Der gestrige Wochenmarkt im südfranzösischen Städtchen Dieulefit war ein Markt auf Distanz. Wo vor einer Woche noch allerorts Grüppchen zusammenstanden und über die bevorstehenden Kommunalwahlen diskutierten, die Vertreter der vier verschiedenen Listen ein letztes Mal Kaffee und Infomaterial verteilten, da grüsste man sich jetzt aus der Ferne. Platz dafür gab es an diesem Freitag genug.
Man arrangiert sich
Ein Drittel der Händler war nicht gekommen, und auch die Zahl der Kunden hielt sich in Grenzen. Die Stadtverwaltung hatte orangefarbene Linien mit einem Meter Abstand rund um die einzelnen Stände gezogen. Der Metzger war gut organisiert. Einer bediente ausschliesslich, legte die Ware nicht wie sonst auf die Theke, sondern schob sie hinter der Plexiglasscheibe zur Kollegin, die die Ware den Kunden reichte und ausschliesslich kassierte. Ein vorausschauender Metzger. Ein grellgelber Anschlag, der von fast allen fotografiert wurde, gab Auskunft darüber, dass man ab kommender Woche in Gruppen per Internet bestellen müsse und dann beliefert werde.
Die etwas betagteren Käsehändler nebenan trugen Schutzmasken, was auf dem Markt insgesamt eher die Ausnahme war. Sie lächelten wie gewohnt, die sonst so sonore Stimme des Manns klang durch den Mundschutz deutlich gedämpfter. Am Ende sagte er einem: «Danke, dass sie gekommen sind.» Dieselben Worte hörte man wenig später beim Gemüsehändler, der seine Verkaufsfläche halbiert hatte und keine Kartoffeln im Angebot führte. Man könne sie zurzeit nur schwer finden, klagte er.
Überraschung beim Weinhändler in der alten Hauptstrasse des Städtchens, der – in dieser Jahreszeit ohnehin nur an drei Tagen geöffnet – jetzt geschlossen war. Ein Anschlag informierte darüber, dass der Besitzer zwar das Recht hätte zu öffnen, dass man aber der Meinung sei, dass Wein und andere Alkoholika keine, wie es im Gesetzestext heisst, «Lebensmittel von absoluter Notwendigkeit» seien. Man ziehe es vor, seine Kunden, Freunde und sich selbst zu schützen und bitte alle, auf sich aufzupassen. Chapeau!
Am nächsten Tag kommt eine SMS an «alle, die in Dieulefit festsitzen», in der der Weinhändler informiert, man habe sich organisiert, um Freunde und Kunden zu beliefern. Bestellung per Telefon.
Chansons, Poesie, Musik
Am Mittag, am Tag vier der Ausgangssperre, tut man etwas, was man strenggenommen nicht dürfte. Man geht zu Fuss 200 Meter den Hang hoch zu zwei Freunden. Am Montagabend, bevor die Ausgangssperre verhängt wurde, hat man dort noch zusammen gegessen. Die eine war gerade eine Stunde unterwegs, hat für den anderen mit eingekauft.
Jetzt sitzt man zu viert an einem grossen runden Tisch im Garten, weit voneinander weg, wagt einen Apperitif, diskutiert, wie man sich die nächsten Wochen beschäftigen wird. Zwei der Zeitgenossen denken an das Singen von Chansons und an das Rezitieren oder Lernen von Gedichten und legen direkt los. Sie schaffen es tatsächlich, Baudelaires «La servante au grand coeur» im Wechselgesang bis ans Ende zu deklamieren.
Abends um 20 Uhr war aus dem Dorfzentrum wieder Musik zu hören – jemand hat Lautsprecher ins Fenster gestellt, um das Pflegepersonal im Altenheim zu grüssen. Ganz in der Nähe des Hauses hatte einer für zehn Minuten sein Saxophon ausgepackt.
Es muss in die Köpfe
Ganz offensichtlich braucht es reichlich Zeit, bis die Franzosen wirklich kapiert haben, was los ist und wie ernst es gilt, sodass sie die Ausgangssperre auch wirklich einhalten. Zwischen Dienstagmittag und Samstagmorgen wurden bereits 40’000 Bussgeldbescheide über 135 Euro ausgestellt wegen Nichteinhaltung der Vorgaben. Einige wurden gar wegen «In Gefahr Bringens von anderen» in Untersuchungshaft genommen, weil sie entweder wiederholt dabei geschnappt wurden, ohne triftigen Grund unterwegs zu sein, oder weil sie sich in Gruppen zusammengetan und manchmal damit die Polizei direkt provoziert hatten.
Andersherum und etwas dümmlich haben es einige übereifrige Polizisten offensichtlich nicht vermeiden können, auch Pariser Obdachlosen Strafmandate auszuhändigen.
Andererseits hat man in Cannes, wo die Filmfestspiele im Mai natürlich auch abgesagt sind, das Festspielpalais seit Donnerstag eben für die Unterbringung von Obdachlosen geöffnet. Den roten Teppich dürfte man ihnen aber kaum ausgerollt haben.
