Die Schlagkraft der Hamas hat Israel überrumpelt. Wer ist diese Organisation, die von Israel und dem Westen als terroristisch eingestuft wird? Mit ihren 80’000 Mitgliedern und ihrer leninistischen Struktur beherrscht sie die zwei Millionen Menschen im Gazastreifen total.
In den frühen Morgenstunden des 7. Oktober überrannten etwa tausend Angehörige der Milizen des Islamischen Dschihad und der Hamas aus Gaza die Grenzanlagen zu Israel, besetzten mehrere Kibbuzim und Grenzorte und verübten furchtbare Massaker unter der Zivilbevölkerung und den in der Region stationierten Angehörigen der israelischen Armee. Gleichzeitig feuerten die Milizen mehrere tausend Raketen ab auf israelische Städte bis auf die Höhe von Tel Aviv und setzten mit Bomben bestückte Drohnen ein. Dem Massenterror fielen in Israel mehr als 700 Menschen zum Opfer. Darunter waren 260 Besucher eines Techno-Festivals in Grenznähe. Die Zahl der Verletzten liegt derzeit bei rund 2500. Zudem entführten die Milizionäre Dutzende Zivilisten nach Gaza und nahmen sie als Geiseln.
Der Angriff erfolgte genau einen Tag nach dem 50. Jahrestag des Beginns des Jom-Kippur-Krieges am 6. Oktober 1973, der für die israelische Armee ähnlich überraschend kam wie jetzt der Angriff der Hamas und des Islamischen Dschihad. Und in ähnlicher Weise stellt sich nun die Frage, warum die sonst so gut informierten israelischen Geheimdienste und Sicherheitsbehörden die Vorbereitungen dieses Angriffs nicht auf dem Radar hatten und warum in Israel selbst die Sicherheitskräfte zugunsten der Sicherung der israelischen Siedlungen im Westjordanland ausgedünnt wurden.
Heute wissen wir, dass israelische Stellen bereits vor Beginn des Oktoberkrieges 1973 informiert waren, die Warnungen aber aus politischen Gründen in den Wind schlugen. Es ist davon auszugehen, dass auch die Angriffspläne der Hamas und des Islamischen Dschihad nicht unbemerkt geblieben sind. Vertreter der Hamas räumten zudem ein, dass der Angriff in enger Absprache mit der iranischen Führung und damit wohl auch mit der Hisbollah im Libanon vorbereitet worden sei.
Entstanden als Wohltätigkeitsorganisation
Die Hamas, die «Islamische Widerstandsbewegung», war ursprünglich eine religiöse Wohltätigkeitsorganisation aus der Tradition der Muslimbruderschaft, die um 1987 von Scheich Ahmad Yasin in Gaza im Rahmen der ersten Intifada gegründet worden war. Das ideologische Profil der Organisation, die unter ihrem Akronym Hamas (arab. «Eifer») bekannt wurde, war zunächst ganz in der Tradition der Muslimbruderschaft auf einen religiösen Nationalismus ausgerichtet. In der Anfangsphase wurde die Organisation politisch und teilweise auch finanziell von der israelischen Regierung unterstützt. Diese erhoffte sich durch die Unterstützung der karitativen Projekte der Hamas eine schlagkräftige Konkurrenz zu den in der PLO organisierten säkularen nationalistischen Verbänden.
Doch diese Rechnung ging nicht auf. Die Gründungsväter der Hamas islamisierten die bisherigen befreiungsideologischen Diskurse. Exemplarisch dafür war die islamische Umdeutung des Begriffs Dschihad, der seit dem 19. Jahrhundert als etwas altmodisch klingende Bezeichnung für «Krieg» in Gebrauch war. Er stand nun für «islamische Befreiung». Bei der Gründung der Hamas erinnerte vieles an die Organisation der Muslimbruderschaft in Ägypten Ende der 1940er Jahre, als versucht wurde, die Idee einer islamischen Wohlfahrtsorganisation mit der Militanz einer antikolonialen Befreiungsbewegung zu verbinden.
Hamas als Quasi-Staat in Gaza
Von 1992 bis 2005 vollzog sich ein immer deutlicher werdender Wandel von der Wohltätigkeitsorganisation zur nichtstaatlichen Miliz. In Gaza konnte Hamas auch während der israelischen Besatzung öffentliche Räume besetzen und neue Anhänger rekrutieren. Dabei nutzte sie ihr Image als Wohltätigkeitsorganisation und verschmolz die Idee der sozialen Fürsorge mit den Zielen ihrer nationalistischen Agenda.
Das Erstarken der Hamas in der palästinensischen Öffentlichkeit, der allmähliche Zerfall der Palästinensischen Autonomiebehörde und der Fatah, die Entscheidung Israels, sich aus dem Gazastreifen zurückzuziehen, und vor allem der Tod Jassir Arafats führten Anfang 2005 zu einer strategischen Neuorientierung der Hamas. Deren Führung beschloss, an den Kommunalwahlen und den Wahlen zum Legislativrat teilzunehmen. Obwohl sie nun als politische Partei auftrat, war die Organisation schon damals darauf ausgerichtet, selbst Träger der Staatsgewalt zu werden.
