Es war Sonntagmorgen, 8 Uhr, in der 3’200 Einwohnergemeinde Dieulefit im südfranzösischen Departement Drôme und es war der Tag der Gemeinderatswahlen. Alle drei Wahlbüros in der Festhalle neben dem Rathaus hatten pünktlich geöffnet. Die ersten, meist älteren Bewohner – im Ort sind fast 25 Prozent der Bevölkerung über 70 – stehen mit Wahlkarte und Ausweis schon parat.
Gleich vier Listen waren hier angetreten, um 23 Gemeinderatsposten und das Amt des Bürgermeisters zu besetzen. Für eine solche Kleinstadt absolut ungewöhnlich. Von der viel beklagten Politikmüdigkeit kann hier keine Rede sein.
Wahl abhalten oder nicht?
Doch irgendetwas stimmt an diesem Morgen des 15. März nicht. Draussen hängen Anschläge, die die Wähler dazu auffordern, das Lokal nach Stimmabgabe sofort wieder zu verlassen. An den Wahlkabinen hatte man auf die Vorhänge verzichtet, auf den Tischen der Wahlhelfer, die eher unaufgeregt wirken, steht ein Desinfektionsmittel.
Im Raum, vor dem ein Gendarm mit Gummihandschuhen den Zugang regelt, herrscht jedoch ein mulmiges Gefühl. Denn schliesslich waren die letzten 48 Stunden vor dieser Wahl im ganzen Land von einer heftigen Debatte darüber begleitet gewesen, ob die Wahl angesichts des zirkulierenden Coronavirus überhaupt stattfinden solle beziehungsweise dürfe. Erst am Donnerstagabend, dem 12. März, hatte sich Präsident Macron auf Druck aller Parteien – von ganz links bis extrem rechts – dazu durchgerungen, trotz der drohenden Katastrophe 48 Millionen Franzosen an die Urnen zu rufen .
Schon am Morgen danach, letzten Freitag, hatten einige Dutzend Virologen und Ärzte den Medien einen offenen Brief zukommen lassen, in dem sie diese Entscheidung als gefährlich, ja unverantwortlich geisselten. Die öffentliche Diskussion und die Medienberichterstattung drehten sich dann am Freitag und Samstag vor der Wahl zunehmend weniger um Politik, Programme und die Kandidaten, sondern immer mehr um die Epidemie.
Schock am Samstagabend
Nur ganze 12 Stunden, bevor am Sonntagmorgen die Wahllokale in 35’000 Gemeinden geöffnet wurden, hatte dann Frankreichs Premierminister Philippe plötzlich ab Mitternacht die Schliessung aller Geschäfte, die keine Lebensmittel verkaufen, sowie aller Bars und Restaurants im Land verordnet. Ein Schock. Die Nachricht platzte in abertausende Restaurants im Land, als die Tische an diesem Samstagabend schon gut besetzt und die ersten Bestellungen aufgenommen waren.
Der Nachbar in Paris, der in einer grossen Brasserie als Sommelier arbeitet, erzählt einem am Telefon, sein Patron habe für ihn und seine Kollegen, nachdem die letzten Gäste gegangen waren, mit einer Mischung aus Frust, Verzweiflung und Wut noch ein paar gute Flaschen geöffnet, bevor er sich von seinen Mitarbeitern auf unbestimmte Zeit verabschieden und die Rolläden runterlassen musste. Und in den dicht gefüllten Pariser Bars, so erzählt der Nachbar, habe man in diesen letzten Stunden des Samstags und vor Mitternacht regelrecht um die Wette gesoffen.
Surrealistischer Wahltag
600 Kilometer südlich von Paris in Dieulefit waren am Morgen des Wahlsonntags dann tatsächlich alle vier Bistrots des Städtchens geschlossen. Vor einem stand eine Tafel, auf der es mit Kreide geschrieben hiess: «Geschlossen auf Befehl der Regierung».
