Seit dem Überfall auf die Ukraine mehren sich die Stimmen, die Putins Herrschaft als faschistisch bezeichnen. Handelt es sich dabei um blosse Gegenpropaganda? Nein, denn die Übereinstimmung zwischen Putins Politik und einer der massgeblichen Faschismus-Definitionen liegt klar auf der Hand.
Putin will bekanntlich die Ukraine entnazifizieren; im Gegenzug wird er in der Ukraine «Putler» genannt: ein Krieg der Worte, der Propaganda. Aufrüstung der Sprache ist seit jeher Bestandteil kriegerischer Auseinandersetzungen. Das müsste eigentlich für Zurückhaltung bei der Gewichtung der ins Feld geführten Begriffe sprechen.
Erst recht ist Vorsicht geboten beim Vorwurf des Faschismus. Zu oft wird mit Faschismus-Keulen gefuchtelt, wenn politische Emotionen hochkochen. Die Unterscheidungskraft des toxischen Begriffs hat denn auch arg gelitten.
Nicht erst seit diesem Ukraine-Krieg wird nun aber ernsthaft diskutiert, ob Russland von Putin nicht tatsächlich zu einem faschistischen Staatswesen umgeformt worden sei. Es haben sich Befürworter und Gegner dieser These, die jeweils Russland gut kennen, zu Wort gemeldet, und beider Argumente verdienen Gehör. Doch spätestens seit Putins Auftritt im Moskauer Olympiastadion vom 18. März kann es kaum noch Zweifel geben: Der russische Machthaber verfolgt ein faschistisches Projekt.
Soll eine derartige Beurteilung nicht bloss ein Auswuchs des herrschenden Propagandakriegs sein, so muss sie sich auf nachprüfbare Gründe stützen. Ein differenziertes und weithin anerkanntes Instrumentarium zur Definition und Erkennung von Faschismus hat der amerikanische Historiker Robert Paxton (*1932) entwickelt. Gemäss seiner Umschreibung gehören wesentlich zum Faschismus
- die obsessive Beschäftigung mit dem eigenen Niedergang, ein Gefühl der Demütigung und die Fixierung auf eine Opferrolle;
- der kompensatorische Kult von Einheit, Stärke und Reinheit der Volksgemeinschaft;
- eine autoritär geführte schlagkräftige Partei, die es versteht, traditionelle und neue Eliten einzubinden;
- die fortschreitende Unterdrückung demokratischer Freiheiten;
- eine ohne rechtliche und ethische Hemmungen in angeblich historischer Mission ausgeübte Gewalt;
- eine auf interne Säuberung und externe Expansion ausgerichtete Politik.
Man kann Paxtons Kriterien Punkt für Punkt in Putins Russland wiederfinden. Der Kremlchef hat seit Beginn seiner Herrschaft im Mai 2000 mit dem Instrument der «Vertikalen der Macht» ein autokratisch-pseudodemokratisches Regime installiert, das den konsequenten Durchgriff von oben ermöglicht. Verwaltung, Justiz, Medien sowie zunehmend auch Wirtschaft, Kultur und Zivilgesellschaft sind dieser in der Führerfigur konzentrierten Staatsmacht unterworfen. Der in immer schrilleren Tönen zelebrierte Führerkult und die drakonische Strenge bei der Verfolgung jeglicher Anzeichen von Opposition sind dabei, Russland in einen Zustand der brutalen Diktatur zurückzuwerfen, den das Land nur zu gut kennt.
In der spätestens seit der Krim-Annexion 2014 akuten Aggression gegen die Ukraine sind auch die ideologischen Triebkräfte des Putinismus unübersehbar zutage getreten. Putin verficht die Doktrin einer «russischen Welt», die dem dekadenten Westen kulturell und moralisch überlegen sei und diesen zurückdrängen müsse. Diesem Ziel ordnet er alles unter. Sein Nationalismus trägt imperialistische, irredentistische Züge: Wo immer Russisch gesprochen wird, muss Russland sein. Putins Modellvorstellung für sein russisches Reich geht gar noch über den sprachlich markierten Kulturraum hinaus. Bereits 2005 bezeichnete Putin den Untergang der Sowjetunion als «die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts». Seither ist es sein grosses Ziel, Russland wieder zu einer Grossmacht im territorialen Format der einstigen Sowjetunion zu machen.
Natürlich weiss der Kremlführer, dass sein Land auf absehbare Zeit weder das wirtschaftliche noch das militärische Potenzial zu einer derartigen Ausdehnung seiner Grenzen besitzt. Um die dafür nötigen Kräfte aufzubauen, so sein langfristiges Kalkül, braucht er zunächst eine absolut gefestigte Einheit im Inneren. Deshalb der aufgeheizte Führerkult, die Gleichschaltung der Medien und der Vernichtungskrieg gegen alles Oppositionelle. Bei der grossen Propagandaveranstaltung vom 18. März sagte Putin in Moskau den schrecklichen Satz: «Das russische Volk wird immer die echten Patrioten von den Lumpen und Verrätern unterscheiden können und sie einfach ausspucken wie eine in den Mund geflogene Mücke.»
So reden Faschisten. Einen solchen zum Feind zu haben bedeutet, dass man mit allem rechnen muss. Putin wird nie aufgeben. Sowieso jetzt nicht, da er möglicherweise partiell zurückstecken muss; aber auch dann nicht, wenn es gelingen sollte, nach langem Abnützungskrieg ein Patt zu erringen. Für Faschisten gibt es nie ein Zurück aus ihrem aggressiven Wahn. Deshalb hatte Biden bei seinem Polenbesuch mit der diplomatisch unmöglichen Aussage in einem fast schon prophetischen Sinne recht: «This man cannot remain in power.» Es war ein Wink ans russische Volk, den es spätestens dann verstehen wird, wenn es – in hoffentlich nicht zu ferner Zukunft – aus seiner nationalen Besoffenheit erwachen und einen ernüchterten Blick auf seine Lage werfen wird. Vorher kann höchstens der Krieg eingefroren werden; einen wirklichen Frieden wird es mit Putin nicht geben.