Wochenende
Seit Donnerstag hämmert die Regierung den Grosstädtern ein: Man fährt nicht ins Wochenende! Basta! Eigentlich müsste das jedem klar sein, ist es aber nicht. Seit Freitagabend werden dementsprechend die Bahnhöfe in den Grossstädten, vor allem die in Paris, ganz besonders streng kontrolliert, und auch auf den Autobahnen dürfte es kaum jemand weiter als bis zur ersten Mautstelle schaffen.
In Paris selbst und anderswo haben die Einschränkungen vor diesem Wochenende beträchtlich zugenommen. In der Hauptstadt sind die Ufer der Seine und des Kanals Saint Martin von Samstag an definitiv gesperrt. Täglich Tausende von Joggern bei Frühlingswetter waren einfach zuviel. Dasselbe gilt für die durch den Terroranschlag zur traurigen Berühmtheit gelangte Promenade des Anglais in Nizza, wo der Bürgermeister sogar zusätzlich eine absolute Ausgangssperre ab 20 Uhr für das gesamte Stadtgebiet verhängt hat.
Schwer verständlich, auch für den Autor, dass inzwischen fast sämtliche Strände Frankreichs gesperrt sind – wahrscheinlich, weil es trotz aller Weite auch hier in den letzten Tagen zu Gruppenbildungen gekommen ist. Und selbst wer in den Häfen ein Segel- oder Motorboot liegen hat, darf damit nicht mehr aufs Meer fahren. Auf ein Meer, in dem auch immer weniger Fischfang betrieben wird. Seit die Restaurants vor einer Woche geschlossen worden sind, bleiben die Fischer häufig auf ihrem Fang sitzen.
Konsequenzen
Es braucht einfach Zeit, bis einem selbst und jedem im Land das ganze Ausmass der Folgen dieser Ausgangssperre bewusst wird, was dieser Ausnahmezustand bedeutet für jeden einzelnen in besonderen Situationen, für bestimmte Berufskategorien und soziale Gruppen. Nur ein paar Beispiele.
Frauen, die in diesen Tagen ein Kind auf die Welt bringen, müssen es im Krankenhaus alleine tun. Der Gefährte bleibt zu Hause. Bei Beerdigungen sind nur noch die allernächsten Familienangehörigen zugelassen. Die über drei Millionen Arbeitslosen im Land brauchen in den nächsten Wochen erst gar nicht daran zu denken, einen Job zu finden. Die Arbeitsämter sind geschlossen. Das Internet hilft nur bedingt. Vorstellungsgespräche sind nicht möglich.
Die Fernfahrer, die die tägliche Versorgung im Land garantieren – nach den Hamsterkäufen der ersten Tage hat sich die Lage in den Supermärkten einigermassen beruhigt – raufen sich die Haare. Sie, die oft tagelang unterwegs sind, haben auf Grund der Schliessung der Restaurants und auch der Autobahnraststätten echte Versorgungsprobleme. Wo essen? Wo und wie sich waschen? Sie sollen, sie müssen arbeiten und wissen selbst nicht, wie sie ihren fahrenden Alltag bewältigen sollen.
Ein Hilferuf kommt aus den Heimen für verhaltensgestörte Kinder oder Jugendliche – es handelt sich um gut 70’000 im Land. Normalerweise gehen sie tagsüber zu Schule. Seit dem 14. März nicht mehr. Sie sind in ihren Heimen eingesperrt, die Gewalt steigt von Tag zu Tag, schon ist von Schlägereien mit Messern die Rede. Die Leiter dieser Heime sagen, es werde explodieren, zumal zwanzig bis dreissig Prozent des Personals aus verschiedensten Gründen nicht zur Arbeit erscheinen.
Schutzmasken
Die Atemschutzmasken, ihr Fehlen und das Herumeiern der Regierung dürften zur ersten ernsthaften Polemik, ja zum ersten Skandal seit Beginn der Ausgangssperre werden. Über eine Woche lang hat die Regierung auf allen Kanälen den Franzosen erzählt, nur Kranke müssten diese Masken tragen, damit sie andere nicht anstecken. Zum Schutz vor Ansteckung, wenn man nicht infiziert ist, würden sie nichts nützen.
Nun haben vier Grössen und Spezialisten des öffentlichen Gesundheitswesens in einem offenen Brief diese Argumentation als Lüge und Unsinn bezeichnet. Über eine Woche lang hat die Regierung ihre Bevölkerung schlicht angelogen, weil sie sich scheute öffentlich einzugestehen, dass es katastrophal wenige Schutzmasken im Land gibt, dass man unfähig ist, auf die Schnelle welche zu produzieren oder sie auf internationalen Märkten zu beschaffen.
Es ist eine Art von Kommunikation, die in derartigen Krisenzeiten fast kriminell ist und das Vertrauen in alle weiteren Massnahmen der Regierung untergräbt.