Die Fotostiftung Schweiz widmet sich dem Erbe der Schweizer Fotografie. Sie lebt von der Leidenschaft der Archivare, die aus diesem Erbe Funken zu schlagen vermögen. – Ein Gespräch mit Peter Pfrunder über das Sammeln und die Dynamik der Zeit, die auch den Blick auf die Vergangenheit verändert.
Geboren 1959 in Singapur, aufgewachsen in der Schweiz, ausgebildet als Literatur- und Kulturwissenschaftler, Promotion über Schauspiele des 16. Jahrhunderts. Redaktor und Autor für die Feuilletons verschiedener Zeitungen, Kurator mit Schwerpunkt Fotografie, Kultur- und Alltagsgeschichte. Seit 1998 Direktor der Fotostiftung Schweiz (Zürich / Winterthur).
Wie ist Peter Pfrunder auf sein berufliches Lebensthema gestossen? Der Weg dorthin führte ihn über die Literaturwissenschaft, die er in Berlin, Montpellier und Zürich studierte. Er sei damals aber schon ein «Grenzgänger» gewesen, insofern er sich auch mit den Rändern der Literatur beschäftigte. «In Zürich gab es ein sehr interessantes Fach, das ’Europäische Volksliteratur‘ hiess. Der Lehrstuhlinhaber, Rudolf Schenda, vermittelte darin ein breites, interdisziplinäres Kulturverständnis. In diese Untersuchungen wurden zum Beispiel auch Alltagstexte eingebunden, von Comics oder Kinderversen bis zu Kochbüchern. Sie dienten als Instrumente, um kulturelle Zusammenhänge sichtbar zu machen. Das war für mich entscheidend, um manche Ausdrucksformen unserer Kultur und Zivilisation besser zu verstehen.» Zusätzliche Anregungen kamen damals von der «visuellen Anthropologie. Das war Avantgarde.» So kam es zu einer engen Zusammenarbeit mit Rudolf Schenda, zeitweilig auch als Assistent.
Die Ästhetik dokumentarischer Fotos
In dieser Zeit stiess Peter Pfrunder auf den vergessenen Schweizer Fotografen Ernst Brunner, dessen Werk so etwas wie die Initialzündung für sein Interesse an der Fotografie werden sollte. Brunner hatte schon in den 1930er und 1940er Jahren damit begonnen, «die Fotografie als Forschungsinstrument einzusetzen. Und er war ein sehr guter Fotograf. Da kam das ästhetische Moment mit dem dokumentarischen zusammen. Ich durfte darüber arbeiten und publizieren. Von da an hat mich das nie mehr losgelassen.»
Man kann sich die damalige Situation von Peter Pfrunder auch deswegen als besonders faszinierend vorstellen, weil in seinem ursprünglichen Fach, der Literaturwissenschaft, bereits alle Felder gründlich beackert worden waren. Die fotohistorische Forschung aber bot Neuland. Und die Fotografie selbst war damals noch überhaupt kein akademisches Thema. Sie wurde höchstens im Rahmen der Kunstgeschichte abgehandelt.
Nach seiner Zeit an der Universität leitete Peter Pfrunder eine Zeitlang das Feuilleton der Zürichsee-Zeitung. In diesem selbst in Fachkreisen geschätzten Forum konnte er auch das Thema der Fotografie pflegen, über das er bald auch in nationalen und internationalen Medien schrieb. – Aber machen wir einen Sprung. Mich interessiert die Frage, ob Peter Pfrunder eine Lieblingszeit in der Fotografiegeschichte oder einen Lieblingsfotografen hat. Diese Frage gefällt ihm nicht so recht, und wir werden noch sehen, warum. Seine erste Antwort ist: «Je länger, desto weniger.» Natürlich gibt es Fixpunkte und «Fixsterne». Damit meint Pfrunder die dokumentarische Fotografie, auf die er als junger Mensch stiess und zu der auch die Reportagefotografen wichtige Beiträge beisteuerten. In der Schweiz gab es seit 1930 herausragende Vertreter in dieser Sparte. Und dann gibt es eben die «Fixsterne», zum Beispiel von der legendären Fotografenagentur Magnum. «Das war für mich damals auch ein starker Anziehungspunkt.» Aber die heutige Fotografie habe sich stark verändert.
Text und Bild
Bevor wir darauf kommen, möchte ich ein Kapitel ansprechen, das heute wohl endgültig abgeschlossen ist: die Fotografen, die zugleich glänzende Journalisten waren und zu ihren Bildern hervorragende Texte geliefert haben. Ich muss dabei an Emil Schulthess denken, aber auch an Georg Gerster. Peter Pfrunder spricht im Blick auf dieses Umfeld vom «Fotojournalismus, wo die Verbindung zwischen Text und Bild ausserordentlich wichtig ist. Sie haben mich vorhin nach einem Lieblingsfotografen gefragt. Einer der mich sehr interessiert hat, war Walter Bosshard. Über ihn habe ich schon einiges publiziert. Er war international ein Pionier des modernen Fotojournalismus, und er hat aus der Verbindung von Text und Bild eine Art Geschäftsmodell gemacht. Das hat sehr gut funktioniert. Er konnte unabhängig reisen und hat als Korrespondent der Berliner Illustrierten Zeitung und später der NZZ den Westen jahrelang über China informiert.»
