Mindestens 27 Flüchtlinge sind Mitte der Woche auf dem Weg von Frankreich nach Grossbritannien im Ärmelkanal ertrunken. Der britische Zynismus und Frankreichs Umgang mit den Flüchtlingen schreien zum Himmel.
London und Paris spielen an der französischen Kanalküste mit den Flüchtlingen nun seit fast dreissig Jahren dasselbe unwürdige und reichlich dümmliche Spiel, das nun diese Tragödie zur Folge hatte.
Seit diesem Sonntag hat eines der 27 Opfer jetzt auch ein Gesicht und einen Namen. Mariam Nouri Hamadameen, eine 24-jährige Kurdin aus dem Norden des Irak, die nichts anderes wollte, als zu ihrem Verlobten nach Grossbritannien zu gelangen und dort mit ihm zu leben.
Hunderttausende Migranten vom Balkan, aus Nord- und Schwarzafrika, aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus Asien, sind seit den 90er Jahren in Calais gestrandet, wo man die Kreidefelsen von Dover mit blossem Auge erkennen kann. Sie hatten und haben überwiegend eine Monate oder Jahre dauernde Flucht hinter sich. Am Ende haben sie es nach Frankreich geschafft, wo ihnen noch knapp dreissig Kilometer bis ins erhoffte Eldorado Grossbritannien fehlen, um dann dort – und eben nicht in Frankreich – einen Asylantrag stellen zu können.
Augenauswischerei seit dreissig Jahren
Seit einer ganzen Generation weiss man jetzt, dass diese Menschen, koste es, was es wolle – und sei es, wie man sieht, das Leben – nach Grossbritannien wollen. Der Gründe sind viele: weil sie die dortige Sprache sprechen, weil sie bereits Familie oder Freunde im Königreich haben, oder weil man dort angeblich leichter politisches Asyl bekommt, aber auch weil der Zugang zum Arbeitsmarkt einfacher ist, man leichter Schwarzarbeit finden kann und im Alltag seltener von der Polizei kontrolliert wird.
Trotz dieser Tatsache tun die Politiker auf beiden Seiten des Ärmelkanals seit drei Jahrzehnten so, als könnten sie dieses Phänomen und die Flüchtlinge selbst einfach aus der Welt schaffen: durch martialische und aufgeblasene Worte, zusätzliche Baumassnahmen, immer höhere und längere Zäune um den Hafen von Calais, entlang der Zugstrecken und Strassen der Region. 65 Kilometer Metallgitter und Stacheldraht gibt es inzwischen, und sie verleihen Teilen der nordfranzösischen Stadt und ganzen Landstrichen in der Umgebung das Aussehen eines Hochsicherheitstrakts unter freiem Himmel.
Glauben diese Politiker, das Phänomen aus der Welt schaffen zu können durch noch mehr Polizei, durch Repression und tagtägliche Drangsalierungen aller Art gegenüber den Flüchtlingen, ja sogar auch gegenüber den freiwilligen Helfern der verschiedenen NGOs, die nun seit Jahrzehnten die Gestrandeten mit Essen, Kleidung oder Zelten versorgen?
Schleppern das Handwerk legen?
Sie mögen auch jetzt, nach der Tragödie, wieder so laut und so scharf tönen, wie sie wollen. Die verantwortlichen Politiker aller Couleurs in London und vor allem in Paris haben nichts aus der Welt geschafft, keines der Probleme gelöst und vor allem niemals wirklich dafür gesorgt, dass das menschenunwürdige Dasein der Flüchtlinge, die an der französischen Kanalküste oft monatelang regelrecht vor sich hinvegetieren, ein Ende hat oder zumindest gelindert wird.
Ja nicht mal ihren hilflosen Diskurs haben diese Politiker geändert, der heute kein anderer ist als der ihrer Vorgänger Ende der 90er Jahre.
Gebetsmühlenhaft ertönt dieselbe Musik, so auch nach der jüngsten Tragödie: Wir müssen die Grenze noch besser sichern und vor allem, ja vor allem den kriminellen Schleppern das Handwerk legen. Die widersinnige Logik, die der Bevölkerung immer wieder von neuem aufgetischt wird, behauptet: Sind erst mal alle Schlepper im Gefängnis oder verhindert man, dass sie überhaupt tätig werden können, dann gibt es auch keine Flüchtlinge mehr.
Barer Unsinn! Nicht nur, dass Frankreich seit dreissig Jahren unfähig war, den Schleppern an der Kanalküste das Handwerk zu legen, sondern jeder, der sich ein wenig mit dem Flüchtlingsthema beschäftigt hat, weiss auch: Je schwieriger es ist, zu fliehen und eine Grenze zu überschreiten, desto mehr sind Flüchtlinge eben auf Schlepper angewiesen. Dies mag für viele empörend klingen, aber so ist es.
Eine lange Geschichte
Begonnen hat in Calais alles Mitte der 90er Jahre mit Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien, gefolgt von Abertausenden, die 1998/99 dem Kosovokrieg entflohen waren, bevor dann die ersten Flüchtlinge aus Afghanistan, dem Irak, aus Iran und aus Schwarzafrika eintrafen.
