Die jüdische Bevölkerung in Israel wurde Opfer des schlimmsten antijüdischen und antisemitischen Pogroms seit 1945. Um den Schrecken verarbeiten zu können und um zu verhindern, dass sich Ähnliches wiederholt, muss die Rolle der Religionen im Konflikt aufgearbeitet werden.
Die Bedeutung der Religion wird mit der Adressierung von Hamas als Islamisten und islamische Extremisten zwar angesprochen, aber nicht weiter problematisiert. Denn schon eine oberflächliche Betrachtung weist darauf hin, dass das Geschehen in Israel und Palästina damit zu tun hat, wie sich in der gegenwärtigen Situation oder auch schon in der jüngeren Vergangenheit die Beziehung zwischen Politik und staatlicher Macht auf der einen und den Religionen auf der anderen Seite entwickelt haben.
Wir erleben eine Renaissance ultranationalistischer Ideologien, die sich mehr und mehr die Religionen aneignen und damit auch die Religionen grundsätzlich verändern. Dieser Veränderungsprozess ist nicht nur im Islam dokumentiert, sondern findet sich in gleicher Weise auch im Judentum. Die Transformation der politischen Ordnung hin zu einer ultranationalistischen Vorstellungswelt korrespondiert so auch mit einer Transformation der religiösen Welten.
Damit stehen die Religionsangehörigen beziehungsweise diejenigen, die als Vertreter der Religionen agieren, vor einer ausserordentlichen Herausforderung. Sofern sie nicht selbst die ultranationalistischen Neuinterpretationen teilen, sind sie aufgerufen, gegen diese neue Deutung der Religion durch den Ultranationalismus Stellung zu beziehen.
Am deutlichsten finden wir solch kritische Stellungnahmen zurzeit im Judentum. Sowohl in der Orthodoxie wie bei den liberalen und Reformgemeinden mehren sich die Stimmen, die sich gegen die ultranationalistische Inanspruchnahme des Judentums etwa durch Kahanisten und andere religiöse Zionisten zur Wehr setzen und vor allem auch die Rolle des Judentums im Staat Israel neu überdenken wollen. Das findet sich nicht nur bei Anhängern der antizionistischen Ultraorthodoxen von Agudat Jisrael oder Neturei Karta.
Zu erwarten wäre, dass in gleicher Weise muslimische Religionsvertreter die Inanspruchnahme des Islam durch religiöse Ultranationalisten wie den Islamischen Dschihad oder Hamas radikal kritisieren und so den Islam beziehungsweise die islamischen Institutionen aus der Umklammerung durch diesen Nationalismus zu befreien suchen.
Wie sich Religionen verändern
Das Dramatische ist, dass sich die Religionen durch diese Inanspruchnahme selbst verändern. Ein Merkmal solcher Veränderung ist die Neubestimmung des Verhältnisses zur Gewalt. Im russischen Krieg gegen die Ukraine haben es Angehörige des orthodoxen russischen Klerus nicht mehr bei der Segnung von Waffen und Soldaten belassen, sondern die Gewalt selbst geheiligt. In gleicher Weise haben auch Kommandeure von Hamas und Dschihad-Einheiten enthemmte Gewalt als nationale Tat gepriesen. Und da in ihren Augen der Islam die Befreiung der Nation ermöglichen werde, propagieren sie zugleich eine Gewalt als «religiös verdienstvoll», die ohne Unterschied allen Feinden der Nation, vom Kleinkind bis zur Greisin zu gelten habe.
Hinzu kommt die Neudeutung der Religion als Ausdruck eines historischen Heilsgeschehens, das sich in der Nation verwirkliche. Dementsprechend könne das religiöse Heil und das religiöse Heilserlebnis nur in der Nation erfahren werden. Und da sich die Nation ausschliesslich aus der Geschichte rechtfertige, sei Religion vornehmlich Heilsgeschichte, die jede säkulare Geschichte nichtig mache. Ein Merkmal dieses neuen Nationalismus ist, dass er sich seine Vorstellungen exklusiver Zugehörigkeit einzig in der Geschichte festmacht. Seine Narrative geben seine Geltung als historisch begründet aus. Deshalb verlangt die Befreiung der Religion von ultranationalistischer Überhöhung mehr als nur eine Kritik dieser Inanspruchnahme: sie verlangt eine Neubestimmung des Geschichtlichen in der Religion.
Sekundäre Religiosität
Hamas und der Islamische Dschihad können nur begrenzt als religiöse Formation begriffen werden, und die Bevölkerung in Gaza und in Hochburgen auf der Westbank betrachten diese beiden Organisationen nur sekundär als Vertreter des Islam. Deutlich wird dies, wenn man den historischen Prozess der Herausbildung der heutigen Ideologie von Hamas betrachtet: Die Grundsatzerklärung von 2017 zum Beispiel unterscheidet sich deutlich von der alten Gründungscharta von 1987. Damals sahen sich die Vertreter von Hamas noch stark in der Tradition der Muslimbrüder, die ihrerseits einem islamischen Nationalismus verpflichtet waren. Und damals stand noch die Idee im Vordergrund, dass Hamas auch zur Transformation der Gesellschaft im Sinne der Muslimbrüder beitragen müsse.
