In meiner Familie gelte ich als ziemlicher Museums-Muffel. Nicht immer, aber häufig, wenn ich allein oder in Begleitung ein Museum betrete, überfällt mich irgendwann nach der ersten Viertelstunde eine schwer zu bezwingende Müdigkeit. Von solchen peinlichen musealen Schwächeanfällen gibt es gottseidank erfrischende Ausnahmen. Eine davon erlebte ich im vergangenen Jahr beim Besuch des Bach-Museums in Leipzig.
Thomaskirche und Thomaner Chor
Dieses Museum liegt nur ein paar Schritte gegenüber der berühmten Leipziger Thomaskirche, wo Johann Sebastian Bach 27 Jahre (1723 bis zu seinem Tode 1750) als Thomaskantor tätig war und eine unglaubliche Fülle an geistlichen musikalischen Werken schuf – so die Matthäuspassion, das Weihnachtsoratorium, die h-moll-Messe und gegen 300 Kantaten. In der Thomas-Kirche sind seit 1950 auch die Gebeine des grossen Meisters begraben. Vielleicht hat mich der Besuch des Bach-Museums auch deshalb so neugierig gemacht, weil wir unmittelbar zuvor in der Thomas-Kirche einen Auftritt des weltbekannten Thomaner Knabenchors und die schnörkellose Predigt einer lutherischen Pfarrerin erlebt hatten.
Das Leipziger Bach-Museum ist seit den 1970er Jahren im ehemaligen Wohnhaus der Kaufmannsfamilie Bose, die mit der Familie Bach befreundet war, eingerichtet worden. Im grossen Stil ausgebaut und modernisiert wurde es erst nach dem Ende der DDR und dem Zusammenschluss der beiden deutschen Nachkriegsstaaten. Heute ist es ein grosszügig ausgestattetes, aber gut überschaubares Museum, das mit ebenso stilvollen wie raffinierten interaktiven Ausstellungstechniken dem Besucher musikalische, historische und visuelle Informationen über das Leben und erstaunliche Schaffen der Familie Bach lebendig werden lässt. Audio-Guides mit sehr gehaltvollen und gut verständlichen Texten sind im Eintrittspreis inbegriffen, sie werden in neun verschiedenen Sprachen angeboten.
Klingender Stammbaum einer genialen Familie
Im Zentrum des ersten grossen Ausstellungsraums steht ein „klingender Stammbaum“ der weitverzweigten Familie Bach. Durch Antippen des entsprechenden Namens kann man nähere biographische Daten und dazugehörige Kompositionen anhören. Johann Sebastian Bach hatte die Grundinformationen zu diesem Stammbaum selber geliefert. Als Fünfzigjähriger stellte er unter dem Titel „Ursprung der musikalisch-Bachischen Familie“ kurze Biografien von 53 männlichen Familienmitgliedern zusammen. Fast alle waren Musiker – Organisten, Kantoren, Hofmusiker und Instrumentenbauer. Dieser Überblick über seine Familie ist umso erstaunlicher, als Bach schon mit zehn Jahren Vollwaise wurde. Er kam von seinem Geburtsort Eisenach zu seinem 13 Jahre älteren Bruder Johann Christoph nach Erfurt, der dort als Organist tätig war.
Johann Sebastian Bach, der grösste Meister seiner begabten Sippe, hatte nicht weniger als 20 Kinder – fünf Söhne und zwei Töchter aus erster Ehe mit Maria Barbara sowie sechs Söhne und sieben Töchter aus zweiter Ehe mit Anna Magdalena. Die Hälfte der Kinder starb vor dem dritten Lebensjahr. Vier Söhne wurden ebenfalls Komponisten, die noch heute zu den grossen Namen der klassischen Musik zählen.
Bach-Orgel und Original-Notenhandschriften
Nach dem klingenden Bach-Stammbaum kann man eine Orgel bestaunen, auf der Johann Sebastian nachweislich gespielt hat. Er wurde 1743 offiziell eingeladen, über dieses Instrument ein Gutachten abzugeben. Auch zwei Streichinstrumente sind ausgestellt, die unter seiner Leitung im Gebrauch waren.
In der sogenannten Schatzkammer sind besonders wertvolle Dokumente aus dem Bach-Erbe ausgestellt. In der zentralen Vitrine kann man Original-Schriftstücke von der Hand Johann Sebastian Bachs betrachten, darunter Notenhandschriften. Diese Originale gelten als so fragil, dass man sie nur temporär dem Licht eines Museumsraums aussetzen will und mehrmals jährlich auswechselt.
Was hätte Bach zu Youtube gesagt?
Das Bach-Museum in Leipzig hat mir Bach und sein unglaublich reichhaltiges Werk, seine bewegende Familiengeschichte, die Arbeits- und Lebensbedingungen seiner Zeit näher gebracht.
Was hätte Johann Sebastian Bach wohl dazu gesagt, wenn er hätte wissen können, dass eines Tages Millionen von Menschen in aller Welt mit Internetzugang die Möglichkeit haben, sich fast jedes Musikstück von ihm mit ein, zwei Klicks via Youtube in den verschiedensten Interpretationen akustisch und filmisch zu Gemüte führen zu können? Die Bach-Kantate „Wachet auf, ruft uns die Stimme“, interpretiert vom Amsterdam Baroque Orchestra & Choir ist bei der Veröffentlichung dieses Beitrages 1‘064'959 Mal aufgerufen worden. Fortschritt oder Trivialisierung?