Unter Putins Herrschaft ist das Land zu einer aggressiven Diktatur geworden. Gleichzeitig mit dem nationalistischen Kult der Einheit und Stärke zeigt sich immer drastischer ein Zerfall ziviler Standards, der die russische Gesellschaft von innen her zersetzt.
Nach dem verheerenden IS-Angriff vom 22. März auf die Crocus City Hall in Moskau gab es grosse Anteilnahme auch im Westen. Unverzüglich drückten Staatschefs, Aussenminister und offizielle Stellen der USA, Deutschlands, Frankreichs, Grossbritanniens und vieler weiterer Länder – darunter die Schweiz – ihr Entsetzen über die Terrorattacke aus und bekundeten ihr Beileid. Abgesehen davon, dass dies zivilisierter diplomatischer Standard ist, konnte man darin – wenn man denn wollte – auch ein Signal des Westens sehen, das die zukünftige Möglichkeit eines normalen Umgangs mit Russland andeutet.
Aber eben: Das wollte man im Kreml offensichtlich nicht. Kurz nach dem Anschlag behaupteten zuerst Medwedew und dann Putin, die Spur des Terrors führe über Kiew in den Westen. Als dann aufgrund des Bekennerschreibens des IS und der Tätervideos an der Evidenz einer islamistischen Täterschaft nicht mehr zu rütteln war, modifizierte Putin sein Narrativ: «Wir wissen nun, wessen Hände dieses Verbrechen gegen Russland und sein Volk verübten. Jetzt wollen wir wissen, wer der Auftraggeber ist», erklärte er am 26. März bei einem im Fernsehen übertragenen Treffen.
Mit dieser Volte hat Putin das IS-Massaker in eine Machenschaft des Westens umgedeutet und damit als weiteren Stützpfeiler in seine Rechtfertigung des Überfalls auf die Ukraine eingebaut. Seit zehn Jahren steht seine Regentschaft im Zeichen einer von ihm herbeifantasierten welthistorischen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen, die er seither Schritt für Schritt zur bitteren Realität macht. Die Ukraine ist erstes Opfer und Testfall seiner Expansionspolitik. Sollte die westliche Unterstützung der Ukraine nicht stark genug sein, um ihn zu stoppen, so sind die nächsten Opfer schon bestimmt: die Moldau und die baltischen Staaten. Stiesse Putin selbst bei dieser Eskalation nicht auf einen zu allem entschlossenen Widerstand, so könnte in Europa buchstäblich alles möglich werden. Putin ist seit Jahren daran, sein Volk auf einen neuen «grossen vaterländischen Krieg» vorzubereiten.
Den Preis dafür zahlt Russland schon jetzt. Das Schlimme sind nicht die – ohnehin löchrigen und halbherzigen – Sanktionen. Die radikale Umstellung auf Kriegswirtschaft wird die Menschen auf Dauer stärker belasten. Aber auch sie ist nicht das Entscheidende. Was an die Substanz der russischen Gesellschaft geht, das ist das toxische Gemisch aus Indoktrination, Entmündigung, Denunziation und Verrohung, das dem Volk in immer höherer Dosierung verabreicht wird.
Die Gleichschaltung der Medien unter dem Regime von nationalistischer Ideologie und Kriegspropaganda, die Eliminierung jeglicher Opposition, die Kriminalisierung und Auflösung zivilgesellschaftlicher Initiativen, die zur Normalität gewordene Indienstnahme von Polizei und Justiz durch das Regime, die Militarisierung von Pädagogik und Bildungswesen, die Mobilisierung und anschliessende Begnadigung tausender von Kriminellen sowie die schamlos manipulierten Abstimmungen und Wahlen: dies und vieles mehr durchtränkt die russische Gesellschaft mit dem Gift der Subordination und macht die Menschen – je nachdem – fanatisch, opportunistisch oder gleichgültig.
Vereinzelt kommt es noch zu einem Aufflackern von Widerspruch und kurzzeitigen Versuchen mit dem aufrechten Gang. Beim Begräbnis des willkürlich weggesperrten und schliesslich ermordeten Alexej Nawalny war es zu sehen. Danach wagten ein paar Mutige einen stillen kleinen Protest gegen die gefälschte Präsidentschaftswahl – unter Androhung von Gefängnisstrafen bis zu fünf Jahren.
Putin richtet sein Land zugrunde. Es befindet sich im ungebremsten Niedergang. Gerade dadurch ist es eine Gefahr für Europa und die Welt. Dem zerstörerischen Kurs des Kremlherrschers kann nur durch eine entschlossene Unterstützung der Ukraine Einhalt geboten werden. Wer in dieser Situation vom «Einfrieren» des Kriegs oder «Verhandlungslösung» spricht oder aus Angst vor vermuteten roten Linien die wirksamsten Waffen zurückhält, ist nicht, wie gern behauptet, «besonnen», sondern eingeschüchtert. Also genau so, wie Putin den von ihm verachteten Westen immer schon sieht: als letztlich harmlosen, nicht ernstzunehmenden Gegner.