
Es ist schwer zu sagen, wann man begann, über Eigenheiten individueller Handschriften nachzudenken. Als Gründungstext jener Wissenschaft, die man in unseren Zeiten als «Graphologie» bezeichnet, gilt den Experten ein Traktat des bologneser Philosophen Camillo Baldi (1550-1637), das zum ersten Mal 1622 - also vor mehr als 400 Jahren – erschienen ist.
Das Werk erschien zusammen mit zwei anderen kürzeren Schriften des akademischen Universalgelehrten. Baldi unterrichtete 60 Jahre lang an der Universität von Bologna die unterschiedlichsten geisteswissenschaftlichen Fächer, reichend von Logik über allgemeine Philosophie bis zur Literaturwissenschaft, Rhetorik und zu Disziplinen, die wir heute zum Fach Psychologie oder zur Geschichte der Medizin zählen würden.
Die meisten seiner Schriften sind in der Gelehrtensprache Latein überliefert. Etwa seine Kommentare zu Schriften von Aristoteles. Einige ihm wichtig scheinende und seiner Einschätzung gemäss auf das Interesse breiterer Schichten stossende Schriften verfasste er auch in «lingua volgare». Unter diesen befindet sich jene mit dem Titel «Come da una lettera missiva si conoscano la natura e qualità dello scrittore». Sinngemäss übersetzt: Wie man aus einem handgeschriebenen Brief die Natur und die Eigenschaften des Schreibenden erkennen kann.
Bologna trägt als Stadt den Beinamen «la dotta e la grassa» – der Ort der Gelehrten, aber auch der Ort, an dem man sich physisch und kulinarisch gut zu ernähren versteht. Ihre Universität, gegründet 1088, gilt als die erste Hochschule dieser Art auf west-europäischem Boden. Zuerst unterrichtete man in verschiedenen Gebäuden und Kirchen der Stadt. Ab dem 16. Jahrhundert zog man dann ins sogenannte «Archiginnasio» – heute noch ein viel bestaunter und besuchter Teil der historischen Universität.
Am Anfang des akademischen Ruhmes von Bologna standen die Fakultäten der Rechtswissenschaft und der Naturwissenschaft, zu denen damals neben der Mathematik und der Philosophie auch die Medizin gehörten. Die Zahl der international bekannt gewordenen Gelehrten der Universität Bologna ist Legion, bis auf den modernen Star aus Bologna in unserer Zeit: den Semiotiker und Schriftsteller Umberto Eco, der bis zu seinem Tod 2016 dieser Universität eng verbunden blieb. Heute ist dort seine riesige Privatbibliothek als Teil der Universitätsbibliothek eingerichtet. Besuchen kann man inzwischen auch sein rekonstruiertes Arbeitszimmer.
So weltweit berühmt wie Umberto Eco wurde Camillo Baldi zwar nicht, doch ein weit über die Grenzen seiner akademischen Beschäftigungen interessierter Mann war auch er. Man darf nicht vergessen, dass in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein gerade neu erwachendes Interesse an der Physiognomik herrschte, auch wenn die eigentliche Blütezeit dieser «Pseudowissenschaft» – vor allem auch der Kritik an ihr – sich erst im 18. Jahrhundert ereignete.
Die Physiognomik – etwa des Giambattista della Porta, der 1586 sein Werk «De humana Physiognomia» publizierte – muss als eine Fortsetzung der antiken «Humoralmedizin» in der Spätrenaissance betrachtet werden, näher der Alchemie und den geheimen Praktiken und Goldmacherkünsten verwandt als der anatomischen Erforschung des menschlichen Körpers. Baldi wollte gerade da auch mitreden. Aus dem Jahr 1629 gibt es von ihm eine Schrift mit dem Titel – in deutscher Übersetzung: «Abhandlung über die Art und Weise, wie man aus der Beschaffenheit des Körpers die natürlichen Neigungen der Seele erkennen kann».
