Drei Dutzend Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträger rufen in einem am Mittwoch veröffentlichten Offenen Brief zu einer erweiterten Hilfe für die Ukraine. Sie warnen vor einer fatalen Appeasement-Politik gegenüber dem Putin-Regime.
Zu den Unterzeichnern zählen die Schriftstellerinnen Swetlana Alexijewitsch, Elfriede Jelinek, Herta Müller und ihr nigerianischer Kollege Wole Soyinka.
«Vor zwei Jahren begann Wladimir Putin eine unprovozierte militärische Aggression gegen die Ukraine, die zu Todesfällen und Zerstörungen führte, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa nicht mehr gegeben hat», heisst es in dem auf Englisch veröffentlichten Text. Der Krieg gegen die Ukraine fiel zeitlich mit einem zunehmenden repressiven Vorgehen gegen politisch Andersdenkende und die Meinungsfreiheit in Russland zusammen. Weiter heisst es in dem Appell:
«Kürzlich wurde die Welt durch den Tod von Alexej Nawalny, dem wichtigsten politischen Gegner Putins, erschüttert. Vor seiner Inhaftierung, bei der er gefoltert und ermordet wurde, überlebte Nawalny eine staatlich organisierte Vergiftung durch chemische Kampfstoffe. Trotz dieser erschütternden Erfahrung entschied er sich trotzig, nach Russland zurückzukehren, was einen wahren Akt des Patriotismus darstellt.
Der Krieg in der Ukraine und der Mord an Alexej Nawalny betreffen nicht nur Russland und die Ukraine. Putins Regime hat gezeigt, dass es eine klare und unmittelbare Bedrohung für die Menschheit darstellt. Seit seiner Machtübernahme im Jahr 2000 hat Putin systematisch die demokratischen Institutionen im postsowjetischen Raum abgebaut und die Konflikte in den Staaten der ehemaligen UdSSR angeheizt. Die gross angelegte Aggression gegen die Ukraine und die Ermordung von Alexej Nawalny verdeutlichen die Eskalation der Bedrohung auf eine neue Stufe, da Putins Regime bei der Verletzung von Menschenrechten und internationalen Normen keine Grenzen mehr anerkennt.
Erinnerung an die Tragödien im 20. Jahrhundert
Die Schrecken der Weltkriege im 20. Jahrhundert haben deutlich gemacht, dass die Menschheit ihre Selbstzerstörung nur durch die Wahrung demokratischer Grundsätze und die Einhaltung internationaler Menschenrechtsnormen vermeiden kann. Putins Regime jedoch tritt diese Grundsätze zynisch mit Füssen. Die Tragödien des Totalitarismus im 20. Jahrhundert erfordern ein Engagement für die Freiheiten und die Würde des Einzelnen. Putin verstösst eklatant gegen diese Grundsätze. Er hat Russland in einen stark militarisierten Polizeistaat verwandelt, der mit dem grössten Atomwaffenarsenal ausgestattet ist und eine existenzielle Bedrohung für die Welt darstellt. Diese Gefahren wurden von Alexej Nawalny und anderen Führern der russischen Opposition in Anlehnung an das Vermächtnis ihres grossen Vorgängers und Friedensnobelpreisträgers von 1975, Akademiker Andrej Sacharow, formuliert.
Wir, Wissenschaftler aus aller Welt, fordern die führenden Politiker der Welt auf, sich energisch für Frieden, Fortschritt und Menschenrechte einzusetzen. Als Mitglieder der internationalen akademischen Gemeinschaft sind wir zutiefst besorgt darüber, dass der wissenschaftliche Fortschritt bedroht ist, wenn Diktatoren die geistige Freiheit untergraben, insbesondere in einer Zeit, in der die globale Zusammenarbeit angesichts weltweiter Pandemien, des Klimawandels und der existenziellen Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen wichtiger ist denn je.
Keine Illusionen über das Putin-Regime
Wir rufen die Staats- und Regierungschefs der Welt und alle Menschen guten Willens auf, jegliche Illusionen über Herrn Putin und sein kriminelles Regime abzulegen. Die Geschichte lehrt uns, dass die Beschwichtigung eines Aggressors weitere Verbrechen gegen die Menschheit begünstigt. Kein vorübergehender Nutzen kann dies rechtfertigen. Wir sind entschlossen, dass sich München 1938 nicht wiederholt!»