Der Tabak- und Zeitungsladen durfte offen bleiben, und sein Besitzer wollte an diesem Morgen seinen Augen und Ohren nicht trauen. Als er um 7.30 Uhr sein Geschäft aufsperrte, standen schon die ersten vor der Tür, um dann stangenweise Zigaretten zu kaufen, erzählte er kopfschüttelnd.
50 Meter weiter, vor dem Wahllokal, begannen im Laufe des Vormittags die Diskussionen lebhafter zu werden. Viele gingen hier zwar wählen – am Ende sollten es nur 10 Prozent weniger sein als vor 6 Jahren –, doch dass die Wahl abgehalten wurde, während die Regierung am Vorabend die Schliessung aller Bars und Restaurants im Land verordnet hatte, wollte den wenigsten in den Kopf.
Und je länger dieser Wahltag dauerte, desto mehr wurde klar, dass hier irgendwas nicht zusammenpasste, ja sogar reichlich schief lief. Nachdem dann um 20 Uhr die letzten Wahllokale in den Grossstädten geschlossen hatten, war die Katastrophe perfekt. Landesweit waren nur 45 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen gegangen, über 20 Prozent weniger als vor 6 Jahren, in den meisten Grossstädten sogar nur 35 Prozent.
Und Vertreter mehrerer Parteien, die noch drei Tage zuvor vehement die Abhaltung der Wahl gefordert hatten, kritisierten das jetzt plötzlich angesichts der katastrophalen Wahlbeteiligung. 9 Millionen Franzosen waren aus Angst oder aus Protest zu Hause geblieben. Das Coronavirus hatte die Kommunalwahlen gewonnen. Dass zum Beispiel die amtierende Pariser Bürgermeisterin mit 30 Prozent in diesem ersten Wahlgang ein überraschend gutes Ergebnis erzielt hatte, interessierte da schon kaum jemanden mehr.
Wahlabend
Auch der Wahlabend in den Sondersendungen der französischen Radio- und Fernsehanstalten sollte ein besonderer, ja ein historischer werden. In den Fernsehstudios, in denen die Gäste und Vertreter der verschiedenen Parteien normalerweise dicht gedrängt sitzen, rückten diese im Laufe des Abends weiter und weiter voneinander weg. Und Kommentatoren und Analytiker mussten angesichts der besonderen Situation einen Stunden dauernden Drahtseilakt beziehungsweise Eiertanz vollführen, bei dem die Wahlergebnisse zusehends in den Hintergrund und das Coronavirus in den Vordergrund rückten.
Alle Prognosen und Einschätzungen über die Chancen der einen oder anderen Kandidatin oder Kandidaten nach der Stichwahl am kommenden Sonntag erschienen plötzlich nur noch müssig. Es waren letztlich diese Stunden am Sonntagabend, in denen sowohl den Kommentatoren als auch den Zuschauern und Zuhörern immer klarer wurde, dass der entscheidende 2. Wahlgang am 22. März gar nicht mehr stattfinden wird.
Unbekümmertheit und Exodus
Denn noch zwei andere Ereignisse und Entwicklungen hatten diesen besonderen Wahltag geprägt. Es war ein sonniger Tag mit frühlingshaften Temperaturen. Und was machten die Pariser trotz der warnenden Rede des Staatspräsidenten am Donnerstag und der Schliessung aller Bars und Restaurants seit Mitternacht? Sie strömten in Gruppen an die Ufer der Seine, des Kanals Saint Martin und in die Parkanlagen der Stadt, trafen sich zum Picknick, machten Musik, spielten miteinander Fussball und andere Ballspiele oder drängten auf die Märkte, auf denen sich an diesem Sonntag – so mancher hielt das in dem Moment noch für merkwürdig – plötzlich ganz besonders viele Leute tummelten. 1 Meter Distanz untereinander? Von wegen! Spätestens da wurde der Regierung und den Verantwortlichen im Gesundheitswesen klar: Viele Franzosen hatten den Ernst der Lage immer noch nicht verstanden .
