Der Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine ist nicht allein das Resultat einer sich radikalisierenden Herrschaftspraxis des Regimes von Wladimir Putin. Sie ist in erster Linie Ausdruck einer Weltsicht, die sich seit einigen Jahrzehnten in der russischen Gesellschaft eingenistet und die mehr und mehr Deutungsgewalt über soziale, kulturelle und politische Konflikte gewonnen hat. Im Kern geht es dabei um die Rekonstruktion der russischen Nation sowohl als Imperium in den Grenzen von 1914 als auch um Russland als zivilisatorische Idee. Diese will Alteuropa von der Hegemonie eines als dekadent erachteten «atlantischen Westens» befreien und «Eurasien» zu einem eigenständigen Pol einer globalen Ordnung machen.
Allerdings ist diese Ideologie, die diese Vorstellung trägt, keinesfalls Ausdruck eines russischen Sonderwegs. Vielmehr handelt es sich um eine Vorstellungswelt, die auch andernorts Hegemonie und Deutungsgewalt über soziale und politische Konflikte zu gewinnen sucht und die sogar in enger Verwandtschaft mit parallel verlaufenden Radikalisierungen im Feld der Religion stehen.
Nationalistischer Ultraismus
Bei der Suche nach einer adäquaten Bezeichnung für die ideologischen Grundlagen der zeitgenössischen Herrschaftsordnung in Russland bietet sich der Rückgriff auf den Ausdruck Ultranationalismus an. Der überbordende Nationalismus, mit dem in den russischen Medien Politik inszeniert wird und mit dem vor allem der Krieg gegen die Ukraine und der Konflikt mit dem Westen gerechtfertigt werden, lässt sich mit dem bedeutungsstarken Ausdruck Ultra gut kennzeichnen.
Die in den 1960er Jahren in Italien popularisierte Ausdrucksweise Ultra für eine besonders fanatische Szene von Fan-Gruppen bei Fussballvereinen trug dazu bei, das mit der Vorsilbe Ultra die Idee einer besonderen Radikalität und eines Fanatismus verbunden ist. Dabei spielt die Doppeldeutigkeit der lateinischen Vorsilbe ultra durchaus eine Rolle: Zum einen meint Ultra die Übersteigerung eines Sachverhaltes, auf den sich diese Vorsilbe bezieht, zum anderen aber positioniert sich das, was mit dem Begriff beobachtet wird, jenseits des gewohnten sozialen, kulturellen oder politischen Rahmens.
Schon im 19. Jahrhundert wurde der Begriff «ultranationalistisch» sporadisch verwendet, um eine besonders nationalistische Haltung zu kennzeichnen. Nach dem 2. Weltkrieg nutzte die US-amerikanische Presse den Ausdruck, um japanische Nationalisten, die an der alten untergegangenen Ordnung festhielten, zu benennen. In den 1970er Jahren wurde der Ausdruck auch auf die israelische Politik bezogen. Damals waren es vor allen Dingen Berichte über die politischen Vorstellungen der entstehenden israelischen Siedlerbewegung im Umfeld von Gush Emunim und Maale Adumim, die mit dem Begriff «ultranationalistisch» interpretiert wurden. Auch stellte das US-amerikanische Time Magazine (22/23.5.1977) den damals designierten israelischen Premier Menachem Begin als Ultra-Nationalisten vor. Doch erst mit den Auseinandersetzungen zwischen den Nachfolgestaaten von Jugoslawien in den frühen 1990er Jahren gewann der Ausdruck Ultranationalismus seine spezifische Bedeutung. Er wurde dann im Kontext der Ukraine-Krise von 2014 reaktiviert.
Heute scheint weitgehend geklärt, welche Eigenschaften der Nationalismus hat, der mit dem Ausdruck «Ultranationalismus» charakterisiert wird: Ultranationalismus ist demnach ein Nationalismus, der jenseits der Ordnung einer liberalen Demokratie steht, der die Nation als einen als natürlich gewachsenen Volkskörper überhöht, der die Nation aus einer als amoralisch und dekadent erachteten Welt befreien will und so ihre «Wiedergeburt» anstrebt, der die Nation als kulturelle Ordnung verabsolutiert und zu einem Mythus verklärt und der die Nation in den Mittelpunkt einer politischen Religion stellt.
