Demokratie kann teuer werden. Jedenfalls in der deutschen Hauptstadt. Fast 40 Millionen Euro soll die Wiederholung der Berlin-Wahlen kosten. Weit mehr als doppelt so viel wie der ursprüngliche Urnengang im September 2021. Dabei hatte sich die Verwaltung der an Pannen und Peinlichkeiten keineswegs armen Hauptstadt der viertgrössten Volkswirtschaft der Welt haarsträubende Fehler geleistet. So viele, dass der Berliner Verfassungsgerichtshof sich gezwungen sah, die Notbremse zu ziehen: Berlin-Wahlen ungültig, bitte noch einmal!
Am 12. Februar steht der zweite Versuch an, der Millionenmetropole an der Spree und ihren zwölf Stadtbezirken demokratisch sauber legitimierte Parlamente zu verschaffen. Diesmal werde bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordneten-Versammlungen alles besser sein, versprach Franziska Giffey. «Jedes Wahllokal wird 140 Prozent an Ausstattung erhalten», versicherte die Regierende Bürgermeisterin.
Tausende fehlende oder falsche Stimmzettel
Als die 1978 im brandenburgischen Frankfurt (Oder) geborene Giffey 2021 an der Spitze einer Koalition aus SPD, Grünen und Linken ins höchste Amt der Hauptstadt gelangte, ging vieles nicht mit rechten Dingen zu: Tausende fehlende oder vertauschte Stimmzettel. Es standen nicht genügend Wahlurnen zur Verfügung. Und in einigen Wahllokalen ging die Abstimmung auch nach der offiziellen Schliessung weiter – nachdem die 18.00-Uhr-Nachrichten bereits Ergebnisprognosen verkündet hatten.
Bananenrepublik Berlin? Ein gefundenes Fressen jedenfalls für Deutschlands Kabarettisten. Ähnlich wie Jahre zuvor der überteuerte Berliner Pannen-Airport. Nur dass es diesmal um die Frage ging, ob die Hauptstädter wirklich die Regierung bekamen, für die sie ihr Kreuzchen gemacht hatten.
Das Berliner Verfassungsgericht sprach von einem «wohl einmaligen Vorgang in der Geschichte der Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland». Um Schaden von der Demokratie abzuwenden, ordnete es im November 2022 die Wahlwiederholung an.
Seitdem haben sich die Kräfteverhältnisse im Roten Rathaus ein wenig verändert – wobei der Name des Gebäudes unweit des Berliner Fernsehturms natürlich nicht auf das Parteibuch der Rathauschefin anspielt, sondern auf «die Farbe der Ziegelsteine, die Ihre Leuchtkraft besonders schön in der Abendsonne entfalten» (so das offizielle Hauptstadtportal Berlin.de).
Wie es um Giffeys Leuchtkraft bestellt ist, fragen sich inzwischen so manche ihrer Genossen. Ob die SPD-Landesvorsitzende, die 2021 im Zuge einer Plagiatsaffäre um ihre Doktorarbeit als Bundesfamilienministerin zurückgetreten war, sich erneut den Posten der Regierenden Bürgermeisterin sichern kann, gilt als ungewiss.
Zeit für Jarasch?
Wenige Wochen bevor sich zeigen wird, ob Berlin im zweiten Anlauf in der Lage war, Wahlen ordnungsgemäss zu organisieren, legen Umfragen eine Verschiebung im Farbenspiel der Macht nahe: Aus Rot-Grün-Rot könnte Grün-Rot-Rot werden. «Berlin mit neuer Kraft regieren» steht auf riesigen Postern unter einer stilisierten Sonnenblume, links neben dem Porträt einer Frau mit gewellten braunen Haaren. Ihr Mund deutet ein Lächeln an, die Augen vermitteln den Eindruck ruhiger Entschlossenheit. Darunter steht: «Zeit für Jarasch».
Bettina Jarasch, geboren 1968 in der bayerischen Schwabenmetropole Augsburg und seit den Wahlen von 2021 Berliner Senatorin für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz, tritt erneut für die Grünen an, um Regierende Bürgermeisterin zu werden.
Diesmal stehen ihre Chancen anscheinend besser. Umfragen von Mitte Januar zufolge könnten die Grünen mit etwa 21 Prozent (2021: 18,9) der Wählerstimmen recht deutlich vor der SPD liegen, die demnach nur noch auf 18 Prozent kommen würde (2021: 21,4).
Der zweite rote Partner im Bündnis, die aus der DDR-Regierungspartei SED hervorgegangene Linke, käme noch auf 11 Prozent (2021: 14,1). Bliebe es in etwa bei diesen Verhältnissen, müsste die Frau aus Frankfurt (Oder) – sie wirbt unter anderem mit Plakaten, die sie in Gedanken vertieft an einem Schreibtisch zeigen – das Berliner Spitzenamt an die Frau aus Augsburg abtreten.
