Diese Wutrede muss man sich zu «Gemüte» führen (sie ist bei YouTube aufgeschaltet): Eine knappe Stunde lang wetterte Wladimir Putin über die Führung der Ukraine, die Ansprüche der Ukrainerinnen und Ukrainer auf Eigenstaatlichkeit, auf die Korruption, die Bösartigkeit, die Unfähigkeit so ziemlich aller im westlichen Nachbarland, Verantwortung in einem geordneten Staat zu übernehmen. Die Ukrainer seien Marionetten westlicher Mächte, die Gerichte des Landes würden vom Westen kontrolliert. Und dann die Ankündigung: Russland anerkennt die Souveränität der «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk. Und wird diese «Volksrepubliken» mit «Friedenstruppen» schützen.
Und wo sind in Zukunft die Grenzen dieser neuen «Staaten»? Die würden erst nach einem Freundschaftsvertrag (der wohl schon in wenigen Tagen unterzeichnet wird) definiert. Also liegen sie womöglich westlich der seit 2014/2015 sporadisch umkämpften Kontroll-Linie, weiter drinnen im Territorium der Ukraine? Vielleicht ja, vielleicht nein – alles bedrohlich offen.
Gründlich durchatmen
Wer sich die Rede angehört hat, tut gut daran, gründlich durchzuatmen und Details zu überdenken: Putin wird sich in nächster Zeit wohl darauf beschränken, einige hundert oder tausend gut bewaffnete Soldaten in die Separatistengebiete zu verlegen und darauf verzichten, weitere Territorien der Ukraine anzugreifen.
Wer salopp argumentieren möchte, könnte nun sagen: Das Territorium der zwei «Volksrepubliken» macht ja nur einen Bruchteil der Fläche des ukrainischen Staats aus, ca. 17’000 km2 gegenüber 600’000, und ausserdem sei diese Region ja, realpolitisch gesehen, ohnehin schon seit acht Jahren für die Ukraine verloren. Das aber greift entschieden zu kurz: Da geht es um Völkerrecht, um den Bruch von Verträgen, um Prinzipielles im Zusammenleben der internationalen Gemeinschaft.
Todesstoss für Minsk II
Und, darüber hinaus, praktisch darum, dass Putin mit der Anerkennung der «Volksrepubliken» dem mühsam im Jahr 2015 ausgehandelten Friedensvertrag von Minsk (Minsk II) den Todesstoss versetzte. Warum tat er das? Wäre «Minsk II» realisiert worden, hätten die Regionen von Donezk und Luhansk eine gewisse Autonomie erlangt und anderseits in Kiew Einfluss bekommen, um (vielleicht sogar) einen Beitritt der Ukraine zur Nato zu blockieren.
Langfristig wäre das für die russische Führung vorteilhafter gewesen als die Anerkennung des Gebiets im Osten der Ukraine.
«Die Ukraine hat es nie gegeben»
Sehr viel Zeit widmete Putin in seiner Wutrede der Geschichte. Nie habe es eine Ukraine gegeben, wetterte er, nie vor der Zeit der Sowjetunion, und alles, worauf sich heute die Leute in Kiew beriefen, hätten sie Lenin zu verdanken. Den Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 schilderte er als das Resultat von bösen Machenschaften. Wer aber stand hinter diesen Machenschaften? Das deutete er nur an, aber die Zielrichtung ging klar in Richtung Westen respektive der USA.
Nun trifft ja zu, dass US-Präsident Reagan sich das Ziel vorgenommen hatte, die Sowjetunion «tot zu rüsten», also die eigene Rüstung derart massiv voranzutreiben, dass die Sowjets keine Chance mehr hatten. Was Putin jedoch verschwieg, war, dass das riesige Kunstgebilde im Dezember 1991 namens Sowjetunion durch drei Persönlichkeiten aus dem eigenen Machtzirkel aufgelöst wurde, durch Boris Jelzin (Staatsoberhaupt Russlands), Stanislaw Schuschkewitsch (Belarus) und Leonid Krawtschuk (Ukraine). Sie trafen sich am 7.12.91 in einer Staatsdatscha nahe der polnischen Grenze, gingen gemeinsam auf die Wildschweinjagd, toasteten sich gegenseitig zu und einigten sich darauf, dass die Sowjetverfassung durch einen neuen Vertrag der Unionsrepubliken ersetzt werden könne. Drei Wochen später war die Sowjetunion Geschichte.
80 Prozent an der Wahrheit vorbei
Auch dass in den zwei davor liegenden Jahren in den verschiedenen Republiken Referenden durchgeführt wurden, bei denen sich Mehrheiten für die Eigenständigkeit aussprachen, ging in Putins Geschichts-Gemälde unter. Wobei er in einigen Details dann eben doch die Realität nachzeichnete – 70 Prozent der Stimmbürger der Ukraine votierten im März 1991 für die Erhaltung der Sowjetunion – 80 Prozent allerdings forderten, das Land solle Bestandteil einer Union souveräner Staaten werden.
Fazit zu Putins Geschichts-Exkurs, einmal salopp geschätzt: 80 Prozent knapp an der Wahrheit vorbei, 20 Prozent nachvollziehbar.
Wer sich übrigens im Detail mit der Ukraine befassen will, wird fündig bei den Publikationen des Historikers Andreas Kappeler («Russland und die Ukraine» aus dem Jahr 2012 und, bereits 1994 veröffentlicht, «Kleine Geschichte der Ukraine»).
Ein Gipfeltreffen Biden/Putin bringt wohl wenig
Zurück zur Aktualität: Auch wenn Putin sich darauf beschränken sollte, lediglich ein paar tausend Soldaten in die Volksrepubliken zu schicken und auf eine formelle Annexion zu verzichten, auch dann wird es keine Normalisierung der Grosswetterlage um die Ukraine geben. Die russischen Streitkräfte werden in der Nähe der ukrainischen Grenze bleiben, als Langzeit-Drohkulisse. Vielleicht werden sie von Zeit zu Zeit etwas verschoben, so dass die westlichen Satelliten erkennen, was am Boden geschieht. Die Nervosität, international, aufrecht zu erhalten, ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich eines der Ziele des russischen Präsidenten – dessen Grundstimmung in der Rede vom 21. Februar auf unheimliche Weise klar wurde: Wut.
In einer solchen Stimmung sind diplomatische Gespräche wenig erfolgversprechend. Darum erscheint es, zum gegenwärtigen Zeitpunkt, fraglich, ob die angekündigten Treffen zwischen dem russischen Aussenminister Lawrow und dessen US-Amtskollegen Blinken oder auch ein Gipfeltreffen Putin-Biden zielführend sein können.