Diese Verbindung von Text und Bild gibt es heute in dieser Weise nicht mehr. Nun hat die Fotostiftung in jüngerer Zeit eine Ausstellung einer Verbindung gewidmet, die für sie etwas ungewöhnlich ist: Mode und Fotografie. Es ging dabei um die Zeitschrift «Elle» und den damaligen Art Director und Fotografen Peter Knapp, der mit seinen 92 Jahren anwesend war und grossen Eindruck hinterliess. Für mich war diese Ausstellung und die Begegnung mit Peter Knapp ein absolutes Highlight. Aber ist die Verbindung von Mode und Fotografie im Kontext der Fotostiftung nicht doch eher überraschend?
Monique Jacot
Peter Pfrunder stimmt dem einerseits zu, betont aber, dass die Fotostiftung schon immer ein Interesse an benachbarten Gattungen des Schwerpunkts hatte, der auf der dokumentarischen Fotografie lag. Er erzählt, dass sie Peter Knapp schon bei der ersten grossen Ausstellung 1974 im Kunsthaus Zürich einen prominenten Platz gab. Knapp erhielt eine Carte Blanche und entschied sich dafür, keine Prints auszustellen, sondern eine Projektion zu gestalten – ein damals sehr modernes Format. Bis heute beschäftigt sich Peter Knapp mit der Frage, welche Form am besten geeignet ist, eine bestimmte Aussage zu vermitteln. «In der Modefotografie gilt nicht der Print, sondern das in der Zeitschrift gedruckte Bild als das fertige Werk.» Der Blick über den Kanon der Klassiker hinaus ist für die Fotostiftung auch im Rückblick wichtig. Neben den Klassikern des Fotojournalismus ist an viele Fotografinnen zu erinnern, die als Fotojournalistinnen wenig Anerkennung fanden und sich daher in andere Felder de Fotografie bewegten. Eine davon ist Monique Jacot. Sie machte hervorragende Reportagen, aber verfolgte zugleich auch künstlerische Projekte.
Der Schweizer Peter Knapp war international tätig. Überhaupt fällt auf, dass die Fotostiftung Schweiz sehr starke internationale Bezüge hat. Robert Frank wurde mit seinem Bildband über Amerika berühmt, und Werner Bischof bereiste die ganze Welt. Er kam 1954 in Peru ums Leben. «Seine Witwe, Rosellina Burri-Bischof, die an der Gründung der Fotostiftung beteiligt war, hatte ein Netzwerk in New York, aber auch in Frankreich. Das war einer der Grundpfeiler. Der Gründung in Zürich ging in New York in den späten 1960er Jahren die Gründung des ’International Fund for Concerned Photography‘ voraus. Die Initiative kam von Cornell Capa, dem Bruder von Robert Capa, der praktisch gleichzeitig wie Bischof während seiner Arbeit in Indochina ums Leben gekommen war. Cornell und Rosellina haben sich solidarisch verbunden, um aus einem ähnlichen Erleben beziehungsweise einer ähnlichen Situation heraus etwas für diese Art der Fotografie zu tun. In der ersten Version unserer Statuten war festgelegt, dass die schweizerische Stiftung für Fotografie ein Ableger dieser internationalen Stiftung sein sollte.»
Die Initialzündung
1967 fand in den USA die Ausstellung «The Concerned Photographer» statt, die von Cornell Capa gestaltet wurde. Sie zeigte neben Fotos von Robert Capa auch Bilder von Werner Bischof, Leonard Freed, André Kertész, David Seymour und Dan Wiener. Diese Ausstellung wurde 1970 nach Zürich geholt und war ein grosser Erfolg, für Peter Pfrunder «die Initialzündung für die Gründung der Fotostiftung im Jahr 1971».
Treffender kann man die Substanz der Stiftung kaum bezeichnen: «Concerned Photographer». Nun hatte Peter Pfrunder schon davon gesprochen, dass die heutige Fotografie anders zu verstehen ist und sich andere Fragen stellen. Pointiert formuliert Pfrunder sie so: «Was ist ein Bild? Wie verändert sich seine Bedeutung durch den Kontext? Gibt es noch wahre Fotografien?» Es ist evident, dass diese Fragen mit Entwicklungen wie der Digitalisierung zusammenhängen. Aber es gibt noch andere Veränderungen.
