Einen Monat nach der Zeitenwende in Syrien (Assad wurde am 8. Dezember gestürzt) äusserte der Präsident Ägyptens, Abdel Fattah al-Sissi, vor Generälen und Journalisten in Kairo: «An meinen Händen klebt kein Blut und ich habe kein Geld gestohlen.» Damit wollte er klarstellen: Man kann mich nicht mit Bashar al-Assad vergleichen.
Tatsache ist: Nach seiner Machtergreifung im Jahr 2013 liess al-Sissi mehr als hundert Anhänger der Muslimbruderschaft hinrichten, dann liess er 23 neue Gefängnisse errichten – in denen darben derzeit etwa 65’000 Ägypterinnen und Ägypter als politische Gefangene. Wann und ob sie jemals wieder freikommen, ist völlig ungewiss.
Und was die zweite Behauptung betrifft, dass er kein Geld gestohlen habe: persönlich wohl nicht, aber die Milliardensummen, die er für die Verwirklichung seiner Grossprojekte aus der Volkswirtschaft abgezweigt hat (der Bau der neuen Verwaltungshauptstadt ausserhalb Kairos hat 58 Milliarden US-Dollar gekostet, andere Projekte angeblich weitere 200 Milliarden), die fehlen nun für den wirtschaftlichen Alltag der Normalbürgerinnen und -bürger. Aber Sissi meint, das sei durchaus zumutbar. Wörtlich sagte er: «Wenn Fortschritt und Entwicklung Hunger und Entbehrung notwendig machen, dann entscheiden die Ägypter sich für den Fortschritt – und niemand sagt: Essen wäre vorzuziehen.»
«Too big to fail»
Nun, offen zu sagen, was Sache ist, wagt in al-Sissis Reich fast niemand. Die Zahlen aber sprechen für sich: 33 Prozent der Bevölkerung (das sind etwa 36 Millionen Menschen) leben in Armut, Tendenz steigend. Die Inflation liegt aktuell bei 25,5 Prozent, Viele können sich selbst die Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten. Und der Staat, der Regierungsapparat, der scheint nur dank dem Zufluss von Geldern aus dem Ausland noch intakt. Regierungen in der arabischen Hemisphäre und im Westen fluten al-Sissis Ägypten unermüdlich mit Milliarden aufgrund der Meinung, das Land sei «too big to fail», konkret: aus Angst, dass Chaos in Ägypten unweigerlich zu Chaos in der ganzen Region führen würde. Daher erhöhte der Internationale Währungsfonds seine Kreditlimite für Ägypten um 5 Milliarden Dollar, und die USA überwiesen eben wieder 1,3 Milliarden – und fanden dafür die Schein-Begründung, die Menschenrechtslage im Land am Nil habe sich in den vergangenen zwölf Monaten erkennbar verbessert. Die Vereinigten Arabischen Emirate überwiesen sogar 35 Milliarden. Diese Summe allerdings erfolgt nicht in der Form eines Geschenks, sondern eines Handels: Ägypten überlässt im Gegenzug den Golf-Arabern ein wertvolles Küstengebiet für die Konstruktion eines Luxusresorts.
Ein nicht unbeträchtlicher Teil des so eingenommenen Geldes verschwindet allerdings wieder: Der Suez-Kanal schwemmte dem ägyptischen Staat in früheren Jahren bis zu 9 Milliarden Dollar in die Kasse – jetzt verbleiben davon noch etwa 4 Milliarden. Für den Rückgang sind die jemenitischen Huthi verantwortlich. Sie bedrohen und attackieren Frachtschiffe im Roten Meer, daher meiden viele Reedereien nun diese Route und transportieren ihre Frachten risikoärmer rund um den afrikanischen Kontinent statt durch den Suezkanal und das Rote Meer.
Verunsicherter Machtapparat
Ägypten steckt also, auch wenn das nach aussen durch pompöse Vorzeigeprojekte übertüncht wird, tief in einer Wirtschaftskrise. Droht ihm auch eine politische Krise und droht al-Sissi persönlich vielleicht doch ein Schicksal, wie es in Syrien der Diktator al-Assad erfahren musste? Al-Sissi ist seit Assads Sturz nervös, das liess sich schon an seiner eingangs zitierten Behauptung ablesen (dass an seinen Händen kein Blut klebe). In Ägypten wagten nur Grüppchen von jeweils einigen Dutzend der 136’000 syrischen Flüchtlinge Freuden-Kundgebungen über die Zeitenwende in ihrem Land, aber für die ägyptischen Sicherheitskräfte war auch das schon zu viel: Sie steckten total rund 300 Syrer ins Gefängnis, offenkundig überzeugt davon, dass von solchen Kundgebungen ein Funke auf breitere Schichten der ägyptischen Gesellschaft überspringen könnte und dass es von Freude über Assads Sturz nur ein kleiner Schritt wäre zu Freude über den Sturz des eigenen Diktators, also al-Sissis.
Das, nämlich al-Sissis Entmachtung, wird nun explizit in sozialen Medien gefordert, konkret in einem Hashtag mit dem Inhalt: «Jetzt bist du dran, Diktator» («innah dawruk `ayuha al-diktatur»). Autor ist ein Ägypter namens Ahmed al-Mansour, der im Ausland lebt, sich in Syrien der Gruppe «Hayat tahrir al-sham» vorübergehend angeschlossen hat und der erklärt: «Der Terror unter Sissi erfordert von uns Initiativen zur Wiederbelebung der Revolution.» Damit verweist er auf den arabischen Frühling von 2011, der zum Sturz Mubaraks führte. Kaum war der Hashtag auf dem Video in der ganzen arabischen Welt online, wurden in Ägypten schon mehrere Angehörige der Familie al-Mansours verhaftet.
Mini-Demonstrationen aus Freude über den Sturz Assads in Syrien und ein oppositionelles Video in den sozialen Medien sollten für al-Sissi eigentlich kaum der Rede wert sein – die harte Haltung des Regimes aber ist ein Anzeichen dafür, dass der Machtapparat in Kairo sich schon durch derart kleine oppositionelle Signale verunsichert fühlt.