Bericht von einer Flussfahrt mit der Solveig VII von Frankfurt nach Südfrankreich, fünfter Teil: Langsame Veränderungen der Umwelt richten kaum Schaden an.
Der Ausbau der Flüsse für die Binnenschifffahrt im Laufe der letzten vier Jahrhunderte hat die Umwelt zum Teil drastisch verändert. Aus mäandrierenden, sporadisch trocken fallenden oder sich zu seichten Rinnsalen verwandelnden natürlichen Gewässern wurde, wie beispielsweise im Falle der Saône, eine Kette von durch Staustufen getrennten Seen. Gleichzeitig schützte man das Umland durch Dämme vor Hochwasser, schnitt damit Altläufe vom fliessenden Wasser ab und zerstörte die auf periodische Überflutungen angewiesenen Auenwälder.
Nutzung für Schifffahrt und Wasserkraft
Mancherorts wurden die Flüsse mit dem Ausbau für die Schifffahrt auch für die Nutzung der Wasserkraft eingerichtet. Deutlich zu sehen ist dies zum Beispiel am Canal du Rhône au Rhin, der zwischen Montbéliard und Dole im oder neben dem Doubs verläuft. Alte Industriebauten, viele zu Ruinen zerfallen, zeugen von jener Zeit, als es noch keine Elektrizität gab und die direkte mechanische Nutzung der Wasserkraft, wie einst im Tösstal, Glarnerland und an vielen andern Orten der Schweiz, nur an flussnahen Standorten möglich war.
Hätte es damals schon so etwas wie eine Umweltverträglichkeitsprüfung gegeben, wären die meisten dieser Eingriffe wohl kaum oder höchstens mit stringenten Auflagen erlaubt worden. Ähnlich wie vor wenigen Jahren die Opponenten des geplanten Kanals für die Grossschifffahrt von der Saône zum Rhein hätten die hypothetischen Gegner solcher Eingriffe schon damals mit Recht darauf hinweisen können, dass der Bau des Kanals durch das Tal des Doubs die Natur der Flüsse und ihrer Umgebung vollständig verändern würde. Aber solche Gedanken machte man sich im 19. Jahrhundert kaum.
Anthropozentrische Sicht
Doch was meinen wir eigentlich mit den Begriffen «Natur» oder «Natürlichkeit»? – Leicht vergessen wir, dass «Natur» ein anthropozentrischer, d.h. auf die Wahrnehmung des Menschen ausgerichteter Begriff ist. Unsere Sicht der Dinge kommt erst recht ins Spiel, wenn wir – wie oft in Gutachten über die Umwelt – verschiedene (Natur-)Zustände miteinander vergleichen und dabei den einen höher bewerten als den andern.
Doch die Natur kennt keine Qualität; es ist der Mensch, welcher der Natur Qualität zuschreibt und dabei sehr stark aus dem jeweiligen Zeitgeist heraus argumentiert, je nachdem, was einer Epoche oder einer Interessensgruppe gerade wichtig ist: die Ablösung der menschlichen Muskelarbeit durch die Wasserkraft, die Schifffahrt, das Hobbyfischen oder der Reichtum der Vogelwelt.
Es liegt mir fern, mit dieser Feststellung die Umweltschutzanstrengungen in Frage zu stellen. Politik hat letztlich immer den Menschen im Fokus. Wenn sich im Laufe der Zeit unsere Vorstellungen darüber, was Natur und was gute Umwelt ist, verändern, darf die Umweltpolitik diese Veränderungen durchaus berücksichtigen. Wir sollen dabei einfach nicht vergessen, dass mit Umweltschutz direkt oder indirekt unsere Vorstellungen von Umwelt gemeint sind.
Das Schützenswerte von morgen
Das bringt mich zurück zu den Flüssen Frankreichs. Deren Schiffbarmachung hat zwar gewisse Ökosysteme verändert oder gar zerstört, aber gleichzeitig neue Ökosysteme geschaffen, welche heute für jene Menschen, welche mit dem neuen Zustand aufgewachsen sind, ebenso wertvoll sind wie für die Vorfahren die alten. Die Saône als Kette von Seen und mit schilfbestandenen Ufern ist zwar nicht mehr die Saône der austrocknenden Flussbetten, aber ein reichhaltiges Biotop ist sie trotzdem, wenn auch teilweise für andere Pflanzen- und Tierarten als Jahrhunderte früher.