1999, unter Präsident Chirac, beauftragte die damalige sozialistische Kohabitationsregierung von Lionel Jospin das Rote Kreuz damit, ein Aufnahmezentrum für die Flüchtlinge zu errichten. Es entstand sieben Kilometer von Calais entfernt in einer aufgelösten Industriehalle unweit des Strandes von Sangatte und war ursprünglich für maximal 400 Menschen vorgesehen. Zwei Jahre später waren es zeitweise 1’800, die dort Zuflucht gefunden hatten. Schon damals war das Klagen über die Lebensbedingungen der Migranten an diesem Ort gross, aber immerhin: Sie hatten noch ein Dach über dem Kopf.
Dann aber kam Nicolas Sarkozy, der ab Mai 2002 für zwei Jahre lang das Amt des Innenministers bekleiden sollte. Und er nahm sich im Stil des grossen Zampanos unmittelbar der Sache an. Sangatte sei, was die hygienischen Bedingungen angeht, nicht mehr tragbar. Vor allem aber wirke es wie ein Magnet für illegale Einwanderer von überall her, so seine Worte.
Im Dezember 2002 wohnte er persönlich, von Dutzenden Kameras begleitet, der Räumung des Flüchtlingslagers bei und labte sich am Image des starken Mannes. Nur wenige Jahre später sollte in Calais aber alles nur noch schlimmer werden.
Der Vertrag von Le Touquet
Nach der Räumung von Sangatte hat der umtriebige Innenminister Sarkozy 2003 dann mit Grossbritannien über die Flüchtlingsfrage verhandelt und am Ende des Jahres im Namen Frankreichs den heute berühmt-berüchtigten Vertrag von Le Touquet unterzeichnet.
Dieser Vertrag beinhaltet nicht weniger, als dass Frankreich sich bereit erklärt hat, im eigenen Land an der südlichen Küste des Ärmelkanals die britische Grenze zu kontrollieren und zu schützen. Im Gegenzug akzeptierte Grossbritannien damals die Aufnahme von mehreren tausend Flüchtlingen aus Calais und Umgebung, doch das war es dann auch.
Seitdem hadert man in Paris damit, dass die Verantwortlichen damals blauäugig akzeptiert haben, die britische Grenze de facto auf französisches Territorium zu verlegen und dass man jetzt seit bald zwanzig Jahren mit der grotesken Situation konfrontiert ist, dass französische Ordnungskräfte damit beschäftigt sind, Menschen daran zu hindern, Frankreich zu verlassen – über eine Grenze, die seit dem Brexit nicht mal mehr eine zwischen zwei EU-Staaten ist, sondern eine EU- Aussengrenze. Im Grunde ist dies dieselbe Situation, wie sie nun seit Jahren an Libyens Küsten herrscht.
Vor einigen Jahren haben selbst Politiker seiner eigenen Partei Nicolas Sarkozy vorgeworfen, eine schwere Verantwortung für das fortwährende Fiasko der Flüchtlingspolitik in und um Calais auf sich genommen zu haben. In den letzten Monaten ist verstärkt davon die Rede, dass der Vertrag von Le Touquet unbedingt neu verhandelt werden müsste. Doch Frankreich hat bisher nichts Entscheidendes in dieser Richtung getan und Grossbritannien wird sich mit Sicherheit stur stellen.
Die Dschungel von Calais
Im Jahr 2009 erinnerte sich Nicolas Sarkozy, inzwischen Staatspräsident geworden, erneut an Calais und die Flüchtlinge. Diese waren natürlich nach der Schliessung des Rotkreuzzentrums von Sangatte weiter nach Calais geströmt. Da es aber kein Zentrum mehr gab, hatte sich das gebildet, was man danach ein knappes Jahrzehnt lang den «Dschungel von Calais» nennen sollte: notdürftige Lager irgendwo in den Dünen rund um die Hafenstadt, in denen Ende der Nullerjahre mindestens tausend Gestrandete oft monatelang notdürftig hausten und auf eine Gelegenheit warteten, auf einem Lastwagen versteckt, die Überfahrt nach Grossbritannien zu schaffen.
Präsident Sarkozy schickte 2009 seinen «Minister für Integration und nationale Identität» – so hiess das Ministerium damals wirklich –, begleitet von mehreren Bulldozern und einer Meute von Kameras in den Dschungel und liess diesen dem Erdboden gleichmachen. Sarkozy, der Macher, hatte wieder ein Problem gelöst. Oder doch nicht?
Nur wenige Jahre später, vor allem aber seit dem grossen Flüchtlingsjahr 2015, schossen rund um Calais erneut gleich mehrere Dschungel aus dem Boden, die am Ende, im Oktober 2016, von über 8’000 Migranten bevölkert waren.
Zu diesem Zeitpunkt unternahm der französische Staat dann die einzige, echte Anstrengung während all dieser drei Jahrzehnte, das Problem einmal ernsthaft und einigermassen human in Angriff zu nehmen. Die Dschungel wurden zwar ebenfalls aufgelöst, aber sämtliche Bewohner wurden in quer über Frankreich verstreute Aufnahmezentren gebracht, erhielten die Möglichkeit, Asylanträge zu stellen, Französisch zu lernen und Berufsausbildungen zu beginnen. Das Resultat, nur ein Jahr später: 42 Prozent der 8’000 damals betroffenen Migranten hatten inzwischen in Frankreich Asyl erhalten.
