Jimmy Carter, 100-jährig verstorben, ist als US-Präsident und danach oft zu Unrecht unterschätzt oder kritisiert worden. Dies nicht zuletzt wegen seines Engagements im Nahost-Konflikt und seiner Rolle 1980 beim missglückten Versuch, die amerikanischen Geiseln in Teheran zu befreien. Doch das Bild hat sich gewandelt.
Trotz eines heftigen Schneesturms und bissiger Kälte warteten vergangene Woche Hunderte von Menschen während Stunden vor dem Capitol in Washington DC, um Präsident Jimmy Carter die letzte Ehre zu erweisen, der in der Rotunda des Gebäudes aufgebahrt lag. Befragt, was sie im Stillen sagen werde, wenn sie vor Carters Sarg stehe, antwortete eine Besucherin namens Sally Muhl: «Danke Ihnen. Danke, dass Sie einen Unterschied gemacht haben.»
Die Dankesworte der Frau aus Texas drücken aus, was heute viele Amerikanerinnen und Amerikaner über einen Präsidenten denken, dessen Amtszeit zumindest von Meinungsmachern als eher unglücklich eingestuft wurde, mit dessen humanitärer Hinterlassenschaft gleichzuziehen bisher aber keinem seiner Nachfolger gelungen ist.
Anders als seinen Nachfolgern war es Jimmy Carter äusserst wichtig, Substanzielles zu einem Frieden im Nahen Osten beizutragen. Am 26. März 1979 reichten sich Ägyptens Präsident Anwar as-Sadat und Israels Premier Menachem Begin vor dem Weissen Haus die Hände zum Friedensabkommen von Camp David. Jimmy Carter war Zeuge.
Für seine Bemühungen um Frieden und Menschenrechte erhielt Jimmy Carter 2009 den Friedensnobelpreis, eine Auszeichnung, die sieben Jahre später zwar auch Barack Obama zuteilwurde, deren Berechtigung jedoch vielerorts angezweifelt worden ist. Ausserdem hatte Jimmy Carter 1977 mit Präsident Omar Torrijos Verträge zur Übergabe des Panama-Kanals an den zentralamerikanischen Staat geschlossen und den SALT-II-Vertrag zur Rüstungsbegrenzung mit der Sowjetunion ausgehandelt. Währenddessen schliesst sein heutiger Nachfolger nicht aus, den Kanal, den er von China kontrolliert sieht, allenfalls mit militärischer Gewalt erneut zu kontrollieren.
Zum Übelsten, was Kritiker Jimmy Carter unterstellt haben, gehört die Feststellung, Amerikas 39. Präsident, als sehr fromm bekannt, sei ein Antisemit gewesen. Die Kritik entzündete sich an seinem Buch «Palestine: Peace Not Apartheid», das 2006 erschien und heute angesichts Israels Krieg gegen die Hamas als geradezu prophetisch erscheint. Carter wurde als Heuchler und Juden-Hasser beschimpft, beschuldigt, ein «Judenproblem» zu haben und «Israels Vernichtung» anzustreben.
Dagegen hat der jüdisch-orthodoxe Autor Peter Beinart den Ex-Präsidenten kurz vor dessen Tod als «den einflussreichste Zionisten seiner Generation» beschrieben und gefordert, jetzt sei für Carters Kritiker die Zeit gekommen, sich für «den beschämenden Empfang» zu entschuldigen, den sie dem Buch bereitet hätten: «Was Carter 2006 sagte, war tatsächlich der Zeit voraus, und er hatte nicht nur Recht, sondern zeigte auch aussergewöhnlich viel politischen Mut.» Jimmy Carter hatte nicht nur vor der Gefahr der Apartheid im Westjordanland gewarnt, sondern auch über die Notwendigkeit eines «palästinensischen Heimatlandes» gesprochen.
Jimmy Carter, vom britischen «Observer» auf die Kritik an seinem Buch angesprochen, bedauerte nicht, Israels Besetzungspolitik als Apartheid beschrieben zu haben: «Das Wort ist der treffendste Begriff, um Palästina zu beschreiben. Apartheid ist es, wenn zwei verschiedene Völker auf demselben Stück Land leben und sie werden getrennt und das eine Volk beherrscht oder verfolgt das andere. Das geschieht in Palästina: Das Wort ist also sehr, sehr genau.»
Peter Beinart scheut sich auch nicht, Jimmy Carters Nachfolger Joe Biden moralisches Versagen in Sachen Israel vorzuwerfen – Bidens hehren Äusserungen zum Trotz, Amerika wieder zu einem «Leuchtturm» für die Welt zu machen als eine Nation, die auf der Idee der Gleichberechtigung fusst: «weder auf Religion noch Ethnizität». Dagegen basiere Israels politisches System ausdrücklich auf Religion und Ethnizität und Palästinenserinnen und Palästinenser im Westjordanland und in Gaza könnten nicht Bürgerinnen und Bürger jenes Staates werden, der ihr Leben dominiere.