Wie bei den klassischen Muslimbrüdern wurde der Nationalismus als sekundär gegenüber einer gesellschaftlichen und moralischen Neuordnung angesehen. Wie der Gründungsvater der Muslimbrüder, Hassan al-Banna, immer wieder betont hat, sollte der Nationalismus als Zielgrösse einer religiösen Transformation der Gesellschaft gelten. Das abschliessende Ziel war die Vereinigung von Religion und Nation in einer politischen Ordnung. Davon war 2017 aber nicht mehr die Rede. Stattdessen gilt jetzt das Dogma, dass der historische Auftrag der Wiedergeburt der palästinensischen Nation der eigentliche Wille des Islam sei.
Zionismus und Islamismus
Abkürzungen wie «Islamisten» oder «Extremisten» verhindern eine sachgerechte Analyse der Vorstellungswelten sowohl auf der Seite der religiösen Ultranationalisten in Gaza und auf der Westbank wie auch religiöser Zionisten vor allen Dingen unter den Siedlern. Dadurch schwinden aber die Möglichkeiten, in adäquater Weise Front gegen den religiösen Ultranationalismus zu machen.
Islamismus ist ein Bündel ideologischer Formationen im Rahmen eines politischen Islam, also einer islamischen politischen Öffentlichkeit. Dabei besteht historisch gesehen eine gewisse Familienähnlichkeit zwischen Zionismus und Islamismus: Bei beiden Traditionen handelt es sich um säkulare Interpretationen religiöser Ordnungen, die im Staat den Träger der Verwirklichung einer religiösen Vorstellung sehen.
Zionismus und Islamismus sind beides Produkte einer modernen Religionsauffassung. Beide haben zwar ein allgemeines Ziel, das abgekürzt als «Zion» beziehungsweise «Islam» bezeichnet wird, doch unterscheiden sich innerhalb der Befürworter eines solchen Ziels die politischen Programme grundsätzlich. Und so wie es in der zionistischen Tradition Linkszionisten und Rechtszionisten, liberale Zionisten, Reformzionisten und Revisionisten gegeben hat und gibt, so finden sich auch im Rahmen des sogenannten Islamismus linke, liberale, konservativ-bürgerliche oder rechtsnationalistische Interpretationen. Und natürlich wird auch hier wieder die Geschichte als Rechtfertigungsraum für dieses «Ziel Islam» eingesetzt. Nimmt man das politische Spektrum des Zionismus als Beispiel, kann man sich vorstellen, wie stark auch die Differenz zwischen einer linksislamistischen und einer konservativ-islamistischen oder gar rechtsnationalistischen Linie war und ist.
Es bietet sich an, Zionismus und Islamismus gegenüberzustellen, um die Differenzen und Spezifitäten dieser beiden Vorstellungen näher zu bestimmen. Weder die Ideologeme «Zion» und «Islam», noch ihre ideologischen Denkwelten «Zionismus» und «Islamismus» sind deckungsgleich, weder inhaltlich noch funktional; Zionismus hatte sich als säkulare Ideologie eines jüdischen Nationalismus allmählich seit den 1830er Jahren herausgebildet und wurde in Reaktion auf die Erfahrungen des seit den 1870er Jahren grassierenden Antisemitismus und die sich gleichzeitig in Osteuropa ausbreitende Pogromstimmung in politische Programme eingefasst. Zionismus war mit einer Praxis verbunden, die auf den Schutz der jüdischen Bevölkerung in einer historischen Heimstatt zielte.
Der Islamismus war ein anfänglich noch sehr vages ideologisches Denkmuster. Dieses deutete den Islam als Repräsentation des Nationalen, das bestehende staatliche Macht zu rechtfertigen habe. Es schien, als würde der Islam selbst die Nation sein, tatsächlich aber ging es immer um real existierende politische Landschaften. Der Islamismus säkularisierte den Islam zur Nation und gestaltete eine Vielzahl divergierender islamischer Nationalismen.
Schleifung der modernen Abgrenzungen
Was nun wieder beide modernen Interpretationen religiöser Traditionen verbindet, ist die Tatsache, dass sich in den letzten dreissig Jahren zunächst schleichend, und dann immer aggressiver eine neue ultranationalistische Vorstellungswelt eingenistet hat, die die Religion gänzlich dem Ziel der Wiedergeburt der Nation unterwirft. Damit wird politisches Handeln notwendig mit einem Irredentismus verknüpft. Diese Auffassung hat mehr mit den Legitimationsgrundlagen zu tun, mit denen das russische Regime seinen Krieg gegen die Ukraine rechtfertigt, als mit den etablierten religiösen Auffassungen, die bislang in den nahöstlichen Öffentlichkeiten bestimmend waren.