Auch in der südfranzösischen Kleinstadt Dieulefit nicht. Nach Schliessung der Wahllokale um 18 Uhr begann die Auszählung der Stimmzettel. Immerhin wurde den interessierten Wählern weitgehend untersagt, diese Auszählung, wie sonst üblich, mit eigenen Augen zu überwachen. Doch als dann, traditionell gegen 20 Uhr, die Wahlergebnisse bekannt gegeben wurden, gab es kein Halten mehr. Wie sonst auch drängten dutzende Bürger in den Saal und am Ende waren es trotz der Warnungen der Bürgermeisterin gut 100, die der Bekanntgabe der Ergebnisse beiwohnten und diese Ergebnisse in kleinen Gruppen kommentierten.
Gleichzeitig konnte man an diesem Sonntag noch ein anderes Phänomen beobachten. Pariserinnen und Pariser, alle, die es sich leisten konnten und voraussahen, was da kommen würde, packten ihre Sachen und machten sich mit Kind und Kegel auf in die Provinz, zu ihrem Zweitwohnsitz, zu Eltern, Verwandten, Freunden oder mieteten noch schnell irgendwo eine Gästewohnung oder ein Haus.
Am Sonntagabend staute sich der Verkehr um Paris, besonders auf den Autobahnen Richtung Normandie und Bretagne, auf insgesamt 170 Kilometern. Ähnlich lang wie an jedem ersten Augustwochenende beim Aufbruch in die grossen Sommerferien. Und am Bahnhof Saint-Lazare und am Montparnasse-Bahnhof prügelten sich die Menschen schon an diesem Tag regelrecht um Plätze in den Zügen Richtung Westen. Ein Meter Abstand voneinander? Von wegen. So mancher wagte angesichts der Szenen den Vergleich mit den Junitagen des Jahres 1940, als ein ganzer Teil der Pariser Bevölkerung vor der herannahenden Kriegsmaschinerie und den Truppen der Nationalsozialisten Richtung Süden geflohen war.
Krieg und Ausgangssperre
Angesichts dieser Bilder berief Frankreichs Staatspräsident am Montagmorgen erneut den so genannten «Verteidigungsrat» ein, der sich eigentlich um Militärisches kümmert, in diesen Tagen aber ausschliesslich mit dem Virus beschäftigt ist. Unmittelbar danach wurde bekannt: Das Staatsoberhaupt wird sich nur vier Tage nach seiner letzten Ansprache und zwei Tage, nachdem der Premierminister die Schliessung der Geschäfte, Bistrots und Restaurants verordnet hatte, erneut über Fernsehen und Radio an die Franzosen wenden.
Sage und schreibe 26 Millionen, also 40 Prozent aller Franzosen, sassen vor den Bildschirmen, und was sie zu hören bekamen, wird ihren Alltag in den nächsten Wochen dramatisch ändern. Man befinde sich, so betonte Macron gleich mehrmals, im Krieg gegen Covid 19 und folglich verhänge er über das gesamte Land ab Dienstagmittag dem 17. März eine mindestens zwei Wochen dauernde Ausgangssperre. Zuhause zu bleiben ist von nun an die Regel, die eigenen vier Wände zu verlassen die Ausnahme. 66 Millionen Franzosen sind betroffen.
Für jeden Gang ein Formular
Jeder, der zur Arbeit gehen muss, weil Teleworking nicht möglich ist, braucht eine Bestätigung seines Arbeitgebers. Jeder andere kann sein Haus ausschliesslich verlassen, um Nahrungsmittel einzukaufen, sich zum Arzt oder zur Apotheke zu begeben, um kranken oder pflegebedürftigen Familienmitgliedern oder Nachbarn zu helfen oder in Haus- und Wohnungsnähe über einen kurzen Zeitraum hinweg Sport zu betreiben beziehungsweise seinen Hund auf die Strasse zu führen.