Religiöser Ultraismus
Auffällig ist, dass mit dem Beginn der Neudeutung des Begriffs Ultranationalismus in den frühen 1990er Jahren gleichzeitig jenes Phänomen zunehmend sichtbar wurde, das später als «ultrareligiös» bezeichnet werden sollte. Mit diesem Begriff wurde auf islamische religiöse Gemeinschaften Bezug genommen, in deren Selbstverständnis Religion als eine Institution des Heils aufgefasst wird, die jenseits der Welt und jenseits der überlieferten Ordnung der üblicherweise praktizierten Religion angesiedelt ist. Religion und Nation, die Zwillinge des 19. und 20. Jahrhunderts, konnten so gleichermassen überhöht und übersteigert werden, wobei im Kern der Prozess und die Rechtfertigung dieser Übersteigerung in beiden Vorstellungswelten grosse Ähnlichkeiten aufwiesen. Diese sind teils so gross, dass man Religion und Nation fast austauschen könnte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Ultranationalismus in seiner Vorstellung nicht nur als politische Religion agiert, sondern auch von bestehenden religiösen Ordnungen und Traditionen Gebrauch macht. Dies erklärt die enge Beziehung beispielsweise zwischen dem russischen Ultranationalismus und den Institutionen der russischen Orthodoxie. Ultrareligiöse Verbände hingegen beziehen sich fast nie auf das Konzept «Nation» und machen auch von Institutionen, die die Nation zu repräsentieren meinen, keinen Gebrauch. Aus ihrer Sicht ist Religion die einzig legitime Ordnung der Welt, die für sich keine zusätzlichen symbolischen Räume benötigt. Insofern ist Ultrareligiosität nicht direkt mit einem Nationalismus verbunden.
Ein wesentliches Merkmal der neuen Ultrareligiosität ist die Herausbildung einer terroristischen Praxis. Der neue religiös motivierte Terrorismus zeichnet sich dadurch aus, dass einzelne sich als Handlungsträger und Vollstrecker eines religiösen göttlichen Willens verstehen und dabei eine Gegnerschaft definieren, die sie als Feind Gottes begreifen und die daher keine Differenz nach Alter, Geschlecht oder Kultur zulässt. Grundlage ist die behauptete Berechtigung zu einer Selbstermächtigung, mit der der Terrorist Vergeltung für an «Gottes Ordnung angerichteten Verbrechen», die sich unter anderem in einer amoralischen Lebensführung und in dekadenten weltlichen Kulturen ausdrückten, verüben will. Entscheidend ist, dass sich der Handlungsträger selbst als Vollstrecker dieses religiösen Willens versteht und somit behauptet, dass die Religion auch und gerade durch ihn und seine Taten wiedergeboren werde.
«Säuberungen»
Genau dieses Muster aber findet sich auch in ultranationalistischen Auffassungen. Nur tritt an die Stelle des Begriffes Religion der Begriff Nation, an die Stelle «göttlich» wird «geschichtlich» gesetzt. Es ist also ein nationaler, geschichtlicher Wille, den Ultranationalisten durch ihre Ideologie und Praxis auszudrücken meinen. Ähnlich wie auch bei ultrareligiösen Welten ist dabei nicht entscheidend, ob dieser Vorstellung eine wirkliche Praxis zugeordnet ist. Wichtiger ist, dass es sich dabei um einen Denkstil und eine Erkenntnisordnung handelt, bei der Symbolik, Rituale, kollektives Wir-Erlebnis, Sprache und gemeinsam erlebte Feindbilder eine überaus wichtige, religiös anmutende Rolle spielen.
Die grausigen Massaker russischer Truppen an Zivilisten im nordwestlich von Kiew gelegenen Ort Butscha in der Ukraine dokumentieren das Ausmass, das eine solche ultranationalistische Selbstermächtigung annehmen kann. Sie sind darüber hinaus mehr als ein Exzess marodierender Soldaten: Sie sind fixer Teil einer militärischen operativen Praxis. Erstmals in der zweiten Phase des ersten Tschetschenienkrieges, als russische Truppen nach der Einnahme von Grosny kleinere Orte angriffen und im Dorf Samaschki am 7./8.4.1995 ein Massaker verübten, wurde die «Satschistka» (зачистка «Verräumung», «Wegräumung») zu einem militärischen Ausdruck. Eine Satschistka ist mehr als eine militärische Operation. Sie kombiniert Denkweisen, Überzeugungen und Verhaltensmuster, die hemmungslose Gewalt mit einem nachhallenden Subtext von Reinigung und Säuberung versehen, alles mit mechanischer Gleichgültigkeit organisiert und durchgeführt. Nach der Ernennung Wladimir Putins zum Ministerpräsidenten von Russland im August 1999 und dem drei Wochen später eröffneten zweiten Tschetschenien-Krieg wurde die Satschistka zu einem operativen Konzept der russischen Truppen und 1999 von der Zeitschrift Moskowskie Nowosti sogar zum Wort des Jahres gekrönt. Teil dieser operativen Satschistka-Gewalt sind Liquidierungen, Vergewaltigungen, Folter, Plünderungen und die Zerstörung von Wohnstätten. Zwischen 2000 und 2002 wurde sie in zahlreichen Orten in Tschetschenien zur gängigen militärischen Praxis, allerdings ohne dass internationale Sanktionen gefolgt wären.
