Bericht von einer Flussfahrt von Frankfurt nach Südfrankreich, vierter Teil. Gedanken in einer Rhône-Schleuse
Wie von Geisterhand gezogen sinkt das schwere Eisentor unter die Wasseroberfläche. Zuletzt verschwindet das Geländer und hinterlässt noch für einige Sekunden ein paar Luftblasen auf dem Wasser, dann trennt uns nichts mehr vom Becken der Schleuse Sablons, halbwegs zwischen Lyon und Valence gelegen, eine der 14 Grossschleusen an der Rhone bis zum Mittelmeerhafen Port-Saint-Louis-du-Rhône.
Wie ein Olympiaschwimmbecken
Im gefüllten Zustand sieht die Schleuse fast harmlos aus, wie ein Olympiaschwimmbecken, von dem jeder Trainer träumen würde, 190 Meter lang, 12 Meter breit. Der Schleusenwärter, der uns 3 Kilometer vor der Schleuse über Funk freundlich versichert hatte, die Schleuse sei in zehn Minuten für uns bereit, hat das Einfahrtssignal auf grün gestellt. Lautlos gleitet die Solveig VII an einen der hinteren Schwimmpoller, der Matrose alias Sibyl wirft gekonnt die Leine über den Poller, ein kurzes Aufbrummen des Motors und das Schiff steht. Der Tiefenmesser des Schiffes zeigt 20 Meter. Stille Wasser gründen tief!
Die Musik der Schwimmpoller
Über Funk melden wir uns bereit. „Alors, je commence la manœuvre“ ist die Antwort. Ein akustisches Signal ertönt, nach kurzer Zeit taucht das Geländer des Tores wieder aus dem Wasser. Konzentriert lauschen wir auf jenes unverkennbare Geräusch, das manchmal wie eine Aeolsharfe tönt, dann wieder wie das leise Heulen der Sirenen vom andern Ufer des Zürichsees, wenn wieder einmal ein Test stattfindet. Es stammt von den zwölf Schwimmpollern, welche sich in ihren Nischen in Bewegung gesetzt haben. Kritisch beobachtet Sibyl jenen Poller, an dem wir festgemacht haben. Denn es ist schon vorgekommen, dass sich dieser in seiner Führung verkeilt hat und einfach oben stehen bleibt. Man mag nicht daran denken, was dann für Schiff und Mannschaft folgen könnte.
Ein kleines Kraftwerk
Während das Schiff, ruhig wie in einem Lift, der Schleusenwand entlang nach unten sinkt – 3 Meter pro Minute, stelle ich mit dem Echolot fest – macht der Physiker eine kurze Rechnung: Bei einem Schleusenhub von rund 15 Meter (so sagt meine Flusskarte) werden innerhalb von 5 Minuten total 33`000 Kubikmeter Wasser abgelassen. Dies entspricht einer potentiellen Energie von 2,5 Milliarden Joule (bzw. 700 Kilowattstunden) bzw. einer Leistung (Energie pro Zeit) von rund 8 Megawatt, was immerhin 20 Prozent der Leistung eines typischen Schweizer Flusskaufkraftwerkes entspricht. Und das alles für ein einziges Schiff von 17 Tonnen!
Die besondere Gestalt des Wassermoleküls
Was ist das eigentlich, dieses Wasser, das einmal als harmloser Tropfen daherkommt und die Pflanzen zum Wachsen bringt, ein anderes Mal, bei Hochwasser zum Beispiel oder bei einem Tsunami, als lebensdrohende Masse, welche alles zerstört, das ihm in den Weg kommt? Verstehen wir es besser, wenn uns die Wissenschaft sagt, Wasser bestehe aus H2O-Molekülen? Je zwei Wasserstoffatome würden sich mit einem Sauerstoffatom zu einem Gebilde zusammenfügen, so dass die beiden Wasserstoffatome wie die Ohren einer Mickey Maus Figur in einem Winkel von 105 Grad zueinander stehen, wie uns der Chemielehrer anhand eines Modells beigebracht hat. – Es sei dem Physiker verziehen, wenn er hier ein längst überholtes Bild eines Moleküls verwendet.
Übrigens: In der Schleuse Sablons wurden insgesamt ungefähr "10hoch33" solche Moleküle abgelassen – das ist eine Zahl, die aus einer Eins und 33 Nullen besteht, für die ich im Deutschen keinen Namen weiss. Und Sablons ist noch nicht einmal die höchste Schleuse an der Rhône. Den Rekord führt mit 23 Meter die Schleuse Bollène unterhalb des Défilé de Donzère.
Wasser, eine Flüssigkeit mit besonderen Eigenschaften
So unwichtig oder gar spitzfindig uns die Sache mit dem Wasserstoffmolekül vorkommen mag, dieses Molekül hat es in sich, auch wenn wir es nicht direkt sehen können, denn es ist dafür verantwortlich, dass ausgerechnet jene Flüssigkeit, ohne die es auf der Erde kein Leben gäbe, unerwartete Eigenschaften besitzt wie sonst kein anderer Stoff. Eine Besonderheit sei erwähnt: Normalerweise besitzt der feste Zustand eines Stoffes eine grössere Dichte als der flüssige, weil im Festkörper die Moleküle regulärer angeordnet sind und daher dichter gepackt werden können als in der ungeordneten Flüssigkeit. Zum Beispiel: Kühlt sich flüssiges Blei ab, sinkt das fest gewordene Blei ab.
Zum Glück schwimmt Eis auf dem Wasser
Doch nicht so beim Wasser: Eis ist weniger dicht als Wasser und schwimmt somit an der Wasseroberfläche. Diese einzigartige Eigenschaft des Wassermoleküls war und ist von enormer Bedeutung für die Entwicklung von Leben in kalten Regionen. Sänke nämlich Eis in einem See, das bei Lufttemperaturen unter dem Gefrierpunkt durch Abkühlung an der Oberfläche entsteht, an den Grund und machte damit an der Oberfläche neuem Wasser Platz, würden in kalten Klimaregionen auch tiefe Seen – wie der Baikalsee mit seinen 1600 Meter Wassertiefe – letztlich bis zum Grund zu Eis erstarren, was nicht gerade gute Bedingungen für das Überleben von Pflanzen und Tieren wären. Weil aber Eis aber auf dem Wasser schwimmt, schützt es das tiefer liegende Wasser wie eine Isolationsschicht vor weiterer Abkühlung. Tatsächlich wird auch in sibirischen Seen wie dem Baikalsee die Eisschicht kaum je dicker als zwei Meter; darunter bleibt das Wasser bei 3 bis 4 Grad, ideale Verhältnisse für das Überleben in der arktischen Kälte! Oder anders gesagt: Die bizarre Struktur der winzigen Wassermoleküle setzt einen wichtigen Rahmen für das Leben im Wasser.
Unterdessen hat das Wasser in der Schleuse Sablons das Niveau der Rhone unterhalb der Staustufe erreicht. Am andern Ende der Schleuse hebt sich das gigantische Schleusentor. Das Ausfahrtsignal wechselt auf grün, über Funk verabschiedet man sich gegenseitig, und die Solveig gleitet unter dem angehobenen Tor aus der Schlucht zwischen den hohen Schleusenwänden hinaus ans Licht. Vor uns liegt das glitzernde Band des Flusses, 27 Kilometer sind es bis zur nächsten Schleuse, wo wiederum "10hoch33" Wassermoleküle darauf warten, unsere Solveig sanft die nächste Staustufe hinunter zu geleiten.