Vom Lastwagen auf die Boote
Das war vor vier Jahren und hat trotz allem natürlich weitere Flüchtlinge nicht daran gehindert, sich erneut in Richtung Calais auf den Weg zu machen. Dort hatte man inzwischen aber den Hafen und den Ärmelkanaltunnel derart hermetisch abgeriegelt und die Kontrollen der LKWs so weit verschärft, dass es für die Migranten auf diesen Wegen so gut wie kein Durchkommen mehr gibt.
Die Folge: Im Jahr 2018 begannen die Überfahrten mit kleinen Schiffen und Schlauchbooten in Richtung englischer Südküste – und haben seitdem rasant zugenommen. Seit Jahresbeginn haben mehr als 30’000 Flüchtlinge Frankreich auf diesem gefährlichen Weg verlassen, rund 8’000 mussten von der Seenotrettung geborgen werden, etwa 22’000 haben es nach Grossbritannien geschafft. Am 11. November waren es fast 1’200 an einem einzigen Tag.
Seit 2017 hat sich der Umgang der französischen Behörden mit den Flüchtlingen erneut deutlich verhärtet. In den letzten Jahren wird alles getan, damit die in Calais, Dünkirchen und anderswo an der Kanalküste blockierten Migranten nie zur Ruhe kommen, nirgendwo wirklichen Schutz finden und keine Lager mehr errichten können. Sie sind zum Umherirren verdammt.
Der französische Staat scheint bemüht, dauerhaft ein möglichst feindliches und abschreckendes Klima zu schaffen und lässt in diesem Zusammenhang seine Polizisten einen wahrlich unmenschlichen Job machen. Letztere sind nun seit Jahren gehalten, sobald eine Gruppe von Flüchtlingen irgendwo eine Art Lager aufbaut, sie sofort zu vertreiben.
Häufig zerfetzt die Polizei bei diesen Aktionen die Zelte und nimmt den Flüchtlingen die letzten Habseligkeiten. Ja, die Polizei schikaniert sogar mit schöner Regelmässigkeit die Hilfsorganisationen vor Ort, und dies selbst bei Essensausgaben für die Bedürftigen. Alle Proteste der letzten Jahre, auch von namhaften Künstlern, oder lange Hungerstreiks von Aktivisten gegen dieses vom Staat gebilligte Vorgehen gegenüber den Migranten haben bislang an der Situation nichts geändert.
Eskalierter Streit zwischen Frankreich und Grossbritannien
Nach der jüngsten Tragödie beteuerte Präsident Macron jetzt, Frankreich werde nicht zulassen, dass der Ärmelkanal sich in ein Seegrab verwandle. Grosse Worte, wie sie Frankreichs Präsident zu sprechen weiss! Nur werden sie an der Situation der Flüchtlinge nicht sonderlich viel ändern.
Kaum waren Macrons Worte gesprochen, beklagte Premierminister Johnson eine mangelnde Kooperation Frankreichs bei der «Lösung des Flüchtlingsproblems» und drohte, künftig die in Grossbritannien gelandeten Migranten wieder nach Frankreich zurückzuschicken. Präsident Macron wurde darüber per Twitter unterrichtet, wo Johnson einen Brief an ihn gepostet hatte, noch bevor dieser Brief im Elysee angelangt war.
Seitdem streiten die beiden Hauptstädte. Die Spannungen zwischen Downig Street und Élyséepalast waren schon lange nicht mehr so gross. Fast stündlich nehmen sie weiter zu.
Es handle sich, so Macron, um ein seriöses Problem. Also werde man zunächst mit seriösen europäischen Partnern zusammenarbeiten und dann sehen, was man mit den Briten erreichen kann, sobald diese wieder seriös geworden seien.
Dieser Äusserung vorausgegangen war ein diplomatisch eher aussergewöhnlicher Schritt: Frankreichs Innenminister hat nach Johnsons Drohung seine britische Amtskollegin von einem Treffen mehrerer EU-Innenminister in Calais wieder ausgeladen. Typisch für die Herangehensweise an das Flüchtlingsproblem am Ärmelkanal: Dieses Treffen am Sonntag stand ausschliesslich unter den Themen des Kampfs gegen illegale Einwanderung und der Bekämpfung des Schlepperwesens.
Einzig konkretes Ergebnis des Treffens am Sonntagabend: Die europäische Grenzschutzagentur Frontex stellt ab kommender Woche ein Flugzeug zur Überwachung der französischen Küste und der Gewässer des Ärmelkanals.
Und die einzige gute Nachricht aus dieser Region: Das Wetter dort ist im Moment derart schlecht, dass sich mit Sicherheit für einige Tage keines der kleinen Boote aufs Meer und Richtung Grossbritannien wagt und dementsprechend keine weiteren Toten zu erwarten sind.