Doch zurück zu seiner Schrift über die Graphologie. Heute spielt dieser Hilfszweig der Persönlichkeits- und Charakteranalyse eine Rolle in unterschiedlichen Lebensbereichen. Wichtig ist sie vor allem in kriminaltechnischer Sicht bei der Überprüfung echter oder gefälschter Unterschriften auf Urkunden und in Testamenten. Auch in charakter-analytischer Intention findet sie Verwendung, in dieser Hinsicht mit astrologischen Gutachten nicht gänzlich unverwandt! Es gibt nach wie vor Unternehmen, die ihre Mitarbeiter erst aufgrund einer Expertenmeinung hinsichtlich ihrer Handschrift anstellen.
Wenn eine Braut auf ein graphologisches Partnerschaftsgutachten besteht, um so zu erfahren, ob sie mit einem profitorientierten Heiratsschwindler oder mit einem sie liebenden und verlässlichen Partner ihr Leben verbringen wird, begibt sie sich auf wackeliges Terrain. Nicht weniger tut dies, wer sich aus der Analyse der Handschrift von Napoleon, Hitler, van Gogh oder Ingeborg Bachmann Aufschluss über deren Tatendrang, Visionen, krimineller Energie oder kreativer Genialität erhofft.
Auch zu Camillo Baldis Zeiten waren Hypothesen und gewagte Annahmen phantasiebegabter Menschen oft der erste Schritt zu sich verfestigenden Meinungen und Überzeugungen. Im Glücksfall erwiesen sich diese aufgrund der dazu einsetzenden empirischen Forschung als nachweisbare wissenschaftliche Ergebnisse.
Oft jedoch konnten sie sich aber auch zu Ideologien und Irrlehren auswachsen und verfestigen. Baldis graphologische Schrift würde man heute als eine populärwissenschaftliche Studie einstufen. Mit Gewissheit fand sie das rasche Interesse einer Leserschaft, die daran interessiert war, über das Rätsel eines menschlichen Individuums, seine Handlungen und Empfindungen, seine geheimen Absichten und Ziele mehr zu erfahren, als man bislang wusste. Doch aus Gegebenheiten des Körpers auf Eigenschaften der Seele und des Gemütes zu schliessen, blieb schon damals eine riskante Schlussfolgerung.
Betrachten wir nun im Einzelnen, was Camillo Baldi aus den Handschriften seiner Zeitgenossen herauszulesen verstand. Wenn man Baldis Traktat mit Lehrbüchern und Anleitungen zur modernen Graphologie vergleicht, erkennt man sogleich, dass hier das Wissen nicht dank einer vergleichenden empirischen Methode zahlreicher historisch beglaubigter Schriftproben entsteht, sondern dass es die philosophisch untermauerten Ansichten eines frühbarocken Gelehrten sind, die ihn zu seinen Annahmen und gewagten Spekulationen führten.
Sein Traktat besteht aus einem Vorwort und 13 kurzen Kapiteln, in einer modernen Druckvariante knappe 70 Seiten insgesamt. Dem Leser wird bald einmal bewusst, dass er es hier mit einem rhetorisch mit allen Wassern gewaschenen und hochgebildeten frühen «Semiotiker avant la lettre» zu tun hat. Das heisst: mit einem Zeichendeuter vor der eigentlichen Erfindung dieses Wissenschaftszweigs im späten 19. Jahrhundert durch Ferdinand de Saussure und Charles Sanders Peirce.
Dass Baldi aber ein gewiefter Schreiber war, erkannte bereits der kirchliche Inquisitor, der – wie in gegenreformatorischer Zeit üblich – die Druckerlaubnis zu erteilen hatte und nach der Lektüre des Manuskripts fand: Diese Schrift verletze weder den heiligen Glauben noch die guten Sitten, sie sei vielmehr das Produkt eines subtilen und glücklich veranlagten Geistes. Wissbegierigen Lesern biete sie sogar «diletto e piacere – Vergnügen und Freude».
Hier einige der Überschriften der einzelnen Kapitel von Baldis Traktat, in freier Übersetzung: Wie die Schrift aussehen muss, damit man aus ihr die Natur und die Sitten des Schreibenden erkennen kann. Welche Eigenschaften des Körpers und des Geistes man beim Lesen eines Briefes erspüren kann. Mit welchen Instrumenten und Mitteln man diese Eigenschaften findet. Welche Bedeutungen man aus der Gestalt der Buchstaben ziehen kann. Was uns Orthografie und Zeichensetzung verraten. Beurteilungen, die aus einer geschmückten und verzierten Sprache abzuleiten sind. Was die stilistischen Eigenschaften eines Briefes uns über die Absichten eines Schreibenden offenbaren.