Dieser Ultranationalismus verflicht Politik und Religion zu einem neuartigen Gefüge, das jenseits der klassischen Ordnung der Moderne steht. Kennzeichnend für die Moderne ist die Auffassung, dass Religion und Welt zwei autonome Ordnungen darstellen, die sich zwar gegenseitig beobachten und auch gegenseitig zum Teil sogar zu beherrschen versuchen, doch im Grossen und Ganzen auf der Einsicht beruhen, dass nur in der gegenseitigen Anerkennung ihrer jeweiligen Autonomie eine Friedenslösung für die Gesellschaft möglich sei.
Genau diese Auffassung stellt der Ultranationalismus in Frage. Daher ist der Massenterror von Hamas zugleich auch eine Kampfansage an eine ausgewogene Ordnung des Verhältnisses von Religion und Politik, Religion und Welt sowie Religion und Staat in der Moderne. Die Ähnlichkeit des Massenterrors von Hamas und des Massenterrors russischer Truppen in Butscha zeigt die ganze Dramatik der Situation.
Verantwortung in der Zeitenwende
Die grosse Frage ist, wie es den religiösen Institutionen gelingen kann, die Inanspruchnahme der Religion und ihre Transformation durch den Ultranationalismus auszuhebeln. Hier sind nicht nur der Staat und die Gesellschaft gefragt; hier sind vor allem auch die Institutionen gefragt, die für die Religion stehen. An den Ereignissen in der Ukraine und in Israel sehen wir, dass es sich nicht um Randphänomene handelt, sondern um ein Grundsatzproblem, das eine Zeitenwende markiert.
Will man die ultranationalistische Gewalt und ihre religiöse Verbrämung, die dem Massenterror von Hamas und Islamischem Dschihad zugrunde liegen, noch genauer bestimmen, dann müsste man sie deutlicher von dem Terror unterscheiden, der von ultrareligiösen Dschihadisten wie den Angehörigen des «Islamischen Staats» ausgeübt wird. Während Hamas den Islam zu einer Folie ihres religiösen Ultranationalismus macht, radikalisiert der «islamische Staat» die Religion, indem er sie zu einer Heilsordnung umbaut, die jenseits dessen steht, was als Religion beziehungsweise Islam verstanden wird.
Hamas und Islamischer Staat ähneln sich, sind aber deutlich verschieden. Hamas radikalisiert den Begriff Nation, schmückt ihn als göttlich erwünschte Heilsordnung aus und versteht das eigene Handeln als Wiedergeburt dieser Nation. Der Islam gilt als der Raum, in dem sich dieser historische Wille vollzieht. Hamas radikalisiert den Nationalismus, gibt ihm eine Bedeutung weit jenseits des Konsenses einer Gesellschaft und ermächtigt sich zum Vollstrecker eines nationalen Geschicks.
Die ultrareligiöse Umdeutung des Islam durch den Islamischen Staat hingegen radikalisiert und transzendiert den konventionellen Begriff von Religion beziehungsweise Islam. Sie macht das Individuum und nicht die Nation zum Träger religiösen Heils. Beide Welten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Sie unterscheiden sich auch genealogisch: Hamas stammt aus der Umwelt des religiösen Nationalismus, der Islamische Staat hingegen ist genealogisch mit einer innerislamischen Debatte um die richtige puritanische Religionsordnung verbunden.
Weltweites Echo
Schliesslich beunruhigt die westlichen Öffentlichkeiten das Echo, das das Geschehen unter europäischen muslimischen Gemeinschaften ausgelöst hat. Ein sehr grosser Teil der muslimischen Gemeinden stand und steht dem Terror fassungslos gegenüber. Hamas und ihr Terror werden ohne Wenn und Aber als verabscheuungswürdiges Tun verurteilt.
Allerdings gibt es auch Stimmen, die vor allem die von der israelischen Gegenoffensive geforderten Opfer im Blick haben. Unter den religiösen Akteuren ist hier vor allem die Islamische Befreiungspartei (Hisb al-Tahrir al-Islami) aktiv. Diese bietet eine weitere Islamdeutung an, die sich nicht des Diskurses von Hamas bedient, wohl aber in gleicher Weise ultranationalistisch zu verorten ist. Ihre Besonderheit besteht darin, dass sie den Islam selbst zur Nation macht und Palästina als einen Ort begreift, an dem diese islamische Nation entstehen solle. Es ist ein islamischer Irredentismus, den diese 1953 gegründete Organisation prägt.
Da die Islamische Befreiungspartei vor allem in den westeuropäischen Ländern sowie in Russland und im Kaukasus aktiv ist, spiegelt sich in ihrer Propaganda in besonderer Weise die europäische Befindlichkeit. Und auffällig an der Propaganda der Islamischen Befreiungspartei ist das nahtlose Anknüpfen an antisemitische Stereotypen und Ressentiments, die in den europäischen Ländern seit Generationen heimisch sind. Die Befreiungspartei ist so ein Resonanzraum für eine ultranationalistische Interpretation des Islam selbst, bei der der Antisemitismus einen konstitutiven Charakter hat.