Tatsächlich sind heute die weitgehend «künstlichen» (vom Menschen geschaffenen) Flusslandschaften Frankreichs wahre Fundgruben für Naturschützer und Ornithologen, umso mehr, da sie vielerorts von späteren zivilisatorischen Veränderungen unberührt blieben und ökonomisch weitgehend vergessen gingen. Wo gibt es in der Schweiz so viele Eisvögel wie an der Saône, wo den Bienenfresser (ein Vogel, so wunderbarer bunt wie der Eisvogel) wie im Canal du Rhône à Sète, wo Nachtigallen, Fischotter, Wasserschlangen und vieles mehr wie an den französischen Kanälen?
Erfinderische Natur
Aus Sicht der Natur sind die vom Menschen verursachten Veränderungen in vielen Fällen weniger apokalyptisch, als wir uns das manchmal einreden. Die Ökosysteme sind, lässt man ihnen nur genügend Zeit, enorm anpassungsfähig, robust und innovativ (um diesen aus der Welt des Menschen stammenden Begriff zu gebrauchen). Mein verstorbener ETH-Kollege Elias Landolt hat beispielsweise nachgewiesen, dass heute auf dem Gebiet der Stadt Zürich dank des enormen Reichtums an verschiedenen durch Gebäude, Strassen, Mauern, Geleiseanlagen und Bahndämme, Industriebrachen etc. gebildeten Biotope mehr Pflanzenarten leben als zur Zeit der ersten römischen Besiedlung am unteren Zürichsee.
Abgesehen vom schon fast selbstverständlichen Gebot, die dem Leben als Grundlage dienenden Ressourcen Luft, Wasser und Boden zu schonen, sollte eine vernünftige, naturbezogene Umweltpolitik nicht primär auf einen klar definierten «richtigen» und daher zu erhaltenden Zustand der Umwelt ausgerichtet sein, sondern vor allem die Geschwindigkeit von Veränderungen im Vergleich zur Anpassungsfähigkeit von Ökosystemen im Auge haben.
Besonders deutlich wird dies beim Klima. Wir wissen heute dank der Klimaforschung, dass es in der Geschichte der Erde auch ohne den Menschen immer Klimaveränderungen gegeben hat und unser heutiges Klima weder besser noch schlechter ist als das Klima früherer Epochen. Das Problem des Klimawandels ist die grosse Geschwindigkeit der vom Menschen bewirkten Veränderung, weil die dadurch ausgelösten natürlichen Anpassungsprozesse für die Biosphäre und für den Menschen mit Verlusten und Katastrophen verbunden sind.
Menschliche (schweizerische) Ordnungswut
Die Beschleunigung der Geschichte, die uns (dem Menschen und der Natur) keine Zeit mehr lässt für die Anpassung, hat viele Menschen aversiv für die Zukunft gemacht. Umweltschutz ist letztlich ein Kampf gegen die ständige und rasche Veränderung; sie ist auch ein Plädoyer dafür, der Natur und dem Menschen für die Anpassung Zeit zu geben, Übergangsstadien wie industrielles Brachland, Bauruinen, von der Natur zurückeroberte nicht mehr genutzte Geleiseanlagen etc. zu tolerieren, auch wenn uns dabei der Drang zum Schaffen von Ordnung in die Quere kommt.
Dem natürlichen Zerfall zuzusehen, das fällt dem Schweizer schwerer als dem Franzosen, und deswegen ist die Natur in Frankreich, dort wo sie vergessen ging, oft besser dran als bei uns. Übrigens: Langsamkeit, Zeit haben und Zeit lassen machen einen wichtigen Teil der Faszination des Reisens auf dem Wasser aus.
Nachtrag in eigener Sache: Mit diesem Artikel gehen die Solveig VII und mit ihr der Reiseberichterstatter in eine ungefähr dreimonatige Sommerpause. Ich hoffe, den Leserinnen und Lesern des Journal 21 ab Mitte August über die Fortsetzung unserer Reise berichten zu können.