Seit meinem ersten Besuch ist das Arts et métiers an der Rue Réaumur in Paris ein Museum, das mich immer wieder anzieht und in seinen Bann schlägt. Der Begriff «arts et métiers» wird gewöhnlich mit «Gewerbe» übersetzt. Doch mit unseren Gewerbemuseen hat dasjenige in Paris wenig zu tun; es wäre am ehesten als naturwissenschaftlich-technisches Museum zu bezeichnen. Von diesem Typ gibt es weltweit viele, und ich habe welche gesehen, die grösser, spektakulärer, moderner, interaktiver sind als das Musée des arts et métiers. – Was also macht dasjenige in Paris so besonders?
Geist und Ästhetik von Diderots Encyclopédie
Das Haus, das ich mir zum Lieblingsmuseum erkoren habe, ist ein philosophisches Museum. Und es ist sehr französisch. Es atmet den Geist der Enyclopédie von Diderot und D’Alembert.
In den Jahren 1751 bis 1780 kam, allen Fussangeln strengster Zensur zum Trotz, dieses 35-bändige Monument der Aufklärung heraus. In seinem vollständigen Titel Encycolpédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers ist nicht zufällig die Bezeichnung des Museums enthalten. Aufklärerisches Wissen war in allen Bereichen auf «kunstgerechte» Praxis ausgerichtet. Die zum Leuchtturm des Fortschritts gewordenen Naturwissenschaften waren zum Beispiel nicht getrennt von Technik, Bergbau, Landwirtschaft, Industrie, Handwerk. Die Trias von sciences, arts et métiers stand im 18. Jahrhundert für ein neues Verhältnis des Menschen zur Welt. Es umfasste erstens das wissenschaftliche Verstehen der Natur, zweitens ihre Nutzung, Bearbeitung und Zähmung durch Technik («arts» als Äquivalent zum griechischen «techné») und drittens die alltägliche Naturbeherrschung durch ein wissenschaftlich-technisch instruiertes Gewerbe und Handwerk.
Die Exponate des Arts et métiers spiegeln nicht nur den Geist der Ecyclopédie, sondern auch deren rationale Ästhetik. In diesem Sinne schön sind besonders die wissenschaftlichen Instrumente und Apparate aus dem 18. Jahrhundert, die bei den Durchbrüchen in Chemie und Physik die Laboratorien bestückten. In gewisser Weise ästhetisch ist ferner die in der Sammlung dokumentierte offenkundige Begeisterung der damaligen Zeit für Maschinen aller Art. Was immer man als mechanischen Vorgang abbilden konnte, wollte man mit einem Apparat bewerkstelligen. Eindrucksvoll denn auch die fast kultische Erhabenheit früher technischer Gross-Systeme, dargestellt in minutiösen Modellen von Fabrikationsanlagen des 18. und 19. Jahrhunderts.
Stars des Hauses sind die schwerfälligen Dampffahrzeuge und die zerbrechlichen Flugapparate: der Fardier, ein dreirädriges Monster von 1771 mit gewaltigem kugelförmigem Dampfkessel und ingeniöser Kraftübertragung auf das Vorderrad, und als Gegenstück der filigrane Flieger, mit dem Louis Blériot 1909 den Ärmelkanal überquerte. Diesen heroischen Objekten ist das Ringen um die Erfüllung ihrer Zwecke förmlich anzusehen. Ächzend unter übermässigem Eigengewicht und bedroht von jedem Windstoss, sind sie mehr Traum als Verwirklichung ihrer kühnen technischen Ideen.
Mit der Dokumentierung der neueren Technikgeschichte gibt das Museum sich nicht ab. Der Telstar 1 Satellit von 1960 und der Cray 2 Supercomputer von 1985 illustrieren lediglich die Evolution seit Blaise Pascals Rechenmaschine und den ersten Telegraphen. Allerdings sind diese «modernen» Exponate nun auch schon wieder historisch geworden. Das iPhone 6, das eine Besucherin heute mit sich trägt, übertrifft den raumfüllenden Cray 2 bei Rechenleistung und Speicherkapazität um das Hundertfache.
