In Innsbruck entstanden nach der Jahrtausendwende etliche bemerkenswerte Bauten, die sich gegen den vorherrschenden Alpenkitsch stemmen. Allmählich scheinen die Bemühungen ambitionierter Architektinnen und Architekten Früchte zu tragen.
Ähnlich wie in den Schweizer Alpen wuchert auch in den Tiroler Wintersportdestinationen ein unerträgliches Gemisch von Chaletästhetik und Alpenromantik. Hotels, Apartmentkomplexe und Ferienhäuser setzen sich aus unzähligen, eigenartig verschachtelten An- und Aufbauten zusammen. An den Fassaden herrscht Chaos bei Formen und Materialien, und nirgends darf aufwändiges Beiwerk aus Holz fehlen, meist bis zum letzten Quadratzentimeter figural geschnitzt. Und da insbesondere Hotelunternehmen in Konkurrenz zueinander stehen, wird mit schrillen Farben, überdimensionierten Schriftzügen, dekorativen Wandmalereien, ausgefallenen Fensterrahmungen auf Teufel komm raus um die Gunst der Touristen gebuhlt.
Zumindest in Innsbruck jedoch scheinen Behörden, Investoren und die Architektenzunft sich partiell erfolgreich gegen diesen Wildwuchs zu wehren. Die Sammlung der Vorzeigeobjekte lässt sich sehen.
Aufstand gegen den rechten Winkel
Mit der von Zaha Hadid entworfenen neuen Schanze auf Bergisel erhielt Innsbruck 2002 ein einmaliges Wahrzeichen, und dies ausgerechnet mit einer bis anhin rein funktional verstandenen Sportanlage. Hoch über dem Zentrum erhebt sich ein massiver Betonpfeiler, der dazu dient, die schmale Anlaufbahn seitlich zu verankern. Die geniale Entwurfsidee besteht darin, dass der Bakken sich um den Pfeiler schlingt und sich zu einem massiven Kopf ausweitet, der ein Restaurant mit Aussichtskanzel beherbergt. Dank der Hülle aus silbernen Metallplatten und Glas wirkt der Kopf wie ein Edelstein, der auf einem Podest präsentiert wird.
Es war nicht zuletzt die Bergiselschanze, welche die Karriere der irakisch-britischen Architektin entscheidend beschleunigte. In der allzu kurzen Zeit bis zu ihrem Tod im Jahre 2016 wurden zahlreiche spektakuläre Werke weltweit umgesetzt, die den Weltruhm von Zaha Hadid begründeten.
Innsbruck darf sich brüsten, eine zweite phantasievolle Arbeit von Hadid zu besitzen. Nach einem gewonnenen Wettbewerb erhielt die Architektin 2005 den Auftrag zur Ausgestaltung von vier Stationen der Hungerburgbahn, die auf einer Kanzel über der nördlichen Talseite endet (Bild ganz oben). Die Kerne aus Beton mit den für den Betrieb der Bahn erforderlichen Einrichtungen sind mit amorphen Bedachungen aus einem grünlichen Glas abgeschirmt. Die auffällige Form ist einerseits gewiss Hadids Vorliebe für fraktale und organische Körper geschuldet, andererseits als eine Hommage an die im Tirol vorherrschende Barockkultur mit den überbordenden Innenraumgestaltungen aufzufassen. Imaginär wird damit ein Bogen gespannt, der sich vom Schanzenturm hinunter und über die vier Stationen zur Aussichtsplattform Hungerburg hochschwingt.
Neue Heimat für ein Panoramabild
Auf dem Areal unterhalb der Schanzenarena gibt es seit 2011 eine weitere architektonische Delikatesse zu bewundern. Das monumentale 360-Grad-Gemälde, das die Bergiselschlacht von 1809 zum Thema hat (napoleonische und bayrische Truppen gegen Tiroler Freiheitskämpfer), wurde vom damaligen Architekturbüro Stoll, Wagner, Gimpl in ein neues Museumsgebäude integriert. Für das Gemälde wurde ein Sichtbetonzylinder entworfen, der im unteren Teil frei aus dem steilen Gelände wächst, im oberen von einer rechteckigen und niedrigen Hülle aus Stahl und Glas ummantelt ist, die sich zudem auf einem weiteren Betonsockel abstützt.
Dieser Sockel stellt im Äussern wie im Innern die Verbindung zum klassizistischen Kaiserjägermuseum an der Geländekante her. Der in der Tradition von Mies van der Rohe transparente Rahmen kragt beträchtlich vor zur Schlucht, durch welche die Brenner-Autobahn führt, und erinnert in Bezug auf die Ecksituation an das Stahl House von Pierre König in Los Angeles, das durch die Nachtaufnahme von Julius Shulman zu einer Art Inkunabel der amerikanischen Nachkriegsmoderne wurde.
Um den Zylinder für das Gemälde breitet sich ein geradezu verschwenderischer Leerraum aus, welcher der Vorbereitung für das besondere Seherlebnis inmitten des Panoramabildes dient. Schade, dass im engen Flügel des Untergeschosses die Ausstellungsobjekte so eng zusammengedrängt sind, dass eine nachhaltige Betrachtung nicht mehr möglich ist.
Tetris im Grossen
Aus den überraschend zahlreichen Eingriffen in das Weichbild der Altstadt von Innsbruck ragen zwei heraus. Wer schnellen Schrittes auf der Maria-Theresien-Strasse unterwegs ist, dürfte die etwas anders geartete Fassadenstruktur des 2008 eröffneten Kaufhauses Tyrol kaum bemerken. Die zweifach leicht gefaltete Front, die ein eingefärbtes und mit Natursteinfragmenten durchsetztes Betonraster aufweist, führt trotz des eindeutig zeitgenössischen Habitus den Rhythmus der Strassenflucht weiter.