Dafür muss jeder im Prinzip jedes Mal eine Art Ehrenerklärung ausfüllen, in der er einen der obigen Gründe für seinen Ausgang ankreuzt und das von der Webseite des Innenministeriums hochgeladene Blatt auch datieren und unterschreiben. Wer kein Internet oder keinen Drucker hat, ist gehalten, den Text handschriftlich zu kopieren. Damit sind zum Beispiel sämtliche Ausflüge sowie auch Fahrten per Bahn oder mit dem Auto ohne triftige – das heisst vor allem gesundheitliche Gründe – zu Freunden, Verwandten, Ehepartnern oder Geliebten seit Dienstagmittag schlicht nicht mehr möglich. Landesweit sollen angeblich 100’000 Ordnungskräfte die Einhaltung dieser Bestimmungen kontrollieren. Wer das Papier mit seiner Ehrenerklärung vergessen hat, beziehungsweise keinen glaubwürdig triftigen Grund für sein Unterwegssein angeben kann, zahlt 135 Euro Strafe. Am ersten Tag der Ausgangssperre wurden mehr als 4’000 Strafbescheide verteilt, liess das Innenministerium verkünden, um allen klarzumachen: Wer nicht hören will, muss fühlen. Die Verantwortlichen sind zwischen dem letzten Donnerstagabend und Montag dieser Woche zu dem Schluss gekommen, dass im Lande eines Descartes der Appell an die Vernunft einfach nicht ausreicht.
Tag 3 der Ausgangssperre
Das kleine Städtchen Dieulefit schlummert jetzt auch tagsüber. Nur ab und zu hört man aus der Ferne ein Auto, dafür die Tauben und Vögel und das Gebell der Hunde um so mehr. Am Abend ist die Ruhe geradezu gespenstisch. Entlang der leicht ansteigenden Hänge über dem Ort sind regelmässig die Jogger unterwegs und zeigen einem: Wir dürfen. Ein älteres Paar hat sich zu zweit mit Elektrorädern den Hang hinauf gewagt. Ob sie das dürfen? Zu zweit!
Das grosszügig angelegte Rehazentrum für Herz- und Lungenkranke unterhalb des Hauses scheint ausgestorben. Die Gruppen von Patienten auf dem Weg der Genesung, die hier wegen der guten Luft ansonsten regelmässig durch den Park und rund um das Gelände spazieren, sind aus dem Stadtbild verschwunden.
Gegenüber dem Alten- und Pflegeheim, das seinen Haupteingang geschlossen hat, singt seit gestern pünktlich um 14 Uhr vom anderen Ufer des Dorfbaches jemand sein Solidaritätslied für das Pflegepersonal.
Improvisation
Die Bürgermeisterin, die nach ihrem zweiten Mandat bei diesen Kommunalwahlen nicht mehr angetreten war und sich schon auf ein anderes Leben eingestellt hatte, muss wegen Coronavirus jetzt erst mal ein paar Monate weitermachen, wahrscheinlich bis Ende Juni. Dann sollte nach dem 2. Wahlgang ihr Nachfolger oder ihre Nachfolgerin feststehen.
Während der Ausgangssperre muss sie sich nun unter anderem darum kümmern, dass die Kinder des im Ort sehr zahlreichen Pflegepersonals trotz Schliessung von Schulen und Kindergärten betreut werden. Über Facebook koordiniert sie auch die Initiative mehrerer Frauen, die begonnen haben, Gesichtsmasken zu nähen, die an allen Ecken und Enden fehlen.
Auch an diesen Ort haben sich kurz vor Torschluss am Montag und Dienstag Menschen aus Lyon und Paris geflüchtet und werden, auch wenn Dieulefit ein überaus gastlicher Ort ist, durchaus ein wenig skeptisch beäugt. Am Montag, als sich die Ausgangssperre abzeichnete, haben sie das Chaos bei den Hamsterkäufen im Supermarkt noch verstärkt. Beim Zeitungshändler war dann am Mittwoch die satirische Wochenzeitung „Le Canard enchaîné“ bereits um 10 Uhr ausverkauft, was in den ganzen letzten Jahren nie der Fall gewesen war.
Immerhin: Der Wochenmarkt am Freitag soll stattfinden. Fragt sich nur, wie lange noch.
Der Autor wird in den kommenden Wochen alle 2 Tage unter der Rubrik «Alltag in der Ausgangssperre» von seinen eigenen Erfahrungen in der südfranzösischen Kleinstadt Dieulefit und den Entwicklungen im restlichen Frankreich berichten.