Die Nobelpreisträgerinnen und -träger rufen die Führer der Welt auf, sich an folgenden Zielen zu orientieren:
- Deutliche Ausweitung der Ukrainehilfen: «Rechtzeitige Hilfe wird den Verlust von Menschenleben verringern und beitragen, den Aggressor von ukrainischem Boden zu vertreiben.» Das werde zudem den Weg bereiten für Veränderungen innerhalb Russlands: «Putins Niederlage (…) wird von Millionen Russen als moralischer Sieg betrachtet werden, der ihre Hoffnung auf eine demokratische Zukunft stärkt und eine Anti-Kriegs-Bewegung mobilisiert.»
- Unterstützung der bedrängten Opposition innerhalb Russlands: Das Leben politischer Gefangener wie Ilja Jaschin, Wladimir Kara-Mursa oder Lilia Tschanyschewa schwebten nach der Ermordung von Alexej Nawalny in «unmittelbarer Gefahr». Die Weltgemeinschaft müsse deshalb alles tun, um sie zu schützen (hier finden Sie mehr Informationen über Jaschin , Kara-Mursa und Tschanyschewa)
- Eine stärkere Unterstützung russischer Bürgerinnen und Bürger, die aufgrund ihrer politischen Überzeugungen geflohen sind und im Ausland Asyl benötigen.
- Ausbau der Hilfe russischer Oppositions-Organisationen und unabhängiger russischer Medien, deren Rolle bei einem möglichen «Regimewechsel» entscheidend sei.
- Verweigerung der Anerkennung von Putins Präsidentschaft: Die Welt müsse eine deutliche Botschaft aussenden, Putin nicht länger als «Partner» zu betrachten.
Unterzeichnet ist der Aufruf von folgenden Nobelpreisträgern:
- Svetlana Alexievich, 2015 Nobel Laureate in Literature
- Harvey J. Alter, 2020 Nobel Laureate in Physiology or Medicine
- Francoise Barre-Sinoussi, 2008 Nobel Laureate in Physiology or Medicine
- Thomas R. Cech, 1989 Nobel Laureate in Chemistry
- Elias James Corey, 1990 Nobel Laureate in Chemistry
- Shirin Ebadi, 2003 Laureate of Nobel Peace Prize
- Sheldon Lee Glashow, 1979 Nobel Laureate in Physics
- Carol W. Greider, 2009 Nobel Laureate in Physiology or Medicine
- Roald Hoffmann, 1981 Nobel Laureate in Chemistry
- Louis J. Ignarro, 1998 Nobel Laureate in Physiology or Medicine
- Elfriede Jelinek, 2004 Nobel Laureate in Literature
- Takaaki Kajita, 2015 Nobel Laureate in Physics
- Roger D. Kornberg, 2006 Nobel Laureate in Chemistry
- Ferenc Krausz, 2023 Nobel Laureate in Physics
- Brian K. Kobilka, 2012 Nobel Laureate in Chemistry
- Roderick MacKinnon, 2003 Nobel Laureate in Chemistry
- Barry J. Marshall, 2005 Nobel Laureate in Physiology or Medicine
- John C. Mather, 2006 Nobel Laureate in Physics
- Michel Mayor, 2019 Nobel Laureate in Physics
- May-Britt Moser, 2014 Nobel Laureate in Physiology or Medicine
- Edvard Ingjald Moser, 2014 Nobel Laureate in Physiology or Medicine
- Herta Müller, 2009 Nobel Laureate in Literature
- Paul Nurse, 2001 Nobel Laureate in Physiology or Medicine
- James Peebles, 2019 Nobel Laureate in Physics
- William D. Phillips, 1997 Nobel Laureate in Physics
- H. David Politzer, 2004 Nobel Laureate in Physics
- Charles M. Rice, 2020 Nobel Laureate in Physiology or Medicine
- Sir Richard J. Roberts, 1993 Nobel Laureate in Physiology or Medicine
- Bert Sakmann, 1991 Nobel Laureate in Physiology or Medicine
- Randy W. Schekman, 2013 Nobel Laureate in Physiology or Medicine
- Gregg L. Semenza, 2019 Nobel Laureate in Physiology or Medicine
- Vernon L Smith, 2002 Nobel Laureate in Economics
- Wole Soyinka, 1986 Nobel Laureate in Literature
- Gerardus ‘t Hooft, 1999 Nobel Laureate in Physics
- Jack W. Szostak, 2009 Nobel Laureate in Physiology or Medicine
- Drew Weissman, 2023 Nobel Laureate in Physiology or Medicine
- Eric F. Wieschaus, 1995 Nobel Laureate in Physiology or Medicine
- Jody Williams, 1997 Laureate of Nobel Peace Prize
- Oleksandra Matviichuk, Head of the Center for Civil Liberties, 2022 Laureate of Nobel Peace Prize
Der Originaltext des Appells kann unter dem folgenden Link aufgerufen werden: