Die rechtspopulistische Partei «Fratelli d’Italia» von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat zwar bei den Europawahlen erwartungsgemäss stark zugelegt. Dies jedoch auf Kosten der noch weiter rechtsstehenden «Lega» von Matteo Salvini. Unter dem Strich resultiert kein Rechtsrutsch.
Melonis Fratelli d’Italia sind mit 28,8 Prozent der Stimmen klar stärkste italienische Partei. Das ist sie schon seit den Parlamentswahlen vor anderthalb Jahren. Im Vergleich zu den Europawahlen vor fünf Jahren gewannen die Fratelli 22,3 Prozent der Stimmen.
Das mag auf den ersten Blick als Rechtsrutsch aussehen. Ist es aber nicht.
Denn: Die rechtspopulistische, EU-kritische und teils rassistische «Lega» von Matteo Salvini erlitt einen eigentlichen Zusammenbruch. Auch das war erwartet worden. Bei den Europawahlen vor fünf Jahren schwang die Lega mit 34,33 Prozent obenaus. Jetzt kam die Lega noch auf 9,0 Prozent der Stimmen, ein Verlust von 25,3 Prozent.
Also: Die Fratelli gewinnen 22,3 Prozent. Ihr rechtsaussen stehender Koalitionspartner Lega verliert 25,3 Prozent. Fast ein Nullsummenspiel.
24 Prozent für die Sozialdemokraten
Überraschend stark schloss der sozialdemokratische «Partito Democratico» (PD) ab. Er erzielte 24,1 Prozent der Stimmen, weit mehr, als ihm Umfragen voraussagten. Es ist das stärkste Ergebnis des PD seit Elly Schlein den Vorsitz der Partei vor gut einem Jahr übernommen hatte. Seit Jahren dümpeln die Sozialdemokraten dahin. Jetzt können sie erstmals seit langem ein kleines Erfolgserlebnis verbuchen.
Elly Schlein wurde in Lugano geboren und hat das schweizerische, amerikanische und italienische Bürgerrecht. Ihr Erfolg bei den jetzigen Europawahlen ist deshalb wichtig für sie, weil in jüngster Zeit innerhalb der Partei Stimmen aufkamen, die kritisierten, dass die Partei in der Wählergunst stagniert.
Absturz der Cinque Stelle
Die einst vom Komiker Beppe Grillo mitgegründete Protestpartei «Movimento Cinque Stelle» (M5S) hatte vor fünf Jahren 17,7 Prozent der Stimmen und 14 Sitze im Europaparlament gewonnen. Jetzt landete die Bewegung bei 9,7 Prozent. Die Cinque Stelle werden jetzt vom früheren Ministerpräsidenten Giuseppe Conte angeführt. Ihr Handicap ist, dass sie zu wichtigen Themen ständig andere Positionen einnehmen und oft zerstritten sind. Beobachter nennen sie einen «Gemischtwarenladen».
«Forza Italia»
Wer geglaubt hat, die Mitte-rechts-Partei «Forza Italia» werde nach dem Tod ihres Gründers Silvio Berlusconi zusammenbrechen, sieht sich getäuscht. Forza Italia gewann 9,6 Prozent der Stimmen. Die Partei wird vom gemässigten, sehr pro-europäischen Aussenminister Antonio Tajani angeführt. Sie ist zusammen mit Matteo Salvinis Lega Teil der von Giorgia Meloni angeführten Regierungskoalition.
Erfolg für Ilaria Salis
Erstaunlich ist das Ergebnis der linken Kleinpartei AVS (Alleanza Verdi-Sinistra), die auf Anhieb 6 Sitze erobert. Sie kommt auf 6,8 Prozent der Stimmen. Möglich gemacht wurde dies durch die Kandidatur von Ilaria Salis, einer linken Antifa-Aktivistin, die in Ungarn seit 15 Monaten gefangen gehalten wird.
Salis, eine Volksschullehrerin aus Monza, war am 11. Februar 2023, am «Tag der Ehre», an dem sich in Budapest einige tausend alte und neue deutsche und ungarische Nazis versammelten, gegen Rechtsextreme vorgegangen. Dabei soll sie nach Polizeiangaben drei Demonstranten verletzt haben. Sie bestreitet Gewaltanwendung.
Da die 39-Jährige jetzt den Einzug ins Europaparlament geschafft hat und damit Immunität geniesst, muss sie Ungarn laut dem geltenden Europarecht demnächst freilassen. In den Wahlkreisen, in denen Salis kandidierte, erzielte sie 6,6 Prozent der Stimmen. Im Nordwesten hat sie 123’000 Stimmen erhalten, 20’000 mehr als Aussenminister Antonio Tajani von der Mitte-rechts-Partei «Forza Italia».
Auch der sozialdemokratische «Partito Democratico» hatte Salis einen Listenplatz angeboten. Doch sie lehnte das Angebot ab. Die Sozialdemokraten empfindet sie als «verwässert», «zu wenig links» und «zu verbürgerlicht».
Dritter Pol: «Schlecht gelaufen»
Keine Chance hatte der frühere Ministerpräsident Matteo Renzi mit der vor gut zwei Monaten gegründeten Partei «Vereinigte Staaten von Europa»(Stati Uniti Europa, SuE). Die Formation erzielte 3,8 Prozent der Stimmen. Sie wurde von der Altpolitikerin Emma Bonino, einer Senatorin und früheren Aussenministerin, unterstützt.
Die SuE gehört zum sogenannten «Dritten Pol», dem einst auch Carlo Calenda, Parteichef von «Azione» angehörte. Doch Calenda und Renzi zerstritten sich. Folge ist, dass beide ein schwaches Ergebnis erzielten. Calendas Azione kam auf nur 3,3 Prozent der Stimmen. Renzi kommentiert: «Es ist schlecht gelaufen.» Hätte sich der Dritte Pol nicht zerstritten, hätte er vermutlich über 5 Sitze gewonnen.
Angekündigte Demütigung
Für Lega-Chef Matteo Salvini ist das Ergebnis eine Demütigung, auch wenn es sich schon lange abzeichnete. Salvini wird von der cleveren Rechtsaussen-Frau Meloni seit Monaten an die Wand gespielt. Er versucht sich mit aggressiven, populistischen, teils wüsten Worten in Szene zu setzen, um nicht ganz vergessen zu werden. Immer wieder griff er, der stellvertretende Ministerpräsident, die Ministerpräsidentin an. Den französischen Staatspräsidenten Macron bezeichnete er kürzlich als «kriminell». Man stelle sich vor: Ein stellvertretender Ministerpräsident eines wichtigen europäischen Landes bezeichnet den Staatspräsidenten eines anderen wichtigen europäischen Landes als «kriminell». Doch Salvinis Ausfälle zahlten sich offensichtlich nicht aus.
Für Meloni, die sich als Pro-Europäerin gibt, ist Salvinis Schlappe Balsam auf die Seele. Sie wird den Lega-Quälgeist nach dieser Wahl weniger sanft anfassen als bisher. Beobachter weisen darauf hin, dass das ernüchternde Ergebnis des EU-Kritikers Salvini das Europa-kritische und Putin-freundliche Geschrei der italienischen Rechtspopulisten vielleicht etwas dämpfen könnte.
Was tut Salvini jetzt? Tritt er aus der Koalition mit Meloni aus, um sich mehr profilieren zu können? Dann müssten die Karten in Italien radikal neu gemischt werden. Ohne die Lega hätte Meloni keine Mehrheit. Dann stünde Italien wieder einmal vor einer sehr ungewissen Zukunft.