Bericht von einer Flussfahrt von Frankfurt nach Südfrankreich, dritter Teil. Spielt Frankreich, das einstige Pionierland im europäischen Kanalbau, in der Binnenschifffahrt noch eine Rolle?
Nach dem engen Canal des Vosges kommt uns die weit in die Landschaft ausladende untere Saône wie ein Meer vor. Unterhalb St Jean de Losne sind die Schleusen auf die europäische Grössenklasse V (185 m Länge, 12 m Breite) ausgebaut. Gelegentlich fährt man an verlassenen Schleusenhäuschen und aufgelassenen, winzig anmutenden Schleusenbecken vorbei, welche bis nach dem Zweiten Weltkrieg für die Schifffahrt auf der Saône, ja fast überall in Frankreich, die Norm waren. Dennoch trifft man auf der Saône kaum Frachtschiffe an, und auch auf der Rhone unterhalb Lyon ist der Frachtverkehr im Vergleich zum Rhein oder der Mosel marginal.
Das geniale Prinzip der Kammerschleuse
Das war nicht immer so. Das geniale Prinzip der durch zwei Tore begrenzten Kammerschleuse, welche es erlaubt, durch Anhebung und Absenkung des Wasserniveaus in der Schleusenkammer die Energie des zu Tal fliessenden Wassers für flussaufwärts fahrende Schiffe zu nutzen, wurde zwar nicht in Frankreich erfunden. Man schreibt die Erfindung Leonardo da Vinci zu. Die ersten Wasserwege mit dieser Art von Schleusen wurden in Italien und in Holland gebaut.
Kanalbrücken und Tunnels
Aber Frankreich hat den Kanalbau bis an die Grenzen des Möglichen ausgereizt. Das Land des zentralen Regierens und der Ingenieurkunst wurde Ende des sechzehnten Jahrhunderts vom Schleusenbaufieber gepackt und kam davon bis ins zwanzigste Jahrhundert nicht mehr los. Frankreichs Wasserbauer schufen ein eindrückliches Kanal- und Flussnetz, scheuten dabei auch vor der Konstruktion von bis zu 600 Meter langen Kanalbrücken (wie die vom Ingenieurbüro Eiffel gebaute Brücke über die Loire bei Briare) und dem Bau von bis zu 6 Kilometer langen Kanaltunnels (wie der Scheiteltunnel des Canal de St Quentin im Norden Frankreichs) nicht zurück.
Fluss-Güterverkehr in Frankreich marginalisiert
Doch in der heutigen Binnenschifffahrtsstatistik nimmt Frankreich mit seinen knapp 9,000 Milliarden Tonnenkilometern im Vergleich zu den deutschen 55'000 oder den holländischen 36'000 Milliarden nur noch einen marginalen Platz ein, obschon das offiziell noch in Betrieb stehende französische Wasserstrassennetz mit 6700 km fast so gross ist wie das deutsche (7300 km). Der Grund liegt darin, dass rund drei Viertel von Frankreichs Wasserstrassen nur für die Schiffsklasse I (39 m Länge, 5m Breite) ausgelegt ist, durch welche Schiffe mit lediglich 300 Tonnen maximaler Zuladung fahren können, was wenig ist im Vergleich zur dem heutigen Normalstandard entsprechenden Klasse V, welche den Verkehr von Schubverbänden mit bis 5000 Tonnen Zuladung ermöglicht.
Die 300 Tonnen-Schiffe sind in der Konkurrenz mit dem viel schnelleren Strassentransport heute hoffnungslos benachteiligt. Gäbe es den touristischen Schiffsverkehr nicht, müsste Frankreich einen grossen Teil seiner Wasserstrassen wegen Nichtgebrauchs schliessen.
Wie kam die einstige Wasserstrassen-Nation Frankreich in diese traurige Lage? – Werfen wir zum besseren Verständnis für die Dramatik der Situation einen Blick in die Vergangenheit.
Schleusen gegen das Trockenfallen von Flüssen
Um die Schifffahrt auch auf Flüssen mit bei Trockenheit wenig Wasserführung zu ermöglichen, begann man schon vor 500 Jahren, die Flüsse durch den Bau von Wehren in eine Kette von langen Seen zu verwandeln, welche im Extremfall eine praktisch horizontale Wasserfläche und nur eine sehr kleine Strömung aufweisen. Zur Überwindung der Höhenunterschiede bei den Stauwehren wurden für die Schiffe Schleusen gebaut. So entstanden in Frankreich die ersten verlässlichen Wasserstrassen.
