In Afghanistan, das „von ausländischen Soldaten befreit ist“, sind jetzt viele Frauen und Männer Opfer brutaler Gewalt und Erpressungen durch die siegreichen Taliban. Die Taliban-Krieger haben nicht allein die Weltmacht USA gedemütigt, sondern den ganzen Westen, auch unser Land. Wie regiert die Schweiz auf die Verzweiflung und die Befürchtungen zahlloser Menschen in Afghanistan?
Ein Hilferuf
Ein Beispiel: Mitglieder der afghanischen Botschaft, die bei der Uno in Genf und bei der Schweiz akkreditiert ist, sind besorgt um Angehörige in Afghanistan. Diese gelten für die Taliban als Verräter, weil sie mit der sich inzwischen aufgelösten Regierung zusammengearbeitet haben.
In einem Schreiben an die schweizerische Vertretung bei der Uno in Genf haben sie gefragt, was unternommen werden könnte zugunsten ihrer in Afghanistan gefährdeten Angehörigen. Die schweizerische Vertretung hat das Schreiben an die zuständige Stelle, an das Staatssekretariat für Migration (SEM), weitergeleitet. Die Antwort des SEM, welche die Schweizer Diplomaten ihren afghanischen Kollegen weitergeleitet haben, hält u. a. Folgendes fest: Bedrohte Personen, die zu ihrem Schutz in die Schweiz einreisen möchten, hätten die Möglichkeit, sich persönlich bei einer schweizerischen Botschaft zu melden und um Aufnahme zu bitten. Gleichzeitig wird präzisiert, dass die direkte Aufnahme von Personen aus Afghanistan gegenwärtig im Prinzip auf Schweizer Bürger, afghanische Angestellte der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und ihrer engsten Familienangehörigen beschränkt sei.
Bürokratisches schroffes Nein
Es handelt sich nach meiner Meinung um eine bürokratische, ja zynische Antwort, die mit vielen höflichen Formeln versehen ist, aber keinerlei Verständnis und Mitgefühl zum Ausdruck bringt. Darauf habe sich der afghanische Botschafter direkt beim Staatssekretariat für Migration erkundigt und zur Antwort erhalten, dem Schreiben, das die Botschaft bekommen habe, sei nichts beizufügen.
Ist das ein Beispiel für die humanitäre Tradition der Schweiz? Es ist ein Hohn, dass vorgeschlagen wird, man könne ein humanitäres Visum bei einer schweizerischen Botschaft beantragen, umso mehr als unser Land in Afghanistan keine Vertretung hat und das Staatssekretariat wissen muss, dass es den Familienangehörigen der afghanischen Diplomaten praktisch unmöglich ist, zur nächsten Botschaft nach Islamabad in Pakistan zu reisen. Diese Familienangehörigen sind jetzt in grosser Gefahr und gegenwärtig haben sie nicht die Möglichkeit, ihr Land zu verlassen; sie erhalten keinen Schutz unseres Landes.
Bundesrat Cassis sollte die humanitäre Tradition hochhalten
Weshalb haben unsere Diplomaten in Genf das Staatssekretariat nicht um eine menschlichere Antwort ersucht? Weshalb haben sie sich bei ihren afghanischen Kollegen nicht für die schroffe Antwort entschuldigt? Und weshalb hat Aussenminister Ignazio Cassis, der die humanitäre Tradition der Schweiz verteidigen sollte, nicht seine Kollegin Karin Keller-Suter angerufen?
Es geht nicht darum, vor der Welt gut dazustehen, aber es geht darum, Menschen in Lebensgefahr zu retten. Die afghanischen Diplomaten und Beamten in Genf haben eine enge Beziehung zur Schweiz: Unsere Behörden sollten deshalb auf ihren Hilferuf nicht bloss mit Achselzucken reagieren.