„Eine sichere Ankunft in Europa für Flüchtende ist möglich mittels eines humanitären Visums für jene Personen, die in ihrem Land verfolgt sind; sie könnten es bei einer Botschaft vor Ort beantragen. Die Schweiz kennt bereits ein solches Visum und könnte bei dessen Einführung auf europäischer Ebene eine Pionierrolle spielen.“ Das ist einer der Vorschläge von Etienne Piguet, Professor an der Universität Neuenburg, den er kürzlich in Bern an der Jahrestagung der Eidgenössischen Migrationskommission – er ist deren Vizepräsident – den über zweihundert Zuhörern aus zahlreichen Hilfswerken sowie des Bundes, der Kantone und Gemeinden vorstellte.
Resettlement-Flüchtlinge besser aufgenommen
Es sei zudem notwendig, europaweit das Resettlement zu koordinieren, das heisst, Flüchtlinge aus einem Lager in Europa (zum Beispiel in Griechenland oder im Mittleren Osten) in ein europäisches Gastland zu überführen. Der Bundesrat hat gemäss den Angaben von Etienne Piguet in diesem Jahr beschlossen, pro Jahr 800 solche Flüchtlinge aufzunehmen. Zu diesem Resettlement haben auch besonders verletzliche Personen, alte und kranke Menschen, Verwundete sowie schwangere Frauen Zugang, die schutzbedürftig sind, jedoch nicht in der Lage wären, eine lange und gefährliche Reise anzutreten.
Durch Resettlement werden nur sehr wenige Flüchtlinge in den europäischen Ländern aufgenommen, im Unterschied zu Kanada und Australien. Diese Art der Aufnahme sollte auch deshalb wirksam gefördert werden, weil sie nach Piguets Meinung von der Bevölkerung eher akzeptiert werde. Jene Flüchtlinge, die auf verschlungenen Wegen ohne Bewilligung zu uns gelangen würden auf grösseres Misstrauen stossen.
Wunschziel Europa
Es heisst oft, Europa sei gegenüber dem riesigen asiatischen Raum auf der Verliererseite. Europa bleibt jedoch das Wunschziel vieler Flüchtlinge. Migration und Asyl können jedoch nicht von einzelnen Staaten gemeistert werden. Es drängt sich eine Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg auf.
Für die Zuteilung der Flüchtlinge in der Europäischen Union ist ein fairer Verteilschlüssel notwendig, der die wirtschaftliche Kraft sowie Grösse und Einwohnerzahl der Aufnahmeländer berücksichtigt. Auch die Schweiz soll sich daran beteiligen, betonte Etienne Piguet. Es sei jedoch unhaltbar, dass einzelne EU-Staaten, welche europäische Werte wie Solidarität hochzuhalten haben, sich weigern können, Flüchtlinge aufzunehmen, ohne dafür Sanktionen auferlegt zu bekommen. Eingangstore zu Europa sind Griechenland, Italien, Malta – aber sie können und wollen nicht für den grössten Teil der Flüchtlinge Verantwortung übernehmen.
Nach sechs Jahren eine Aufenthaltsbewilligung
Bewährt sich die schweizerische Asylpolitik? Ja und Nein, antwortet Etienne Piguet. Die Schweiz biete einen wirksamen Schutz und gute Zukunftsaussichten für anerkannte Flüchtlinge, die aus politischen oder religiösen Gründen oder wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe in ihrem Herkunftsstaat verfolgt werden.
Es gebe jedoch eine grosse Gruppe Menschen, so Piguet weiter, die fälschlicherweise oft Wirtschaftsflüchtlinge genannt werden. Sie flüchten vor Kriegen, drohenden Terroranschlägen oder gewalttätigen Milizen. Trotzdem werden ihre Asylgesuche abgelehnt, da sie nicht individuell verfolgt sind. Wegen der Gefahr für ihr Leben dürfen sie jedoch aufgrund der Genfer Konvention nicht in ihr Land zurückgeschickt werden. Sie erhalten eine provisorische Aufnahe mit einer F-Bewilligung.
Ihr provisorischer Status ist ein grosses Hindernis bei der Suche nach Arbeit oder einer Lehrstelle, da die Arbeitgeber „Provisorische“, die möglicherweise von den Bundesbehörden plötzlich weggewiesen werden, kaum anstellen. Das erschwert die Eingliederung, auch weil die Kantone den Asylsuchenden mit einer F-Bewilligung in sehr unterschiedlichem Ausmass reguläre Aufenthaltsbewilligungen erteilen. Deshalb, so der Vizepräsident der Migrationskommission, sollten alle vorläufig Aufgenommenen nach sechs Jahren eine Aufenthaltsbewilligung erhalten. Die Integration dieser Menschen würde auf diese Weise erleichtert.
Krieg und staatliche Willkür als Fluchtgründe
Der Bundesrat und viele bürgerlichen Parlamentarier möchten die Entwicklungspolitik darauf ausrichten, dass weniger Flüchtlinge zu uns kommen. Das ist wohl eine Illusion, denn aufgrund einer Auswertung der Fluchtgründe der Menschen, die zwischen 1986 und 2018 in der Schweiz ein Asylgesuch eingereicht haben, sind Krieg, Verfolgung, Menschenrechtsverletzungen und staatliche Willkür die wichtigsten Fluchtursachen. Dies führte der entwicklungspolitische Experte von Helvetas, Geert van Dok, aus. Wirtschaftliche Not und schlechte Zukunftsaussichten seien weitere Fluchtgründe, aber selten allein ausschlaggebend. Deshalb habe die Aussenpolitik „zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen“ beizutragen, wie es in der Bundesverfassung (Art. 54.2) geschrieben steht.
In der Aussenwirtschaftspolitik ist laut van Dok darauf zu achten, menschenrechtskonforme Freihandelsverträge abzuschliessen sowie unter anderem auf Mindestanforderungen im Sozial- und Umweltbereich zu bestehen. Gleichzeitig könnte die Schweiz mit ihren Guten Diensten und ihrer Erfahrung als Vermittlerin die internationale Friedenspolitik fördern. Solche und ähnlich Massnahmen würden längerfristig den Druck zur Auswanderung mildern. In der Diskussion war zu hören, dass ohnehin nicht die Ärmsten nach Europa auswanderten. Eine einseitige Verbesserung der wirtschaftlichen Situation würde sogar dazu führen, dass weitere Gruppen sich die Flucht leisten könnten. Nur mittels einer langfristigen Politik im Hinblick auf sicherere Lebensumstände und weniger korrupte Behörden liesse sich die Auswanderung bremsen.