CDU vorn und dennoch chancenlos
So oder so wird ein echter Berliner bei der Berliner Wahlwiederholung wohl das Nachsehen haben. Und dies, obwohl seine Partei sich diesmal als stärkste politische Kraft erweisen könnte: Kai Wegner, geboren 1972 im damaligen West-Berlin, ist Fraktionsvorsitzender der CDU im Abgeordnetenhaus und zugleich Oppositionsführer. Er tritt erneut als Spitzenkandidat für die Christdemokraten an und dürfte ihnen – sofern die Umfragen nicht völlig daneben liegen – den Spitzenplatz aller Parteien bescheren. Das Meinungsforschungsinstitut Civey kam bei einer Umfrage im Auftrag der bürgerlich-liberalen Berliner Zeitung «Tagesspiegel» gar auf 25 Prozent für die Christdemokraten.
Dennoch rechnet in Berlin kaum jemand damit, dass die CDU erstmals nach vielen Jahren wieder den «Regierenden» stellen wird. Zuletzt war ihr das von 1991 bis 2001 mit Eberhard Diepgen gelungen. Vielmehr könnte Wegner als König ohne Land dastehen – ein Wahlsieger, der zugleich Verlierer ist.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Erstens deutet alles darauf hin, dass Berlins Linksbündnis zusammenhalten wird, solange es dadurch irgendwie an der Macht bleiben kann – egal, ob unter Führung einer Grünen oder einer Sozialdemokratin. Und zweitens dürfte die CDU auch als stärkste politische Kraft kaum in der Lage sein, eine mehrheitsfähige Koalition zu schmieden.
Rein rechnerisch wäre derzeit unter anderem eine sogenannte Deutschlandkoalition mit der SPD und der FDP möglich. Doch es gilt als wenig wahrscheinlich, dass Schwarz-Rot-Gelb an der sozialdemokratischen Basis durchsetzbar wäre. Auch eine für so manchen in der CDU attraktiv erscheinende schwarz-grüne Regierung unter Beimischung von ein wenig FDP-Gelb (eine Jamaikakoalition) dürfte in Berlin nur eine Übung für den Rechenschieber bleiben.
«Gute und schlechte Namen»
In den politischen Auseinandersetzungen nach den brutalen Angriffen von Jugendlichen auf Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungsmannschaften in der Silvesternacht im Bezirk Neukölln ist die Kluft zwischen Grünen und Christdemokraten so gross geworden, dass ein Zusammengehen ausgeschlossen erscheint – jedenfalls solange den Grünen andere Optionen bleiben.
So mancher in der CDU macht dafür Kai Wegner verantwortlich: Wohl um den Vorwurf einer katastrophal gescheiterten Ausländer- und Integrationspolitik gegen die Regierungskoalition im Wahlkampf stärker instrumentalisieren zu können, hatte die CDU-Fraktion die Bekanntgabe der Vornamen aller Tatverdächtigen der Neuköllner Silvesterattacken gefordert. Das Manöver war durchsichtig, denn längst war auch ohne offizielle Verlautbarung klar, dass viele, wenn nicht die meisten der mutmasslichen Straftäter einen Migrationshintergrund hatten, egal ob mit deutschem Pass oder ohne.
Ungeteilten Beifall gab es von der rechtspopulistischen und in Teilen rechtsextremistischen Alternative für Deutschland (AfD), die den Umfragen zufolge derzeit in Berlin wie die Linke auf etwa 11 Prozent käme. Für die CDU kommen die AfDler jedoch erklärtermassen ebenso wenig als Partner in Betracht wie die SED-Nachfolger.
Die rot-grün-rote Koalition nahm den eher unglücklichen Vornamen-Vorstoss der CDU dankbar zum Anlass für einen Sturm der Entrüstung. Giffey warf Wegner vor, die Stadt in «gute und schlechte Namen» aufzuteilen und alle der Hunderttausenden Berliner mit Migrationshintergrund über einen Kamm zu scheren. Damit konnte sie punkten und einigermassen wettmachen, dass sie sich zuvor mit ihrem Ruf nach einem Böllerverbot als Antwort auf die erschreckenden Angriffe in Neukölln lächerlich gemacht hatte.
Giffey oder Jarasch?
Jarasch erklärte, die CDU sei «mit dem Versuch, als liberale Grossstadt-Partei zu punkten, in den Wahlkampf gesprungen und jetzt mit CSU-Stammtischparolen sehr weit aussen gelandet». Im «Tagesspiegel» fügte sie hinzu: «Berlin braucht als moderne Weltmetropole eine Regierung, die ihre Gesellschaft nicht mit Diskussionen um Vornamen spaltet und Gewalt gegen Sicherheitskräfte nicht zu einer Asyldebatte umetikettiert.»
Jarasch war natürlich nicht entgangen, dass ihre beiden roten Koalitionspartner in den Umfragen Federn liessen, während Wegners CDU ungeachtet der Vornamen-Debatte (oder vielleicht gerade dadurch) deutlich zulegte. Doch ungeachtet dessen dürfte die naheliegende Frage am Berliner Wahlabend nach Meinung vieler Kommentatoren nicht die nach einer Regierungsbeteiligung der Christdemokraten sein, sondern so lauten: Giffey oder Jarasch? Anders formuliert: Wie grün wird Berlins Rotes Rathaus?