Fotografie kann auch nach der Wirklichkeit hinter den Bildern suchen. Dann bedeutet das Abgebildete jeweils mehr als das, was im Bild wiedergegeben wird. Die Kunst besteht darin, diese Spannung in den Bildern zum Ausdruck kommen zu lassen. Die Fotos von Annelies Štrba wirken real und surreal zugleich.
Der erste Bildband von Annelies Štrba heisst «Aschewiese» und bezieht sich auf die erste Ausstellung in der Kunsthalle Zürich 1990. «Shades of Time», 1997 erschienen, enthält überwiegend Fotos, die sie von ihren Kindern zu Hause oder in der allernächsten Umgebung aufgenommen hat. Diese Bilder haben auf den ersten Blick nichts Ambitioniertes. Da ist nichts so arrangiert, wie es üblich ist, wenn fremden Blicken über die Fotos der Zutritt zum Privaten gewährt wird. Und doch spürt der Betrachter, dass in diesen Alltagsszenen mehr steckt als die Oberflächlichkeit fotografischer Notizen. Und bei genauerem Hinschauen fragt er sich, ob nicht in dem scheinbar Unbeabsichtigten der eigentliche Zauber liegt.
Arbeit und Improvisation
In dem Band «Shades of Time» sind die Bilder aus ihrer häuslichen Umgebung mit Fotos von Auschwitz und Birkenau, die Štrba 1985 angefertigt hat, kombiniert. Dazu kommen Impressionen von Zeitz (1993), Leipzig (1991) und Berlin (1984). Das sind düstere Bilder, und Annelies Štrba hat sie als Kontrast zu ihren Fotos aus dem familiären Bereich eingefügt. Sollte das Familiäre als Idylle aufgefasst werden, so muss ihre Bedrohung beziehungsweise Zerbrechlichkeit mitbedacht werden.
Annelies Štrba erzählt, dass diese Fotos in einem Zeitraum von etwa 20 Jahren entstanden sind. Mit ihrem Partner, dem Schmuckkünstler Bernhard Schobinger, lebt sie in Richterswil bei Zürich. Die beiden haben im Laufe der Zeit ein Haus über dem Monte Verità in Ascona erworben. Das ist mit harter Arbeit und viel Improvisation verbunden. Geld war eher knapp. Man muss sich die beiden wie durchgeistigte Solitäre vorstellen, die gemeinsam in ihren Ideen mit einem Freundeskreis aus Malern, Galeristen, Schriftstellern und anderen Künstlern leben, aber stets äusserst praktisch zupacken können.
Annelies Štrba hatte mit 14 Jahren von ihrem Vater eine Kamera bekommen und damit erste Aufnahmen gemacht. Schon mit 15 Jahren richtete sie ihre eigene Dunkelkammer ein. Sie faszinierte das allmählichen Erscheinen der Bilder im Entwicklerbad. Darin sah sie, wie sie noch heute sagt, etwas Magisches. Handwerklich vervollkommnete sie sich während einer Berufsausbildung zur Fotografin.
Das Eigentümliche ist nun, dass sie zwanzig Jahre lang die Bilder von ihrer Familie, die sie jeweils nachts entwickelte und ausarbeitete, nur für sich angefertigt hat. Es war ganz ihr innerer Bereich. Zunächst dachte sie gar nicht daran, diese Bilder eines Tages auszustellen und zu veröffentlichen.
Atmosphäre von grosser Stimmigkeit
In unserem Gespräch betont sie dies mehrfach, und im ersten Anlauf ist es schwer zu verstehen, dass jemand etwas ganz für sich im Stillen gestaltet und dabei bewusst oder unbewusst etwas erschafft, das über den privaten Raum hinausweist. Wie fliessend diese Übergänge aber sind, zeigen ihre Wohnräume. Die Farben und die sorgfältige Gestaltung der Einrichtung, die grossen Fenster beziehungsweise Türen zu dem Garten mitten im alten Teil von Richterswil erzeugen eine Atmosphäre von grosser Stimmigkeit. Das Haus wirkt von aussen klein, aber von Stockwerk zu Stockwerk überrascht die Grosszügigkeit der Räume. Unter dem Dach ist ein Yoga-Raum mit zahlreichen ebenfalls sorgfältig ausgewählten Geräten eingerichtet, die sehr gut zu diesem Wohnbiotop passen. Hier hat ihre Tochter Linda eine Yogaschule.
Für das Verständnis der früheren Bilder, aber auch der sich immer weiter von der gegenständlichen Fotografie emanzipierenden späteren Arbeiten und der Videos ist diese Dimension der Stimmigkeit grundlegend. Das Leben ist für Annelies Štrba keine mehr oder weniger zufällige Aneinanderreihung von Begebenheiten, sondern darin wirken tiefere Bestimmungen. Deswegen ist schon ihr Blick auf ihre Familie mehr als die oberflächliche Betrachtung eines in sich erschöpfenden Alltags. Sie betont immer wieder, dass ihr Band «Shades of Time» nicht wie eine Sammlung von Familienfotos verstanden werden kann.