Baldi meint beispielsweise, Briefe würden auch die Haltungen und Hintergedanken eines Schreibenden offenlegen. Ist dieser bescheiden und zurückhaltend oder nur ungehobelt, ungebildet und linkisch im Ausdruck? Das verrät sich alles in seiner Schrift. Baldi ist überzeugt: Es handelt sich um eine ganz andere seelische Verfasstheit und charakterliche Disposition des Schreibenden, wenn dieser schreibt: «Petrus weint». Oder aber: «Es regnen Tränen aus dem Gesicht des Petrus». Oder gar: «Die Augen des Petrus verströmen Mengen von Wasser». Das wollen wir dem Professor aus Bologna doch gerne abnehmen, auch wenn es sich ebenso plausibel aus einer momentanen und zufälligen Gemütsverfassung oder aus einer mitteilsamen Augenblickslaune erklären liesse.
Das wohl interessanteste und zugleich vergnüglichste Kapitel des Buches ist das dritte, in dem Baldi frech behauptend erläutert, ein handgeschriebener Brief sei der beste Spiegel, den wir besässen, um tief in den körperlichen und geistigen Zustand eines Menschen blicken zu können. Ob die schreibende Person für das, was sie vorhabe, geeignet oder ungeeignet sei. Ob sie eitel und angeberisch, oder ernst und verlässlich sei. Ein Clown, Aufschneider und Schwätzer, oder aber eine gewissenhafte, gottesfürchtige, verantwortliche, praktisch veranlagte und hilfsbereite Person.
Die Schrift verrät nach Baldi ebenso die Ängste, Unentschlossenheit und das Zögern eines Schreibenden wie auch seine Überheblichkeit, Rücksichtslosigkeit und Brutalität. Auch dessen Anlage zu Verleumdung und Lüge, zu Verstellung und Betrug, zu Ausschweifung und Verschwendung werde im Schreiben offenbar. Es ist, als habe Baldi Dantes gesamten Tugend- und Lasterkatalog vor Augen gehabt, bevor er niederschrieb, was er alles in der Handschrift eines Briefschreibers unübersehbar eingemeisselt erkennen wollte.
Die Schlusspassage dieses Kapitels lautet: «Wie also der Hund, die Katze, der Wolf, sobald sie Hunger verspüren oder von ihren Bedürfnissen und Affekten überwältigt werden, durch ihre Stimme kundtun, wie ihnen zumute ist, anders der heulende Wolf als der bellende Hund, so tun der stolze und empörte Mensch, der von bösen Absichten gejagte wie der still in sich befriedete Mensch beim Schreiben ihren Charakter offenbaren. Wie deshalb ihre Stimme den Hund oder den Wolf verraten, so wird durch die Art des Schreibens beim Menschen offenbar, mit welchem Charakter wir es jeweils zu tun haben.»
Das mag uns heute als eine so kühne wie simple Folgerung erscheinen. Aber auffällig ist es schon, wie gläubig wir heute noch sind, wenn wir davon ausgehen, durch die Handschrift tief in die Seele und den Geist eines Menschen blicken zu können. Aus den Märchen wissen wir, dass Wölfe Kreide essen müssen, um ihre Stimme täuschend zutraulich und liebenswürdig werden zu lassen. Was können Menschen tun, um ihren Charakter beim Schreiben nicht zu verraten, wenn sie diesen geheim und unbuchstabierbar halten möchten?
Denn die eigene Handschrift ins Unlesbare und Undeutbare abgleiten zu lassen, wäre doch für jeden modernen Graphologen eine durchschaubare Verweigerungsstrategie. Letztlich nichts als die Flucht zu einer Scheinlösung bezüglich der Frage, was Handschriften verraten und welche Geheimnisse sie am Ende doch für sich behalten.