Die christlich-demokratische Europäische Volkspartei ist Siegerin der Europawahl 2024. Aber eine Mehrheit im EU-Parlament hat sie nicht errungen. Von ihrer Koalitionspolitik hängt vieles ab – auch ob Ursula von der Leyen nochmals zur Präsidentin der EU-Kommission gewählt wird. In Deutschland und Frankreich haben die Regierungen bei der Europawahl krachende Niederlagen erlitten. Der deutsch-französische Integrationsmotor kommt damit in einem wichtigen Moment ins Stottern.
Die EU wird wirtschaftsfreundlicher, weniger strikt in der Klimapolitik und härter in der Asyl- und Migrationspolitik werden. Das ist zu erwarten, nachdem das 720-köpfige Europäische Parlament vom 6. bis 9. Juni von den EU-Bürgerinnen und -Bürgern neu bestellt worden ist. Mitte-Rechts- und Rechtsaussenparteien haben Sitze gewonnen; liberale, linke und grüne Parteien haben Mandate verloren. Das EU-Parlament wird damit rechtslastiger. Proeuropäische Kräfte verfügen aber nach wie vor über eine Mehrheit im Strassburger Parlament.
Ob sich die EU-Politik wie erwartet verändern wird, hängt zu einem guten Teil davon ab, mit wem die christlich-demokratische Europäische Volkspartei (EVP), Siegerin der Europawahl 2024 und nach wie vor stärkste Fraktion im EU-Parlament, Koalitionen eingehen wird. Spannt sie wie oft in der Vergangenheit mit den Sozialdemokraten und den Liberalen zusammen, dürfte der erwartete Trend in der EU-Politik weniger ausgeprägt sein.
Möglich ist aber auch, dass die EVP – dem politischen Zeitgeist folgend – eine Koalition rechts der Mitte zu schmieden versucht und neben den Liberalen (Renew-Fraktion) auch mit der rechten Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformern (EKR) eine Partnerschaft eingeht. Das dürfte jedoch nicht einfach sein, denn in der EKR dominieren die postfaschistischen Fratelli d’Italia von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Eine Zusammenarbeit mit dieser Gruppierung goutieren nämlich nicht alle Abgeordneten der EVP und der Liberalen. Gelingt trotzdem eine Koalition rechts der Mitte, dürfte die EU-Politik verstärkt rechtslastig werden.
Nach der Wahl ist vor der Wahl
Mit wem die EVP eine Koalition eingehen wird, ist aber auch entscheidend für die Wahl der nächsten Präsidentin oder des nächsten Präsidenten der Europäischen Kommission, der Brüsseler Exekutive und Verwaltung der EU. Die EVP beansprucht diesen Posten für ihre Spitzenkandidatin, die bisherige Amtsinhaberin Ursula von der Leyen. Das ist aber kein Selbstläufer. Denn einerseits muss die deutsche Christdemokratin von den EU-Staats- und Regierungschefs erst einmal vorgeschlagen werden. Und andererseits muss von der Leyen eine Mehrheit der EU-Parlamentarierinnen und -Parlamentarier hinter sich scharen können. Das Parlament kann nämlich die Kommissionspräsidentin oder den Kommissionspräsidenten wählen (wie in globo auch die übrigen 26 von den EU-Mitgliedstaaten vorgeschlagenen Kommissionsmitglieder).
Von der Leyen hat nach der Europawahl 2024 gesagt, sie wolle mit allen Kräften zusammenarbeiten, die pro EU, pro Ukraine und pro Rechtsstaat seien. Speziell appellierte sie an die Sozialdemokraten und die Liberalen, sie zu wählen. Sie zeigte sich in der Vergangenheit aber auch offen für eine Zusammenarbeit mit der rechtskonservativen EKR. Eigentlich sollte die Mitte-Links-Koalition aus EVP, Sozialdemokraten und Liberalen aber für eine Widerwahl genügen. Sie verfügt über rund 400 Sitze im 720-köpfigen EU-Parlament.
Doch da in diesem kein Fraktionszwang herrscht und Abweichler von der Fraktionslinie eher die Regel als die Ausnahme sind, könnte es dennoch eng werden. Denn der Flirt von der Leyens mit Melonis EKR passt vielen Sozialdemokraten und Liberalen nicht. Und selbst in der EVP regte sich zuletzt Widerstand gegen von der Leyens ambitionierte Klimapolitik. Zur Erinnerung: 2019 wurde von der Leyen nur mit neun Stimmen mehr als notwendig zur Kommissionspräsidentin gewählt.
Der Integrationsmotor droht auszufallen
Im Übrigen dürfte die EU geschwächt aus der Europawahl 2024 hervorgehen. Denn in Deutschland und Frankreich haben die dortigen Regierungen in diesem europäischen Urnengang empfindliche Niederlagen erlitten. Die beiden Mitgliedstaaten gelten gemeinhin als Motor der europäischen Einigung; sie stiessen in der Vergangenheit immer wieder gemeinsam eine Vertiefung derselben an.
In den vergangenen Jahren war es insbesondere der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, der in programmatischen Reden Vorschläge machte, wie es mit der EU weitergehen soll. Nun ist seine Mitte-Bewegung Renaissance in der Europawahl aber vom rechtspopulistischen und EU-skeptischen Rassemblement national von Marine Le Pen deutlich überflügelt worden. Macron rief daraufhin in Frankreich Neuwahlen aus; diese sollen am 30. Juni und am 7. Juli (zweiter Wahlgang) stattfinden. Vom Ausgang dieser Wahlen dürfte abhängen, welche EU-bezogenen Initiativen Macron in Zukunft noch ergreifen kann.
In Deutschland gewann die christlich-demokratische CDU/CSU vor der rechtsextremen und EU-feindlichen Alternative für Deutschland (AfD) die Europawahl 2024. Die regierende Ampelkoalition von Bundeskanzler Olaf Scholz aus Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen wurde auf die nächsten Plätze verwiesen. Die Koalition, die bisher mehr durch interne Streitereien auffiel als durch zupackende und lösungsorientierte Politik, dürfte deshalb in näherer Zukunft damit beschäftigt sein, ihr Überleben bis zur nächsten Bundestagswahl im Herbst 2025 zu sichern. Grosse europapolitische Initiativen sind von ihr kaum mehr zu erwarten.
Der drohende Ausfall des deutsch-französischen Integrationsmotors kommt für die EU zu einem ungünstigen Moment. Die wirtschaftlichen Herausforderungen durch die USA und China werden stärker. Beide Nationen haben begonnen, Industriepolitik zu betreiben, und fördern ihre einheimischen Unternehmen mit Subventionen und/oder schützen sie durch Zollerhöhungen. Die durch Russland angegriffene Ukraine braucht weitere grosszügige finanzielle und militärische Hilfen, um als Nation überleben zu können. Der russische Expansionsdrang, der Frieden, Freiheit und Demokratie in ganz Europa gefährdet, muss eingedämmt werden. Und die EU braucht dringend Reformen, um in den nächsten Jahren weitere europäische Staaten aufnehmen zu können. Nicht weniger als zehn Beitrittskandidaten warten vor der Tür der EU, die aktuell 27 Mitgliedsländer umfasst. Das alles braucht eine handlungsfähige, geeinte und entschlossene EU.