Zunächst zögerlich, aber seit der Jahrtausendwende immer deutlicher macht sich in Vilnius, Riga und Tallinn, den Hauptstädten von Litauen, Lettland und Estland die aktuelle Architektur bemerkbar. Drei prägende Monumente werden hier exemplarisch näher vorgestellt.
Noch zehn Jahre nach der Wende waren die baltischen Staaten für Touristen nicht sonderlich einladend. Kaum jemand sprach Englisch, Hotels und Restaurants waren rar, die Verkehrsmittel dürftig. Eine unauffällig auftretende Reisende, die in der Begegnung mit Einheimischen sogleich als westliche Touristin entlarvt war, bekam auf die Frage, weshalb man sie als Ausländerin erkenne, die deprimierende Antwort: weil sie ein Lächeln im Gesicht habe.
Das ist Schnee von gestern. Die jungen Leute sprechen ausgezeichnet Englisch. Hotels und Restaurants sind genügend vorhanden und weisen einen hohen Standard auf, modernste Busse stellen schnelle Verbindungen zwischen den Zentren her. Und da seit spätestens 2015 überall mit dem Euro bezahlt werden kann, ist der Abstand zu Westeuropa noch einmal kleiner geworden.
Ein weisser Quader für Vilnius
Von den drei Hauptstädten ist Vilnius trotz den zahlreichen prächtigen Barockkirchen am beschaulichsten. Sie ist ohne Glamour, besitzt aber Charme. Dazu passt das 2018 eröffnete MO Museum, das privat finanziert wurde und litauische Kunst seit 1960 ausstellt. Der Entwurf stammt von keinem Geringeren als Daniel Libeskind, der hier allerdings seine teilweise überbordende Formensprache wohltuend gezügelt hat.
Das Volumen besteht hauptsächlich aus einem weissen Quader, in den diagonal ein Durchgang getrieben wurde. Eine Treppe führt zu einer Terrasse mit Sitzstufen, die vieleckig aus dem Quader herausgeschnitten ist. Eine Wand ist zur Terrasse geneigt und verspiegelt. Die Konturen des gesamten Ein- bzw. Ausschnittes werden mit Fugen an den Aussenfassaden – höchstens diesbezüglich wird die Handschrift von Libeskind manifest – angedeutet.
Im Innern stehen zweckmässige Ausstellungsräume sowie ein helles Restaurant zur Verfügung. Das einzige gestalterisch auffällige Element ist mit der schwarzen, skulpturalen Wendeltreppe gegeben, welche die drei Geschosse miteinander verbindet. Libeskind spielt geschickt mit dem Barock als prägendem Stil von Vilnius. Die geometrische Strenge des MO Museums steht der überbordenden Architektur der zahlreichen Kirchen entgegen, gleichzeitig schafft er mit dem fintenreichen Durchgang eine Paraphrase zu den illusionistischen Elementen barocker Rauminszenierungen.
Ein gläserner Berg für Riga
Für die Planung der neuen lettischen Nationalbibliothek wurde Gunnar Birkets, der 1925 in Riga zur Welt kam, 1949 in die USA auswanderte und sich dort als vielbeschäftigter Architekt etablierte, schon 1989 engagiert, doch es sollte fast zwanzig Jahre dauern, bis der Bau begonnen werden konnte. Seit 2014 beherrscht der monumentale Bau das linke Ufer der Düna als modernes Pendant zur edlen Altstadt am rechten Ufer, die mit ihren malerischen Fassaden aus allen Epochen seit dem ausgehenden Mittelalter 1997 zum Weltkulturerbe der Unesco erkoren wurde.
Grob vereinfacht, entwarf Birkets eine Art dreieckiges Prisma mit den Dreieckeckflächen für die lotrechten Fassaden und den Rechteckflächen für den Grundriss und die Bedachungen. Diese sind unterschiedlich geneigt und vereinigen sich, nachdem sie über Stufen hochgeführt werden, zu einer Art Krone. Man denkt beim Anblick dieses Monuments sowohl an eine gotische Kathedrale wie auch an einen Luxusdampfer, der an dieser Stelle vertäut ist.