In ähnlicher Weise agierten auch in Algerien ultrareligiöse Bünde wie der «Groupe islamique armé». Das Massaker von Rais, einem Dorf südlich von Algiers am 29. August 1997, bei dem bis zu 400 Frauen, Männer und Kinder auf brutale Weise getötet und Wohnstätten vernichtet wurden, erscheint heute fast wie eine Blaupause für die Gewalt in Butscha. Die Massaker an muslimischen Bosnierinnen und Bosniern in Srebrenica durch bewaffnete Formationen der Republika Srpska, die vom 11. bis 19. Juli 1995 andauerten, erfolgten ebenfalls im Kontext ultranationalistischer Vorstellungswelten.
Die Beziehung zur Religion
Ultranationalismus ist ein Phänomen, das nicht losgelöst von Religionen betrachtet werden kann. Dabei handelt es sich nicht allein um die Tatsache, dass die ideologische Praxis des Ultranationalismus der einer politischen Religion ähnelt. Vielmehr gibt es eine enge sachlogische Beziehung zwischen ultranationalistischen Vorstellungswelten und religiösen Welten. Wie oben schon angedeutet, besteht eine nicht zu übersehende Beziehung zwischen ultranationalistischen und ultrareligiösen Vorstellungen. Allein schon die Tatsache, dass sich beide Ultraismen in den frühen 1990er Jahren herausbildeten, lässt Gemeinsamkeiten vermuten. Diese Beziehung besteht nicht nur auf der Ebene der einzelnen Handlungsträger, sondern äussert sich auch darin, dass unter Umständen religiöse Institutionen einer ultranationalistischen Politik ihren Segen geben. Religionsgemeinschaften wie Teile der russisch-orthodoxen Kirche, sehen im Bestreben des Ultranationalismus zu einer Wiedergeburt der Nation in einer dekadenten und amoralischen Umwelt ein Anliegen, das auch kirchliche Institutionen teilen und das helfen könne, den kirchlichen Institutionen in der Gesellschaft wieder Geltung zu verschaffen.
Eine neue Symbolik
Ultranationalismus als politische Religion wie Ultrareligiosität als neue Form religiöser Ordnung begründen sich in einer radikalen Differenz zu einer als dekadent, amoralisch und verdorben interpretierten Welt. Das Besondere an Ultrareligiosität besteht allerdings darin, dass die Gegnerschaft auf jedwede mögliche Ordnung bezogen wird. Ultrareligiosität verabsolutiert Religion in einem Masse, dass kein Gegenüber in Form einer Weltlichkeit mehr geduldet wird. Zwar verabsolutiert der Ultranationalismus die Nation in gleicher Weise, allerdings nutzt er hierfür auch den Symbolraum der Religion, sofern diese nicht als Teil der dekadenten Weltlichkeit identifiziert wird.
Der neue «Ultraismus» ist hochsymbolisch. In der neueren islamischen Ausgestaltung der Ultrareligiosität spielt beispielsweise der erhobene Zeigefinger in geballter Faust eine überaus wichtige Rolle. Diese Geste symbolisiert nicht nur den inneren religiösen Diskurs in Richtung auf die Absolutheit eines islamischen Monotheismus, sondern vor allen Dingen die Verabsolutierung von Religiosität als einzige legitime Ordnung in der Welt und zugleich des Individuums, das sich durch den erhobenen Finger zum Träger dieser Religiosität erklärt. Es ist also das Zeichen ultrareligiöser Selbstermächtigung.
In ähnlicher Weise sucht sich auch der Ultranationalismus zu symbolisieren. Dabei geht es um Symbole, die die Selbstermächtigung des Einzelnen oder der Gruppe als Träger des Willens der Nation erkennbar machen. Die russische Propaganda macht sich dies zu Nutze und hat dieser Symbolik einen hohen Stellenwert zugewiesen. Als Markenzeichen bediente sie sich eines Zeichens in Form eines «Z», das sich sehr schnell zu einem Symbol für einen «gerechten Krieg gegen den Westen» etablieren konnte.