Die Handschrift des federführenden Architekten David Chipperfield ist unverkennbar, auch wenn der sonst bei ihm übliche klassizistische Duktus nicht zum Ausdruck kommt. Den nicht ausgezeichneten Eingang kann man leicht übersehen, doch nach dem Überschreiten der Schwelle wird man von einer betörenden Halle überwältigt, deren Leerraum von den Schrägen der Rolltreppen auf eine piranesiartige Weise durchschnitten wird. Erst die Analyse der Grundrisse bzw. der Google-Earth-Blick auf die Dachlandschaft deckt das gewaltige Volumen des ganzen Blockes auf, der eine hierfür geschaffene Baulücke zwischen zwei Strassenzügen füllt. Die Fassade zur Erlenstrasse ist analog zur Schauseite rasterartig rhythmisiert mit dem Unterschied, dass bräunlich eingefärbte Aluminiumelemente zur Anwendung gelangten.
Muss man schon hier an Tetris denken, wenn man die passgenaue Einsetzung des Kaufhauses in die feingliedrige Bebauung bestaunt, so gilt das in noch viel stärkerem Ausmass beim nur wenige Meter entfernten neuen Rathaus samt Galerien. Nach langen Vorstudien und einem Wettbewerb konnte Dominique Perrault, der Schöpfer der viel gepriesenen Nationalbibliothek in Paris, seinen höchst komplexen Entwurf 2002 vollenden. Einzig aus der Luft wird ersichtlich, wie umfangreich das Bauprogramm ist, denn nur auf dem Adolf-Pichler-Platz ist ein Trakt, ein sechsgeschossiges Kongresshotel, gänzlich freigestellt.
Auf der Strassenebene nimmt man lediglich die schmalen Eingänge wahr. Zentral ist das achtgeschossige Rathaus, dessen Erschliessung über einen 37 Meter hohen Treppenturm erfolgt. Zuoberst ist ein Zylinder für eine Cafeteria mit Rundumsicht platziert. Das dritte wichtige Gebäude ist eine niedrige, parallel zum Hotel stehende Halle, und dazwischen verbinden schmale Galerien die verschiedenen Abteilungen mit dem Strassennetz. Mit unterschiedlich gefärbten Gläsern, die das Metallskelett sämtlicher Fassaden ausfachen, wird eine dekorative Folie geschaffen. Diese technizistische Architektur steht in grösstmöglichem Kontrast zur historischen Bauweise, aber das Ganze ist derart gekonnt kaschiert, dass die Andersartigkeit nur dann auffällt, wenn man sich in die Seitengassen begibt, wo grössere Fassadenausschnitte zu sehen sind.
Ein Discounter mit architektonischem Flair
Den bedeutendsten Beitrag an der Geschichte der zeitgenössischen Architektur in Tirol leistete ein Discounter, dessen Anfänge in die 1920er Jahre reichen. Seit 1974 firmiert er unter dem Label MPREIS, wobei das «M» auf den Namen der Gründerfamilie Mölk verweist. Spätestens in den 1980er Jahren verfolgten die Inhaber die Strategie, jeden Neubau von renommierten Architekten und Architektinnen von Grund auf zu gestalten. Von den derzeit existierenden 300 Filialen sind die meisten als auffällige Solitäre gebaut worden, von denen einige 2004 anlässlich der neunten Architekturbiennale Venedig im österreichischen Pavillon nobilitiert wurden.
Die MPREIS-Läden fallen in vielen Dörfern und Stadtquartieren sogleich als ausdrucksstarke Artefakte auf. Es seien hier zwei Beispiele im Stadtgebiet von Innsbruck näher vorgestellt. Am Mitterweg, einer Quartierstrasse im Westen, wird der 2011 von Rainer Köberl entwickelte Supermarkt nebst dem roten Würfel als allgemeines Merkmal der Kette mit einem weit ausladenden Dach gekennzeichnet, das als eine Art Auffangbecken fungiert. Wie eine Schublade ist der eigentliche Ladenbereich hineingeschoben, der seitlich dank einer grosszügigen Verglasung mit reichlichem Tageslicht getränkt wird.
Wolfgang Pöschl und Joseph Bleser wählten 2001 bei der MPREIS-Filiale an der Erzherzog-Eugen-Strasse als dominantes Element eine in Metall ausgeführte Dachschale, die zur Strassenachse bis zur Mitte der Halle hinuntergebogen ist. Auch in diesem Falle garantieren die beträchtlichen verglasten Fassadenteile dafür, dass das unabdingbare Kunstlicht im Innern mit Tageslicht ergänzt wird.
Zwar werden immer wieder Kaufhäuser mit höchsten architektonischen Ansprüchen geplant – man denke an das Westside Shopping Center von Daniel Libeskind in Bern. Doch nirgendwo hielt man sich mit derselben Hartnäckigkeit und Konsequenz an ein solches Konzept wie im Falle von MPREIS. Einkaufen soll verbunden werden mit einem sinnlichen Genuss, der sich nicht erst vor den Regalen einstellen soll. Diese Erwartungen erfüllen die meisten MPREIS-Filialen in hohem Masse.
Der online-Architekturführer architek[tour] listet zahlreiche aktuelle Realisationen ohne Anbiederungen an Folklore in ganz Tirol auf.