Neu zu bewerten ist rückblickend auch Jimmy Carters Rolle beim missglückten Versuch, 52 amerikanische Geiseln zu befreien, die während 444 Tagen als Geiseln in der US-Botschaft in Teheran festsassen. Die hochriskante Befreiungsaktion scheiterte am 25. April 1980 bei schwierigem Wetter in der iranischen Wüste, als drei von acht Helikoptern, welche die Geiseln hätten retten sollen, mechanische Probleme entwickelten und ein vierter Drehflügler mit einem Transportflugzeug zusammenstiess. Beim Crash am Treffpunkt «Desert One» starben acht Angehörige der US-Air Force.
Zur Geiselnahme, hiess es damals in den USA, sei es gekommen, weil Carter, der sich widerwillig internem und externem Druck beugte, zugelassen habe, den gestützten Schah von Iran für eine Krebsbehandlung ins Land zu lassen, was die Revolutionäre in Teheran angeblich erzürnte. Auch Geiseln machten damals ihren Präsidenten für ihr Los verantwortlich.
Inzwischen sehen sie es anders. Nicht nur gibt es heute Indizien, dass das iranische Regime seinerzeit im Geheimen mit Ronald Reagans Wahlkampforganisation kooperierte und sich darauf einigte, die Geiseln erst nach der US-Präsidentenwahl freizulassen. Zwar erklärte sich Teheran in den letzten Tagen von Carters Präsidentschaft nach langen und mühsamen Verhandlungen bereit, die 52 Festgehaltenen freizulassen. Doch frei kamen die Geiseln erst Momente, nachdem Ronald Reagan am 20. Januar 1981 seinen Amtseid vor dem US-Capitol abgelegt hatte.
Der 80-jährige Barry Rosen, bei der Geiselnahme Presseattaché der US-Botschaft in Teheran, ist überzeugt, dass es seinerzeit keinen anderen Weg gegeben habe, die Geiseln zu befreien, als durch einen langen und mühsamen Verhandlungsprozess: «Um uns am Leben zu halten, konnte er (Carter) gar nicht anders handeln.» Als Geisel habe er gedacht, sie wären für den Präsidenten lediglich ein aussenpolitisches Problem unter anderen: «Niemand von uns wusste, wie sehr wir im Mittelpunkt seiner Aussenpolitik standen, und kannte das Elend, gegen das er während vierzehneinhalb Monaten ankämpfen musste. Heute fühle ich mit ihm.»
Michael Metrinko, 1979 in der politischen Abteilung der US-Botschaft in Teheran tätig, meint heute, dass Ayatollah Khomeinis Anhänger die amerikanische Vertretung auch attackiert hätten, wenn Jimmy Carter den Schah nicht in die USA hätte einreisen lassen. Dies, weil die Revolutionäre glaubten, zu viele Iranerinnen und Iran würden wohl versuchen wollen, das Land mit US-Visen zu verlassen: «Jimmy Carter übertrifft in Bezug auf Anstand, Integrität und Ehre alle zwölf anderen amerikanischen Präsidenten, die seit Harry Truman im Weissen Haus regiert haben.» Allzulange, sagt derweil Barry Rosen, sei Carter unterschätzt und marginalisiert worden: «Er verdient viel mehr. Als Mensch hebt er sich von fast jedem lebenden Präsidenten ab.»
Am vergangenen Donnerstag fand in der National Cathedral in Washington DC Jimmy Carters Staatsbegräbnis statt – in Anwesenheit der Präsidenten George W. Bush, Bill Clinton, Barack Obama, Donald Trump und Joe Biden. Ihre Interaktionen – Blicke, Händedrucke, Worte – wurden von Amerikas Medien akribisch dokumentiert.
«Das Spektakel (…) war aussergewöhnlich – ein verstorbener Präsident und ein wiederauferstandener Präsident an entgegengesetzten Enden der moralischen Skala» notierte in der «New York Times» Kolumnistin Maureen Dowd: «Hier war Carter, der Gerechte, der in den Himmel aufstieg, während Donald Trump, der Verbrecher, wieder ins Oval Office aufstieg. Carters Leidenschaft für Ehrlichkeit war ebenso tief verwurzelt wie Trumps Sucht nach Lügen.» Unerfindlich, was Trump sich dachte, als er sich in der Cathedral mit unbewegtem Gesicht die Nachrufe auf seinen Vorgänger anhörte, Lobreden, die kein unterschiedlicheres Bild zu seiner Person hätten zeichnen können.
Ein Jumbo-Jet, «Special Air Mission 39», flog Jimmy Carters Sarg gleichentags von der Joint Base Andrews (Maryland) nach Fort Moore (Georgia), von wo aus ein Autokonvoi die sterblichen Überreste nach seinem Heimatort Plains eskortierte. Es ist der Ort, wo seine Laufbahn als Erdnussfarmer begann und die er später, bevor er Politiker und Gouverneur des Südstaates Georgia wurde, als Captain eines Atom-U-Boots der US-Navy und, weniger bekannt, als Autor eines breiten Spektrums von 32 Büchern fortsetzte.
In Plains, einem 573-Seelen-Dorf, liegt Jimmy Carter auf dem Familiengrundstück neben seiner Frau Rosalynn begraben, mit der er 77 Jahre lang verheiratet war und die ein Jahr vor ihm starb. Seine Mutter hatte als Hebamme bei Rosalynns Geburt assistiert und der dreijährige Jimmy war am nächsten Tag vorbeigekommen, um Plains’ jüngste Bewohnerin zu begrüssen. Kismet.