Das Z war ursprünglich eine militärische Kennzeichnung von operativen Einheiten, die schon 2011 bei russischen Militärfahrzeugen in Syrien gesichtet wurde. Hierbei handelt es sich um eine Kennzeichnung in lateinischer Schrift, die aber entsprechend kyrillischer Schreibgewohnheit gedeutet wird. Es wird vermutet, dass schon einige Tage vor dem Beginn des Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar russische Propagandastellen vorgeschlagen haben, eine solche Z-Markierung zu nutzen, um die Solidarität mit den beiden ukrainischen abtrünnigen Bezirken Donezk und Luhansk auszudrücken. Das Symbol sollte affektiv die Menschen dadurch ansprechen, dass es so dargestellt werde, als wäre es mit einer Art Pinsel und ein wenig nachlässig in weisser Farbe aufgetragen, so beiläufig, als hätte es irgendjemand dahingemalt. Zudem sollte es als Symbol der Zugehörigkeit dienen, so wie das Z an den Militärfahrzeugen zunächst ihr Operationsgebiet in der Ostukraine markieren sollte. Das Z kürzt so auch die russische Präposition за «für» ab und wird als Zeichen für die Aussage «wir werden euch nicht im Stich lassen» gelesen.
Dieses Z wird auch gerne in Farben des russischen militärisch genutzten Sankt-Georgs-Bands dargestellt. Diese aus zaristischer Zeit stammende Militärsymbolik wurde nach 2005 besonders genutzt, um den Sieg der sowjetischen Armeen über das nationalsozialistische Deutschland zu bezeichnen. Seit fast 10 Jahren repräsentiert das Sankt Georgs-Band auch die politische Loyalität zum Regime des Staatspräsidenten Putin.
Innerhalb weniger Tage nach dem 24.2.2022 konnte sich dieses Z als Symbol einer uneingeschränkten Loyalität zur russischen Politik durchsetzen. Darüber hinaus findet es auch zunehmend Gebrauch bei ultranationalistischen Gruppen ausserhalb von Russland und seinen Verbündeten. Dieses Z repräsentiert damit eine Einstellung und eine Werthaltung, die im Ultranationalismus einen ideologischen Ausdruck findet. Es dient dazu, die Selbstzuordnung zu einem «völkischen Wir» anzusprechen, das sich als Repräsentant der Nation ermächtigt sieht und das so gegen die «Feinde der Nation» zu Felde zieht. Diese Nation wird als sentimentale nostalgische Gemeinschaft verstanden. Das Z repräsentiert im Kern die rechtsradikale Idee von einer «Wiedergeburt der Nation» im «Wir» der Ultranationalisten.
Es lässt sich kaum abschätzen, wie weit ultranationalistische Vorstellungen in einer Gesellschaft reichen. Genau so wenig ist empirisch bestimmbar, wie gross die Akzeptanz einer Ultrareligiostät zum Beispiel in einer islamischen Umwelt ist. Gemessen an der Zustimmung, die Putins Politik vermeintlich in Russland geniesst, müsste man annehmen, dass mindestens zwei Drittel der russischen Bevölkerung einer solchen ultranationalistischen Vorstellungswelt zumindest zustimmend gegenübersteht. Allerdings bedeutet eine solche Duldung nicht, dass der soziale Ort des Ultranationalismus tatsächlich grössere Räume in der russischen Gesellschaft umfasst.
«Ultraismen» als globales Problem
Ultranationalismus ist kein Sonderweg der russischen Gesellschaft. Die Tatsache, dass er sich auch in anderen Gesellschaften entwickelt, deutet darauf hin, dass Ultraismen zu einem globalen Problem werden können. Sie spiegeln einen sozialen Wandel, durch den der klassische soziale Ort politischer Kultur, nämlich die bürgerliche Gesellschaft, zunehmend schrumpft und durch den neue soziale Nischen und Räume entstehen, in denen sich Ultraismen sinnstiftend etablieren können. In prekären Konstellationen wie in den immer wieder aufflackernden Konflikten um die religiösen Stätten in Jerusalem besteht die Gefahr, dass die politische Öffentlichkeit und die politischen Institutionen solchen Ultraismen Freiräume zugestehen, die dann gewaltförmig genutzt werden. So droht, dass in prekären Konstellationen solche Ultraismen die Deutungsgewalt über soziale, kulturelle und politische Konflikte gewinnen können. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine führt in drastischer Weise vor Augen, welche Gewalt einem Ultranationalismus innewohnt, vor allen Dingen dann, wenn er zu einer Staatsraison wird und wenn er sich in den Köpfen grösserer Teile einer Bevölkerung einnisten kann.