Was Wladimir Putin sich denkt, weiss niemand. Aber seit seiner Wutrede in der Nacht auf Mittwoch stellt sich wohl die ganze Welt die Frage, ob der Herrscher im Kreml noch die Realitäten erkennt. Spätestens seit heute früh muss man daran zweifeln. Putin und sein Umfeld müssen ja wissen, dass Russland das 44-Millionen-Volk der Ukraine nicht beherrschen kann, ja auch, dass eine Ukraine unter einer von Moskau anvisierten Marionetten-Regierung nicht zum Schweigen, zum Kuschen gebracht würde.
Auch nur vermuten können wir, wie sehr sich der russische Präsident von all dem beeindrucken lässt, was der Westen nun im Köcher hat: wirtschaftliche und finanzielle Sanktionen. Aber auch in seiner grössten Wut muss er wohl gewisse Rechnungen nahe der zu erwartenden Realität anstellen – und das Ergebnis wird wohl lauten: Alle denkbaren Strafmassnahmen Westeuropas, der USA, Kanadas, Australiens etc. werden zwar schmerzhaft sein, aber zur grossen «Keule», nämlich zum Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-Finanztransfer-System, wird es wohl nicht kommen. Und so lange das nicht geschieht, kann Russland den Rest verschmerzen.
Stumpfe Waffe der Sanktionen
So ist es ja wohl auch. Gemäss dem, was zur Zeit von westlicher Seite geplant und angekündigt wird, kann Russland international keine Anleihen mehr aufnehmen. Das ist für die russische Finanzindustrie verkraftbar. Nord Stream 2 wird nicht in Betrieb genommen – schade für die russische Erdöl- und Erdgasbranche, aber immer noch keine Katastrophe. Abstrafung einiger russischer Oligarchen – für sie persönlich wohl hart, für Russland insgesamt peanuts. Schluss mit der Lieferung von High-tech-Elektronik an Russland – da sind die Folgen nicht klar absehbar, aber bei manchem kann China in die Lücke springen. Und sollte Russland den Transfer von Erdgas durch die Ukraine und Weissrussland in Richtung Westen stoppen, würde das wohl zuerst einmal schwerwiegende negative Folgen für Europa haben – Rückwirkungen auf die russische Wirtschaft würden erst mit zeitlicher Verzögerung schmerzhaft.
Höchst wahrscheinlich machen sich in Moskau auch Fachleute darüber Gedanken, was Sanktionen in den letzten Jahren und Jahrzehnten international überhaupt jemals bewirkt haben. Und da können nicht nur sie, da müssen auch wir feststellen: meistens wenig oder sogar nichts hinsichtlich der Wirkung auf Herrschende, auf Regime – viel anderseits auf die Bevölkerung der anvisierten Länder. Iran ist das krasseste Beispiel. Donald Trump wollte mit seiner Strategie des «maximalen Drucks» der Herrschaft der Mullahs den Garaus machen. Erreicht wurde das Gegenteil: Die Drahtzieher an der Spitze der Islamischen Republik blieben verschont, die radikalen Kräfte (in erster Linie die Revolutionswächter) sind heute einflussreicher denn je. Alle wirtschaftlichen Folgen treffen die Bevölkerung.
Gibt es andere Beispiele? Oft wird das seinerzeitige Apartheid-Regime in Südafrika genannt. Aber wer genau hinschaut, kann feststellen, dass eine Vielzahl von Ereignissen den Wechsel erzwungen hat. Die Sanktionen waren ein Mosaikstein unter vielen, und allein hätten sie die Kapitulation der weissen Minderheit nicht bewirkt.
Klarer ist die Bilanz hinsichtlich Rhodesiens: Da musste die weisse Minderheitsherrschaft von Ian Smith tatsächlich, in letzter Konsequenz, aufgrund der Sanktionen kapitulieren. Weitere wirklich erfolgreiche Beispiele gibt es jedoch nicht – weder hinsichtlich, beispielsweise, der (früheren) Sandinisten in Nicaragua noch im Blick auf Liberia im Zusammenhang mit dem internationalen Verbot des Imports von so genannten Blutdiamanten. Selbst das von harten Sanktionen betroffene Nordkorea hat weiterhin die Kapazität, die atomare Rüstung weiterzuentwickeln. Und ist heute, militärisch, stärker als eh und je.
Aus russischer Perspektive wichtig ist wohl, dass vom Westen erlassene Sanktionen im Bereich von Erdöl und Erdgas schnell auf die handelnden Länder zurückwirken würden. Europa ist zu ungefähr 35 bis 40 Prozent von russischem Erdgas abhängig – und sind die Preise für Erdgas und Energie insgesamt in zahlreichen westeuropäischen Ländern nicht bereits jetzt so hoch, dass Millionen Menschen sich das Heizen durch den Winter nicht mehr leisten können? Eine vollständige Befreiung der Abhängigkeit von russischer Energie ist kurzfristig nicht möglich – es sei denn zum Preis von drastischem Konsumverzicht. Längerfristig mag das anders aussehen (Flüssiggas z. B. aus Qatar ist in ausreichender Menge verfügbar, aber in Europa fehlen Terminals). Aber die russische Führung denkt, das zeigt die aktuelle Lage, eher kurz- als mittel- oder langfristig.
Und kurzfristig lautet die Devise: so viele Schockwellen auslösen wie möglich. Offenkundig auch ohne Rücksicht auf zu erwartenden Verluste.