Die ca. 450 km lange Saône zum Beispiel wurde auf einer Länge von 400 km, also fast bis zur Quelle, schiffbar gemacht, obschon sie – insbesondere oberhalb der Einmündung des Doubs – kaum so viel Wasser wie die Thur führt. Im oberen Flussteil würde die Saône ohne Stauwehre bei Trockenheit buchstäblich auslaufen, wie das bei weit grösseren, nicht regulierten, d.h. frei fliessenden Flüssen, z. B. bei der Elbe, während Trockenheit beobachtet werden kann, wenn die Fahrrinnentiefe stellenweise unter einen Meter fällt. Auch der mächtige Rhein wird nach der Staustufe Iffezheim (40 km unterhalb Strasbourg) bis zur Nordsee zum freifliessenden Fluss und damit in trockenen Zeiten zum Sorgenkind der Rheinschifffahrt mit deutlichen Restriktionen bei der Beladung der Schiffe.
Schleusen gegen das Hochwasser
Zu wenig Wasser ist das eine Hindernis der Flussschifffahrt, zu viel das andere. Auch hier haben die Franzosen Abhilfe geschaffen und parallel zu Flüssen Kanäle gebaut, zum Beispiel den Canal latéral à la Loire zwischen Digoin und Briare.
Wo aus geografischen Gründen die Flussseite des Lateralkanals gewechselt werden musste, wurden im Laufe der Zeit die durch Hochwasser und Einsandung gefährdeten Kanäle, welche auf der einen Flussseite mittels Schleusen in den zu durchquerenden Fluss hinunter und auf der andern Seite wieder hinauf führten, durch Kanalbrücken ersetzt.
So entstand zum Beispiel die schon erwähnte Brücke bei Briare, ein technisches und architektonisches Wunderwerk. Der anschliessende Canal de Briare, der schon anfangs des siebzehnten Jahrhunderts entstand, führt übrigens über die Wasserscheide zwischen Loire und Seine und damit weiter nach Paris.
Kanäle über Wasserscheiden
Der Canal de Briare war der erste französische Kanal dieser Art. Nach dessen Bau kannte der Ehrgeiz der französischen Kanalbauer während 300 Jahren praktisch keine Grenzen mehr, wenn es um die Verbindung von verschiedenen Flusssystemen über eine Wasserscheide ging. Solange man nämlich Kanäle nur in oder entlang von Flussläufen bauen konnte, entstanden lauter isolierte Kanalsysteme, die zwar alle mit dem Meer, aber nicht untereinander in Verbindung standen.
Der Canal du Midi
Der berühmteste dieser Art von Verbindungskanal ist der Canal du Midi, auch Canal des Deux Mers genannt, weil er das Mittelmeer bei Sète mit dem Atlantik in Bordeaux verbindet. Die besten französischen Ingenieure haben sich unter Louis XIV um eine solche Verbindung bemüht, aber nur einer unter ihnen, Pierre-Paul Riquet, fand eine Lösung für das zentrale Problem jedes Wasserscheiden-Kanals: die Alimentierung des obersten Kanalstücks mit Wasser. Bevor Riquet mit dem eigentlich Kanal begann, baute er ein System von Stauseen und Zuleitungskanälen in den Montagnes Noires, welche den Canal du Midi auch im Sommer mit genügend Wasser versorgen.
Die Bauarbeiten dauerten von 1666 bis 1681. Riquet brachte sich um sein Vermögen und erlebte die Eröffnung des Kanals nicht mehr (erlitt nicht Louis Favre beim Bau des Gotthardtunnels ein ähnliches Schicksal?), aber er hat mit seinem heute zum Unesco-Welterbe gehörenden Bauwerk Geschichte geschrieben.
Neue französische Kanäle bis vor hundert Jahren
Vor allem im neunzehnten Jahrhundert entstanden in Frankreich mehrere weitere Kanäle zwischen verschiedenen Flüssen, so zum Beispiel der Canal du Rhône au Rhin und der Canal de la Marne au Rhin. Besonders erwähnt sei der Canal de la Marne à la Saône, weil er über Langres und Chaumont nach Chalon sur Marne führt und damit als direkte Konkurrenz zur damals schon existierenden Bahnlinie gedacht war, welche früher Basel mit Paris verband. Der Kanal weist einen fast 5 km langen Scheiteltunnel auf und wurde erst anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts fertig gestellt.