Birkets soll als Motiv den gläsernen Berg aus der bekannten Märchendichtung «Das goldene Ross» des lettischen Schriftstellers Janis Rainis gewählt haben, welche die Erlösung einer Prinzessin aus dem Tiefschlaf auf der Spitze eines gläsernen Berges erzählt. Da braucht es keine Interpretationskünste, um in dieser Narration den Wunsch nach der Wiederauferstehung der lettischen Nation zu erkennen.
Die Besuchenden erwartet im Innern der fast 70 Meter hohen Bibliothek eine Halle, die abgesehen vom Treppenaufgang und den begehbaren Querverbindungen bis zur Krone offen ist. Am Ende der Halle türmen sich hinter Glas und stufenweise nach innen vorkragend unzählige, mit Büchern belegte Regale auf. Die Bewohner Estlands wurden eingeladen, je ein Buch mit Widmung zu stiften – eine eindrückliche Liebeserklärung der Bevölkerung an die Welt des gedruckten Wortes.
Ein zylinderförmiges Fort für Tallinn
In Tallin, der attraktivsten und mondänsten unter den drei baltischen Hauptstädten (was man an den vielen Touristen und Touristinnen sogleich bemerkt) wird derzeit um den mittelalterlichen Kern mit der intakten Stadtmauer intensiv gebaut. Es ist ein Hinweis auf die erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung Estlands in den letzten Jahren. Etwa drei Kilometer von der Altstadt entfernt und am Ende des Kadriorg-Parkes mit dem schmucken Schloss trennt das Kunstmuseum das historische Zentrum von den Neubauquartieren aus der sowjetischen Zeit.
Entworfen wurde das schon 1994 skizzierte, aber erst 2006 eröffnete Museum, das einen faszinierenden und für Mitteleuropäer ungewohnten Einblick in die estnische Kunst gewährt, vom finnischen Architekten Pekka Vapaavouri (Bild ganz oben). Zunächst wurde aus dem Kalkfelsen ein zylinderförmiger Leerraum gesprengt. Auf einem Abschnitt der Kreislinie wurde der Trakt für die Verwaltung und die Werkstätten hochgezogen, der unter anderem von zinnenartigen Oblichtern belichtet wird – gewiss eine Anlehnung an die Stadtmauer.
Für die Ausstellungssäle zeichnete Vapaavouri ein über den äusseren Ring hochragendes Zylindersegment, das durch ein Glasdach mit jenem verbunden ist. Die Besucher gelangen auf einem dem Kreis angepassten Weg in die schmale Halle, die konsequent der Kreislinie folgt. Im ausgebrochenen Leerraum ist ein terrassierter Hof angelegt, der teilweise für die Aufstellung von Skulpturen genutzt wird. Die ganze Anlage gemahnt an eine mit neuem Leben gefüllte Festungsruine.
In Bezug auf die aktuelle Architektur hat Estland unter den baltischen Staaten eine führende Rolle übernommen. Auf originelle Bauwerke hiesiger Architektinnen und Architekten trifft man im Rotermann-Quartier, einem ehemaligen Industriegelände am Hafen von Tallinn, wo überraschende Lösungen im Umgang mit der historischen Bausubstanz gefunden wurden. International bekannt wurde das estnische Nationalmuseum in Tartu von Dorell, Ghotmeh und Tane, das 2020 im Rahmen der Präsentation des Werkes von Tsuyoshi Tane im Architekturmuseum Basel hierzulande bekannt gemacht wurde.
Ein weiteres Juwel ist das Arvo-Pärt-Zentrum in Laulasmaa, dass dem Gesamtwerk des berühmtesten estnischen Komponisten der Gegenwart gewidmet ist. Entworfen wurde die 2018 eröffnete Anlage vom spanischen Team Nieto Sobejano Arquitectos, das sich mit zahlreichen Kulturbauten einen Namen gemacht hat. Es könnte sich lohnen, die weitere Entwicklung vor allem in Estland aufmerksam zu verfolgen.