Als sie 1990 dem damaligen Direktor der Kunsthalle Zürich, Bernhard Bürgi, einige ihrer Bilder zeigte, erkannte dieser spontan die herausragende Qualität. Nun musste für die Ausstellung nicht nur eine Auswahl getroffen werden, sondern es stellte sich auch die Frage, welche Formate und welches Material für die Bilder von Annelies Štrba optimal sind. Hier kommt ein weiteres Element ihrer Arbeit ins Spiel: Sie ist eine souveräne Handwerkerin. Für die Ausstellung, aber auch für andere Gelegenheiten stellte sie grossformatige Fotoleinwände her. Dieses Verfahren erfordert sehr viel Geschick im Fotolabor. In ihrem Atelier in Richterswil stehen noch einige Fotoleinwände in diversen Formaten, und man fragt sich, wie sie die bloss angefertigt hat. Auch da zeigt sich, dass sie ganz genau weiss, was sie will und dass sie es umsetzen kann.
Die Bedeutung der Farbe
In der Zusammenstellung der Bilder in «Shades of Time» fallen Bilder aus England und Japan auf, die sie auf ihren Reisen im Jahr 1994 aufgenommen hat. Diese Fotos sind in Farbe. Zum Thema Farbe ist einiges zu sagen. Ursprünglich hat Annelies Štrba in Schwarzweiss fotografiert. Die entwickelten Fotoleinwände hat sie teilweise mit passenden Naturfarben eingefärbt. Schon von ihrer Familie aber hat sie zahlreiche Farbbilder aufgenommen. In «Shades of Time» und «Noonday» bilden die Farben im Zusammenhang mit den Personen, Gegenständen und der Umgebung ein kompositorisches Ganzes. In einem späteren Band, «my life’s dreams» (2012) geschieht etwas anderes: Da gehen die Fotos geradezu in Gemälde über, in denen die Farben die tragenden Elemente bilden. Diese Bilder komponiert Annelies Štrba am Bildschirm. Sie sagt von sich selbst, dass sie diese Arbeit mit den digitalen Werkzeugen mit ebenso grosser Leidenschaft betreibt wie vorher im Labor.
In den Bildserien, insbesondere den Fotos von Japan, aber schon bei denen im Bereich des häuslichen Milieus, später aus England, fallen die Übergänge von konventionell scharfen Abbildungen zu einer kunstvollen Auflösung der Konturen auf. Die dadurch erzielte Bildwirkung ist sehr stark. Es scheint, als trete etwas in seinem Ausdruck dadurch hervor, dass die Künstlerin die Formen auf eine etwas abstraktere Ebene bringt. In «my life’s dreams» hat sie diesen Prozess noch weiter getrieben. Formen verfliessen, Farben führen mehr und mehr ein Eigenleben, so dass die ursprünglichen Bilder teilweise den Eindruck erwecken, lediglich Ausgangsmaterial für die weitere Komposition zu sein.
Unterschiedliche Wirklichkeitsdimensionen
Das ist aber nicht durchgehend der Fall. Die abgebildeten jungen Mädchen haben wieder ganz eigene Ausdrucksformen und Bedeutungen. Zum Teil wirken sie schlafend – dicht an der Grenze zum Tod. In dem begleitenden Text von John Hutchinson werden Bezüge zum Maler Balthus, zur Schriftstellerin Emliy Bronté mit «Sturmhöhe» und zu Lewis Carroll hergestellt. Bei Balthus, dem Annelies Štrba persönlich begegnet ist, spielt das Thema einer unschuldig mädchenhaften Erotik eine grosse Rolle, bei Bronté und insbesondere bei Carroll kommen unterschiedliche Wirklichkeitsdimensionen ins Spiel. Hutchinson spricht von drei Bewusstseinsebenen: die gewöhnliche alltägliche Wahrnehmung, die zweite hat mit Phänomenen wie dem «Unheimlichen» zu tun und die dritte lässt sich mit Trance vergleichen. Hier überschreitet der menschliche Geist Raum und Zeit.
Erschliessen sich die Bilder von Annelies Štrba erst dann, wenn man diesen und ähnlichen Deutungen folgen kann? Vielleicht sollte man zwei Ebenen unterscheiden: die ästhetische Qualität und die Deutung von Absichten und Bezügen. Diese Deutungen mögen richtig sein, aber um die ästhetische Qualität der Bilder auf sich wirken zu lassen, sind sie keine zwingende Voraussetzung. Bilder sind Bilder und Sprache ist Sprache. Der Überschuss an Bedeutung in Bildern ist eine eigene Dimension, und wer sie in Sprache übersetzt, muss sich damit abfinden, sie bestenfalls annähernd zu erfassen. Wenn man sich in die Bilderwelt von Annelies Štrba begibt, sollte man seinen eigenen Eindrücken folgen.
Eindrucksvoll ist die Website von Annelies Štrba: strba.ch Sie enthält neben zahlreichen Angaben zu Leben und Werk, Ausstellungen und Büchern eine reichhaltige Zusammenstellung von Bildern.
Derzeit lieferbar sind: «Noonday» (2014) und «My Life Dreams» (2013), ursprünglich 2012 «my life’s dreams»)
Über die zahlreichen Ausstellungen von Annelies Štrba orientiert neben ihrer Website der Eintrag in der Wikipedia.