In Frankreich hatte sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine Theaterform entwickelt, die man als „ballet à entrées“ bezeichnet. Eine recht lockere Mischform von Dichtung, Musik und Tanz war dies. Jean-Philippe Rameau (1683-1764) wurde zum Meister dieser höfisch geprägten Unterhaltungsart. Denn für bestimmte Anlässe bevorzugte er im Gegensatz zur mehraktigen Oper einaktige Formen, die sich je nach Anlass und Gusto des Auftraggebers auch neu miteinander kombinieren liessen.
Zu dieser Werkgruppe gehört auch sein „Acte de Ballet“ mit dem Titel Pigmalion (so schreiben Rameau und sein Librettist den Namen). Das Werk wurde am 27. August 1748 in Paris an der „Académie Royale de Musique“ zur Aufführung gebracht. Der Mythos, der in seiner Vielgestalt uns nach wie vor darüber verunsichert, ob sich in ein eigenes Werk zu verlieben eine Strafe oder eine Erlösung ist, reicht von Ovid über Rousseau bis zu G.B. Shaw und zum Musical. Kurt Weills One Touch of Venus (1943) sowie Alan Jay Lerners My Fair Lady (1956) haben ihn beide zur Grundlage.
Das Motiv des schaffenden Künstlers und seiner ihn befeuernden Illusion von Vollkommenheit ist ein ideales Bühnenthema, in welchem sich Grössenwahn und Narzissmus herrlich ambivalent darstellen lassen. Rameaus Einakter kennt vier Figuren. Pygmalion ist der Künstler, für den es auch in der Liebe um Vollkommenheit geht und gehen muss. Dann ist da seine lebendig werdende Statue, die zum Beweis, dass sie lebt, natürlich auch singt. Ferner begegnen wir noch Céphise, Pygmalions bisheriger Geliebten, die auch durch das heftigste Bekenntnis ihrer Liebe den Künstler nicht von seiner Verliebtheit ins eigene Werk zu befreien vermag. Schliesslich geistert noch die Allegorie der Liebe (L’Amour) als die im Hintergrund wirkende Macht durch das Geschehen. Sie regelt die Handlung ganz nach eigener Gesetzlichkeit. Ein Grazienchor im Gefolge der Liebesgöttin darf auch noch dabei sein, mitsingen und mittanzen.
Ironisches Trauerspiel
Nach der Ouvertüre beginnt die Arie, um die es hier geht: „Fatal Amour, cruel vainqueur“: Pygmalion klagt den unser Schicksal bestimmenden Liebesgott an, ein grausamer Sieger in allen Dingen sein zu wollen. „Was für Pfeile hast du ausgesucht, um mir das Herz zu durchbohren?“ So singt der verzweifelte Pygmalion und bekennt, dass auch er danach trachtete, den Liebesgott zum Lehrmeister zu haben. Doch soll er jetzt dafür bestraft werden, dass er sich in eine tote Statue, sein eigenes Werk, verliebt? In etwas, das nie zum Leben erweckt werden kann? Straft der Liebesgott die Künstler, indem er diese tote Abbilder schaffen lässt, in welche sie sich heillos verlieben?
Da Statuen nicht leben, bleibt ihnen nur das vergebliche Leiden und Seufzen – „ gémir et soupirer en vain“. Rameau setzt eine hohe Flöte und in trauernde Klagefiguren sich ergehende Streicher ein, um die Verzweiflung des liebenden Pygmalion zu schildern, der mit seiner Verliebtheit in sein Werk weder aus noch ein weiss. Der Künstler bestürmt geradezu den Liebesgott mit der Frage: Warum nur tust du mir das an? Warum solche Grausamkeit mir gegenüber, der doch auch im Dienst der Liebe steht?
Hat man einmal dieses bohrend-leidende Fragen von Pygmalions Arie im Ohr, wird man es nur schwer wieder los. Man muss diese den Liebesgott weich machende Arie wieder und wieder hören. Als ob Rameau beweisen wollte, dass es die Musik ist, die Totes zum Leben erweckt! Céphise, die frühere Geliebte, beklagt sich, nunmehr ganz vernachlässigt zu sein. Sie kann es nicht begreifen, dass nicht mehr sie, sondern ein Kunstobjekt der Gegenstand der Verzauberung – „l’objet de cet enchantement“ – sein soll. In der folgenden Szene fliegt Amor durch den Raum und hält die Fackel der Liebesflamme über der Statue, die – wie könnte es anders sein - nun gleich lebendig wird und vom Sockel heruntersteigt. Liebe vollbringt Wunder, sie ist es, die Tote lebendig macht.
Ist die Kunst das wahre Leben?
Nur für ihren Schöpfer sei sie lebendig geworden, singt die Statue: „In deinen Augen erkenne ich, was ich in meiner Seele spüre.“ Über sich wisse sie nur, dass sie ihren Schöpfer liebe. Jetzt bietet der Liebesgott die Grazien auf, welche verschiedene Arten von Tanz anbieten. Denn zur Liebe gehören ja auch noch „Jeux et Ris – Spiele und Frohsinn“. Am Ende wünscht Pygmalion, dass der Liebesgott nicht nur über ihn, sondern über das ganze Volk seine Segnungen ausschütte. „Règne Amour, fait briller tes flammes“: Herrsche, Liebesgott, lass deine Flammen über alle Herzen leuchten, die dir untertan sind, denn du allein bist es, der uns das Glück im Leben verschafft! - So wird aus dem „Fatal Amour“ des Anfangs am Ende das grosse Liebesfest, begleitet von Lachen und vom Gesang und Tanz der Liebenden.
Als Rousseau sich des Themas im Jahr 1762 annahm, wollte er damit nicht die Kunst und den Künstler verherrlichen, sondern den Sieg der lebendig gefühlten Natur über alle Kunst und Künstlichkeit hinweg. Doch die Vision des in sein Werk verliebten Künstlers, der nur so die Kunst zum Leben zu befreien vermag, liess sich dadurch nicht wieder aus der Welt schaffen. Als ich vor Jahren einmal im Gespräch mit einem Schriftsteller aus der Schweiz auf die Frage kam, welches literarische Werk er denn für die einsame Insel auswählen würde, antwortete er unbeirrt: „Vermutlich doch ein Buch von mir, das mir gelungen scheint.“