Künstlerische Impulse
«Der innovative Nachwuchs kommt immer seltener aus dem angewandten Bereich. Die Klassiker, über die wir gesprochen haben, waren Fotojournalisten, Autodidakten. Die Mehrzahl der heute Fotoschaffenden arbeitet aus einem künstlerischen Impuls heraus. Das beeinflusst natürlich die Themensetzung. Da fliesst sehr viel Subjektivität ein. Und es gibt fliessende Übergänge zu anderen Ausdrucksmitteln. Die Leute, die heute fotografische Werke schaffen, die machen häufig auch andere Formen von Kunst.» Für Berufsleute, auf deren Visitenkarten «Fotograf» steht, sind die Zeiten schwierig geworden. Und auch gestandene Fotografen sprengen bewusst die klassischen Formen, indem sie Fotos radikal elektronisch umgestalten oder sogar bemalen, wie in der neuesten Ausstellung von Annelies Štrba zu besichtigen ist. Peter Pfrunder erinnert an eine Ausstellung von Jojakim Cortis und Adrian Sonderegger, die 2018 unter dem Titel «Double Take» stattfand. Die beiden haben Ikonen der Fotografiegeschichte als 3-D-Modelle minutiös nachgebaut und dann wieder in Fotografien übersetzt – ein wunderbares Verwirrspiel über Illusion und Wirklichkeit.
Da stellt sich schon die Frage, ob heute eine Institution wie die Fotostiftung Schweiz noch einmal ins Leben gerufen werden könnte. «Der Kernauftrag ist immer noch derselbe, und der besteht darin, Nachlässe und ganze Archive entgegenzunehmen, aufzuarbeiten und zu vermitteln. Wir haben inzwischen über 100 solcher Bestände. Wir unterscheiden zwischen der Sammlung von Archiven und der Sammlung von Werken. Bei den jüngeren Fotografinnen und Fotografen sind es Werke oder Werkgruppen, die in die Sammlung aufgenommen werden. Auf diese Weise können wir auch die aktuellen Entwicklungen der Fotografie mitverfolgen.»
Zur Erfüllung des Kernauftrags gehört jeweils die Entscheidung, welche Archive und Sammlungen es überhaupt wert sind, von der Fotostiftung aufgenommen zu werden. Welche Kriterien gibt es dafür? «Inzwischen kommt zu viel. Wir versuchen jetzt, unser Profil zu schärfen. Ich möchte mit dem Begriff der Autorinnen- beziehungsweise Autorenfotografie eine Richtung vorgeben. Damit meine ich eine gewisse Professionalität und eine eigene ’Handschrift‘. Wichtig ist die Kontinuität, die sich wiederum in einem Archiv spiegelt.»
Nun ist es so, dass die Fotostiftung auf der Basis dieser Archive Ausstellungen veranstaltet. Diese Ausstellungen setzen wiederum einen Auswahlprozess voraus: Welche Bilder werden gezeigt, welche nicht. Diese Entscheidungen sind schon schwierig genug, aber Peter Pfrunder macht noch auf ein weiteres Problem aufmerksam, das auch ethische Fragen aufwirft:
«Bei Hans Staub zum Beispiel gibt es einen Teil der Negative, die damals abgezogen und publiziert wurden. Dazu kommt ein sehr grosser Teil von Negativen, die nicht vergrössert worden sind. Die hat er nicht gebraucht, denn sie kamen für ihn für die Verwendung in Zeitungen nicht in Frage, obschon sie gut waren. Ausstellungen hat er nicht gemacht. Wenn das Thema vorbei war, kam das nächste und so weiter. Was ist nun das Produkt, das wir herstellen? Gehört dazu auch ein Werk, das nie editiert wurde? Was massen wir uns damit an? Woran orientieren wir uns?» Da stellt sich eine ethische Frage, wenn man später kommt und diese Bilder als Werk dieses Autors verwendet, ohne dass er je dazu befragt worden wäre.
Noch komplizierter wird es dadurch, dass sich inzwischen der Blick verändert hat. Wir sehen diese Bilder heute ganz anders als damals, als sie entstanden. «Ein Beispiel dafür sind die Kinderportraits von Emil Brunner. Er hat sie zwischen 1943 und 1944 angefertigt, 1700 Portraits von jungen Menschen in zwölf Dörfern. Diese blieben aber völlig unbeachtet. Es war ein Misserfolg. 60 Jahre später kommen die Kuratoren und Konservatoren und finden diese Bilder fantastisch. Sie sehen, dass derartige Bilder von Bergkindern aus dieser Zeit in der Schweiz nirgendwo sonst existieren. Was soll man denn anderes machen, als sie zu editieren? Es ist eine Notwendigkeit. ’Tausend Blicke‘ mit all diesen Kinderportraits gehört zu den erfolgreichsten Büchern, die ich gemacht habe. Es war natürlich von ihm nicht so gedacht, aber wir haben uns verändert.»
Bis 13. August in der Fotostiftung Schweiz zu sehen: Annelies Strba. Ab 26. August zeigt die Fotostiftung die Doppelausstellung «Werner Bischof – Unseen Colour» und «Rosellina – Leben für die Fotografie».