Die beste aller Welten
Durch seine Fokussierung auf das 18. und 19. Jahrhundert zeigt das Arts et métiers eine für die heutige Wahrnehmung konsistente Welt, in der Wissenschaft und Technik sich anschicken, die Natur zu enträtseln und zu erobern. Das Museum macht sich die Weltsicht der Encyclopédie zu eigen. Für sie gibt es keine Grenzen rationaler Durchdringung und technischer Problemlösung. Verbunden mit dieser Sichtweise ist eine Haltung der Diszipliniertheit und Akkuratesse, des Respekts vor der Fremdheit und Widerständigkeit der Objektwelt. Trotzdem (oder etwa gar deswegen?) fehlt jede Problematisierung von Wissenschaft und Technik. Man kann darin eine typisch französische Attitüde sehen. Ganz auf der Linie der Aufklärung sieht sie eine naturwissenschaftlich-technisch getriebene Entwicklung als Garantin für die beste aller Welten.
Kirche und Refektorium der Abtei Saint Martin des Champs – im 12. und 13. Jahrhundert erbaut und in der Französischen Revolution säkularisiert – beherbergen heute das Museum. Es wurde 1794, also vor 222 Jahren, als Sammlung des Conservatoire national des arts et métiers (CNAM) begründet und gehört nach wie vor zu dieser Hochschule, die heute eine der Grandes écoles Frankreichs ist. In der Kuppel der einstigen Abteikirche hängt Foucaults Pendel, das in majestätischer Langsamkeit schwingt und die Erde in 24 Stunden einmal unter sich drehen lässt.
Es ist dieses Pendel, das Umberto Ecos 1988 erschienenem Roman den Titel gibt. In «Das Foucaultsche Pendel» versteckt sich der Ich-Erzähler Casaubon nachts an eben diesem Ort. Er ist dem im 14. Jahrhundert aufgelösten, aber angeblich im Geheimen weiter existierenden Orden der Templer auf der Spur. Dank ihres Zugriffs auf eine unbekannte Energiequelle stehen, so glaubt er zu wissen, die Tempelritter kurz vor der Übernahme der Weltherrschaft. – Ein spannendes postmodernes Spiel mit Versatzstücken von Historie, Fantasy, Agentengeschichten, Esoterik und Verschwörungstheorien.
Dunkle Gegenseite der Aufklärung
Indem Eco ausgerechnet das Musée des arts et métiers zum zentralen Schauplatz seines Romans erkoren hat, setzt er der ironischen Erzählung ein Glanzlicht auf, das erst zum Funkeln kommt, wenn man Bezüge herstellt. Die Szenerie ist angesiedelt im dunklen Museum, dem zum «Pantheon der Technik» umgewidmeten gotischen Kirchenraum. Bebend erwartet Casaubon hier die Enthüllung der Geheimnisse, auf die er gestossen ist und die über Wohl und Wehe der ganzen Menschheit entscheiden werden.
Die Schlüsselszene seiner grossen Oper der Irrationalität plaziert Eco also ausgerechnet in einer Kathedrale der Aufklärung. Indem er die Szene nachts spielen lässt, schaltet er das Licht der Ratio aus und dreht die Symbolik des Orts um. Mit diesem Kunstgriff führt er den Lesern die Nachtseite der Vernunft vor Augen. Das Museum ist geschlossen, Casaubon hat sich einschleichen müssen und erlebt nun das aus der rationalen Welt Ausgesperrte.
«Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.» So hat Goya eine Radierung genannt, die zu seiner 1799 veröffentlichten Serie «Los Caprichos» gehört. Sie zeigt einen Schlummernden, der von allerhand unheimlichem Getier bedroht wird. Möglich ist auch die Übersetzung «Der Traum der Vernunft», was eine ganz andere Deutung ergibt: Nicht die Absenz der schlafenden Vernunft, sondern der Traum von vollkommener Vernunft wäre dann Grund für das Unheil. Für welche Aussage hätte Goya sich mit Blick auf den im Musée des arts et métiers dokumentierten aufklärerischen Elan und technikgläubigen Optimismus seiner Zeitgenossen wohl entschieden?
Und welcher Version schliessen wir uns an? 222 Jahre nach der Begründung des Arts et métiers haben wir es nicht mehr mit Dampfmaschinen und ersten Schritten zur Nutzung der Elektrizität zu tun, sondern mit Kernkraft, Datennetzen und Gentechnik. Da wird es mit der «französischen Attitüde» dann doch etwas schwieriger. Kann wache Vernunft die Ungeheuer fernhalten? Oder provozieren wir gerade mit der Überschätzung unserer Vernunftkräfte die befürchteten Katastrophen? – Wie ich schon sagte: Das Arts et métiers ist ein philosophisches Museum.
Musée des arts et métiers, 60 rue Réaumur, Paris 3e