Zwischen 2005 und 2007 nutzte die Hamas das politische Vakuum, das nach dem Patt bei den Wahlen zum Palästinensischen Legislativrat entstanden war, um sich in Verwaltungspositionen in Gaza einzunisten. Im Juni 2007 erlangte sie in Gaza die militärische Oberhand über die Fatah und mit ihr verbündete Milizen und übernahm alle quasistaatlichen Verwaltungspositionen im Gazastreifen. Im Dezember 2008 wagte die Hamas eine erste grössere Machtprobe mit den israelischen Streitkräften, die sich fortan in einem zur Routine gewordenen Zermürbungskrieg wiederholte.
Ultranationalismus und Annäherung an Iran
Mit der Machtübernahme in Gaza radikalisierte die Hamas ihr ideologisches Profil. Sie positionierte sich und ihren islamischen Nationalismus immer deutlicher in Opposition zur Zivilgesellschaft, die noch während der ersten und teilweise auch der zweiten Intifada die politische Idee Palästinas repräsentiert hatte.
Die Hamas löste den Islam aus dem Kontext der politischen Gesellschaft und deutete ihn in eine ultranationalistische Ideologie um. Kern dieser Ideologie ist die Interpretation der «Wiedergeburt» einer palästinensischen Nation als religiöser Heilsakt. Es geht darum, die Bevölkerung Gazas auf ein kollektives Feindbild einzuschwören, das die vielfältige palästinensische Gesellschaft zu einem monolithischen «Volkskörper» verschmilzt und das Volk zum Träger eines religiösen Heils auserwählt. Die Hamas versteht «Palästina» als Ziel einer eschatologisch erneuerten Wiedergeburt der «islamischen» Nation.
Dieser ideologische Wandel eröffnete der Hamas Möglichkeiten für neue Allianzen. Ab 2011/12 zeichnete sich eine Annäherung an die sich neuformierende «Achse des Widerstands». So bezeichnete der Iran in propagandistischer Absicht das Bündnis mit der Hisbollah im Libanon, den Huthis im Jemen, mit Assad in Syrien und der irantreuen Partei im Irak. Die Allianz genoss auch die Protektion Russlands. Hamas profitierte von einer massiven Aufrüstung durch die iranischen Revolutionsgarden. Nach 2012 konnte sie ihren Militärapparat trotz wiederholter israelischer Interventionen weiter ausbauen. Heute sollen die Qassam-Brigaden, die den militärischen Flügel der Hamas bilden, fast 20’000 Mann umfassen, dazu kommen Hunderte von Anhängern der Murabitun-Einheiten im Westjordanland.
Leninismus als Vorbild
Die Hamas ist also in erster Linie eine militärische Formation. Insgesamt dürfte die Hamas in Gaza rund 80’000 Mitglieder zählen, die die Herrschaftsgewalt über fast zwei Millionen Menschen im Gazastreifen ausüben. Ihre politische Vertretung im Legislativrat in Jericho bildet eine 74-köpfige Fraktion, die jedoch keinen Einfluss auf die politischen Entscheidungsprozesse in der Autonomiebehörde hat.
Organisatorisch lehnt sich die Hamas eng an das in den 1960er und 1970er Jahren prominente leninistische Modell an: Dem Politbüro steht ein «Rat» vor, der die von Hamas definierten Staatsgewalten repräsentiert. Es gibt keine Gewaltenteilung, sondern nur vier Exekutivbereiche (Inneres, Krieg, Sicherheit und Medien). Der Bereich Inneres umfasst alle Dienste, die Hamas zu einem Solidaritätsnetzwerk machen, in dem Soziale Leistungen gegen Loyalität getauscht werden. Dazu gehören die Bereiche Gesundheit, Wirtschaft, Bildung und Religion. Dieses Solidaritätsnetzwerk ist de facto Träger der Staatsgewalt.
Im 15-köpfigen Politbüro sind Hamas-Mitglieder aus Gaza, der Westbank und den Auslandsabteilungen (derzeit in Katar und Kairo) vertreten. Faktisch gibt es durch diese regionale Differenzierung eine kollektive Führung, auch wenn sich Ismail Haniya, der Hamas-Vertreter in Katar, als oberster Führer der Hamas versteht.
Macht Israel der Hamas den Garaus?
Israel hat nun angekündigt, das Ziel des Krieges sei es, die Bedrohung durch die Hamas zu beseitigen, ihre militärische Infrastruktur zu zerstören und zu erreichen, dass die Hamas als politische Organisation zu existieren aufhört. Beide Ziele können nur mit massiven militärischen Mitteln erreicht werden.
Um die Hamas als politische Organisation auszuschalten, bedarf es aber mehr als militärischer Mittel: Es braucht eine neue politischen Vision für die palästinensische Gesellschaft. Ohne den Palästinensern eine Zukunft in Richtung Souveränität und Selbstbestimmung aufzuzeigen, droht die ideologische Basis der Hamas auch ohne ihre Organisation weiter zu bestehen. Die Überwindung des Ultranationalismus wird auch für die palästinensische Gesellschaft zu einer Herkulesaufgabe.