevlüt Cavusoglu träumt. Die Türkei dürfe «nicht in ihren heutigen Grenzen gefangen sein», sagt er. Und die Grauen Wölfe, die Kampforganisation von Bahcelis Partei, bezeichneten Kreta als eine von Griechenland besetzte türkische Insel. In Griechenland ist die Angst vor einem Krieg mit Händen zu greifen. Berechtigt ist dies auch deshalb, weil die Türkei seit der Invasion von 1974 völkerrechtswidrig einen Drittel Zyperns besetzt hält und die internationale Gemeinschaft dies seit damals mit Gleichgültigkeit hinnimmt.
Schon vor zwei Jahren wäre es in der Ägäis beinahe zu einem heissen Zwischenfall gekommen, der nur durch die besonnene Reaktion eines griechischen Fregattenkapitäns und anschliessender Vermittlung Berlins und der Nato entschärft werden konnte. Aber in diesem Spätsommer könnte sich der Streit um Bohrrechte in der Ägäis erneut zuspitzen, denn die Türkei plant erneut Sondierungen in Gebieten, die völkerrechtlich Griechenland zustehen.
Ich habe hier und hier den Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei in der Ägäis nachgezeichnet. Neu ist die direkte Forderung nach Abtretung von ganzen Inseln; es ist eine in dieser Form neue Aggressivität der Türkei ihrem Nachbarn und Nato-Bündnispartner gegenüber.
Neue Türkeipolitik der Ampelkoalition?
Neu ist auch, dass die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock bei ihrem Besuch in Athen keinen Zweifel daran liess, wo Deutschland im Streit um die ostägäischen Inseln steht. «Griechische Inseln sind griechisches Territorium, und niemand hat das Recht, das infrage zu stellen», stellte die grüne Politikerin klipp und klar fest.
Cavusoglu hingegen verstiess beim Besuch der Aussenministerin Deutschlands gegen jede diplomatische Höflichkeit und pries das Geschick der ehemaligen Bundeskanzlerin Merkel.
Damals, so der türkische Chefdiplomat, sei Deutschland ein «ehrlicher Makler» und «unvoreingenommen» gewesen. Heute fielen Deutschland und die EU auf die Propaganda Griechenlands herein. Tatsächlich galt von Bismarck bis Merkel das Axiom, dass eine Aussenpolitik ohne die Türkei nicht zu konzipieren sei. Hat sich das nun mit der Ampelkoalition verändert? Tatsächlich hat diese von ihren Vorgängern abweichende, das heisst kritischere Vorstellungen, was die Türkei anbelangt.
Wenn die türkische Regierung und ihre Verbündeten mehr oder weniger offen die territoriale Integrität eines EU-Mitgliedslandes in Frage stellen, dann bleibt Deutschland nichts anderes übrig, als sich hinter Griechenland zu stellen. Insofern hat Baerbock nur Selbstverständliches gesagt.
Abgesehen von dem historisch engen Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei, besteht das Ziel von Berlin darin, ein weiteres Wegdriften der Türkei von Europa zu verhindern. Der Krieg in der Ukraine unterstreicht die angebliche Unentbehrlichkeit der Türkei zusätzlich.
Die türkische Regierung weiss das und reizt – um nicht zu sagen: überdehnt – den zusätzlich gewonnenen Spielraum aus. Nicht nur gegenüber Griechenland: auch die jüngste Invasion in Syrien – ebenfalls ein Gebiet, das einst dem ottomanischen Reich zugehörig war – zeugt davon. Vom Provozieren heisser Zwischenfälle in Bergkarabach durch das mit der Türkei verbündete Aserbeidschan ganz abgesehen.
Es wäre aber falsch, die Unterstützung der deutschen Aussenministerin als einen Abschied von der deutschen Präferenz für die Türkei zu deuten. In Bezug auf die jahrzehntealten griechischen Forderungen nach Reparationszahlungen für die deutschen Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg hat sich zum Beispiel nichts geändert (hier meine Analyse und die historischen Hintergründe dazu). Auch in Bezug auf die Lieferung deutscher U-Boote an die Türkei machte Baerbock klar, dass die beiden Länder bei diesem Thema «nicht einer Meinung sind». Die Seefahrernation Griechenland ist der Türkei gegenwärtig auf dem Wasser weit überlegen; in der Luft besteht etwa ein Gleichgewicht und bei den Bodentruppen ist die Türkei überlegen. Das könnte sich aber ändern, falls diese U-Boote tatsächlich geliefert werden. Das würde den Konflikt zusätzlich anheizen. Aus diesen Gründen wird die deutsche Aussenpolitik in Griechenland oft als heuchlerisch bezeichnet.
Molyviatis’ Brief
Zu guter Letzt ist es die Nato, die nicht deutlich zur gesteigerten Aggressivität der Türkei Stellung nimmt. Das hat kürzlich den ehemaligen Aussenminister Petros Molyviatis zu einem offenen Brief an Nato-Generalsekretär Stoltenberg veranlasst. Der heute 96-jährige Molyviatis übernahm das Aussenministerium letztmals im zarten Alter von 87 Jahren! Mangelnde Erfahrung kann man ihm also nicht absprechen. Man kann auch nicht sagen, er sei mit den aktuellen Gegebenheiten nicht mehr vertraut.
Molyviatis kritisierte in seinem Schreiben eine Äusserung Stoltenbergs, Griechenland solle wegen der Spannungen mit der Türkei mit dieser den Dialog suchen. Diese diplomatische Äquidistanz sei jedoch angesichts der von der Türkei ausgehenden Aggressionen nicht angebracht. Molyviatis schloss den Brief ab mit dem Satz: «Wenn Sie, Herr Generalsekretär, nicht die Befugnis haben, einzugreifen, um diese beispiellose und unannehmbare Situation innerhalb des Bündnisses zu korrigieren, ist es meiner Meinung nach das Beste, wenn Sie bis zum Ablauf Ihrer Amtszeit schweigen.»
Erdogan eifert Putin nach
Tatsächlich: Erdogan versucht anscheinend, Putin nachzueifern. Auch der russische Aufmarsch an der ukrainischen Grenze wurde von niemandem ernst genommen – bis der Krieg begann. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sollte Erdogan deutlich warnen und darüber informieren, dass, wenn er Griechenland angreift, der berühmte Artikel fünf des Nato-Vertrags die anderen Nato-Länder dazu verpflichtet, Griechenland militärisch zu unterstützen – auch wenn die Türkei selber Nato-Mitglied ist.
Man vergleicht zuweilen, so wie es Stoltenberg zu tun scheint, die griechisch-türkischen Differenzen als Streit zweier Schulbuben, die endlich zu streiten aufhören und ihren Konflikt friedlich beilegen sollten. Das trifft den Punkt nicht. Es ist so, dass nur die Abgrenzung des Festlandsockels völkerrechtlich strittig ist. Das ist der Punkt, der über Verhandlungen gelöst werden muss, und wenn das nicht gelingt, vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag entschieden werden sollte. Die Türkei weigert sich aber, diesen Weg zu gehen, weil sie weiss, dass ihre Position nicht haltbar ist.