Scheiteltunnels baute man übrigens nicht in erster Linie, um bei der Überwindung der Wasserscheide ein paar Höhenmeter und damit ein paar Schleusen einsparen zu können. Der Marne-Saône Kanal weist zwischen Vitry-le-François und der Saône 114 Schleusen auf, da wäre es auf ein paar mehr nicht mehr angekommen. Aber der Tunnel vergrössert das Einzugsgebiet, aus dem Wasser in den obersten Kanalabschnitt gespeist werden kann - ein Mittel, an das Riquet 250 Jahre früher noch nicht zu denken wagte, obschon auch der Canal du Midi bereits einen kleinen Tunnel aufwies, allerdings nicht am Scheitelpunkt des Kanals.
Charles Freycinet normiert Schleusen und Frachtschiffe
Im Laufe der Jahrhunderte entstand in Frankreich ein mehrere tausend Kilometer umfassendes Kanalsystem mit sehr verschiedenen Schleusengrössen, was den freien Verkehr behinderte. Im Jahre 1879 ordnete der verantwortliche Oberingenieur Charles de Freycinet den Umbau sämtlicher Schleusen auf eine Standardgrösse von 39 m Länge und 5,2 m Breite an. Die entsprechenden Frachtschiffe der Klasse Freycinet (38.8 m Länge, 5,05 m Breite), heute Klasse I-Schiffe genannt, befuhren bis in die Sechzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts zu Hunderten das französische Kanalsystem.
Heute sind sie fast ganz verschwunden, und trifft man ausnahmsweise eine Freycinet Péniche auf der Moselle oder auf dem Rhein, kommt einem das Schiff im Vergleich zu modernen Frachtschiffen wie ein rührender Winzling und Relikt aus einer vergangenen Epoche vor, als Frankreich das Land der Flussschiffahrt par excellence war.
Das Verschwinden der Frachtschiffe
Wieso ist es das nicht mehr? Darüber kann man nur spekulieren, denn an Studien und Plänen für eine umfassende Modernisierung der französischen Binnenschifffahrt hat es nicht gefehlt. So standen die Pläne für einen Neubau des Canal du Rhône au Rhin von St Jean de Losne via Besançon nach Mulhouse, die logische Fortsetzung des Ausbaus der unteren Saône, kurz vor Baubeginn, als vor etwa zehn Jahren die französische Regierung beschloss, das Projekt zu begraben. Ausschlaggebend waren neben wirtschaftlichen Überlegungen vor allem Argumente des Umweltschutzes. – Und damit eröffnet sich ein weiteres Kapitel, das Verhältnis zwischen Umwelt und Binnenschifffahrt, aber darüber ein andermal.
Vielleicht war es gerade der Perfektionismus der frühen französischen Wasserbau-Ingenieure, welche das Land lange Zeit blind machte für die Notwendigkeit, die Wasserstrassen zu modernisieren. Auch das kommt vor in der Politik. Sicher hat sich, ähnlich wie bei den Eisenbahnen, die einseitige Ausrichtung der Mobilität von Menschen und Gütern auf die Strasse negativ ausgewirkt. Im Falle der Eisenbahn wurde diese Politik später durch den Bau des TGV-Netzes teilweise korrigiert, aber für die Wasserstrassen war es offensichtlich zu spät.
Rettet die Freizeitschifffahrt die Kanäle?
Hätten nicht ein paar initiative Unternehmer vor 40 Jahren mit der Vermietung von Wohnschiffen und gleichzeitig Idealisten aus der ganzen Welt auf zum Teil luxuriös umgebauten alten Flussschiffen zu vagabundieren begonnen, wären die meisten französischen Kanäle heute praktisch tot. Auch so braucht es von der staatlichen Organisation Voies Navigables de France (VNF) enorme Anstrengungen, um mit knapper werdenden Mitteln Kanäle und Schleusen im Stand zu halten.
Und dass die Neubauprojekte zum grössten Teil gescheitert sind, hat auch seine guten Seiten: Für den Hobby-Kapitän ist die heutige Freycinet-Wasserstrasse durch das Tal des Doubs etwas vom Schönsten, was es zu erleben gibt, bestimmt viel schöner als die einst geplante Grosswasserstrasse.