Alt prallt buchstäblich auf Neu. Der ehemalige Präsident Micheil Saakaschwili betrachtete die moderne Architektur unter der Führung arrivierter Baumeister als ein Bekenntnis zu Westeuropa. Was seither entstanden ist, fasziniert und irritiert gleichermassen.
Tiflis ist eine Perle. Eingebettet zwischen schroffen, felsigen Erhebungen breitet sich die malerische Altstadt aus mit ihren für Georgien typischen Kirchenbauten, deren Kennzeichen die markanten polygonalen Vierungstürme sind. Von der Befestigungsanlage Nariqala aus fallen jedoch drei Fremdkörper auf. So unpassend sie auf den ersten Blick erscheinen, machen sie gleichwohl neugierig.
Am auffälligsten ist die 2010 vollendete Friedensbrücke, welche für Fussgänger die beiden durch den Kurafluss getrennten Stadtteile verbindet. Der horizontale Träger wird von einer gewölbten, eleganten Stahl-Glas-Konstruktion überhöht, die weitherum sichtbar ist. Entworfen wurde sie vom italienischen Designer und Architekten Michele De Lucchi, der zuvor schon den nicht mehr als solchen genutzten Präsidentenpalast mit einer an der Berliner Reichstag gemahnenden Kuppel umgebaut hatte.
Unweit davon am östlichen Flussufer überdachen elf an riesige Blätter gemahnende Teile, die auf dünnen Stahlrohren ruhen, sieben viergeschossige Elemente, die in der Mitte eine grosse Halle umrahmen. Das ist das multifunktionale Servicezentrum, eine umfassende Anlaufstelle für Bürgerinnen und Bürger der Stadt. Der Entwurf des 2013 der Öffentlichkeit übergebenen Komplexes stammt aus der Feder des international bestens bekannten Studio Fuksas, und dasselbe Büro war auch zuständig für das dritte spektakuläre Bauwerk.
Es handelt sich um zwei wurstartige Gebilde, die in den neu geschaffenen Rike Park am westlichen Flussufer ragen. Die beiden Flügel sind zum Hang miteinander verbunden, spreizen aber auseinander und enden in Stirnfassaden, welche über Treppen zugänglich sind. Geplant war, hier nach 2016 einen Konzertsaal und ein Museum einzurichten, doch es kam aus welchen Gründen auch immer nie dazu. Das Innere wurde nicht ausgebaut, und seither will die Stadt das Objekt loswerden, bis anhin erfolglos.
Weitere ausgeklügelte architektonische Artefakte finden sich an der breiten Achse, welche den Flughafen mit dem Zentrum verknüpft. Einmal mehr trifft man auf den Namen Michele De Lucchi, der den gewaltigen Bau für das 2014 in Betrieb genommene Innenministerium mit einem durchgehenden gläsernen und gewellten Band umschlossen hat.
Wie eine Kulisse aus einem Science-Fiction-Film erscheint die Zentrale der Partei United National Mouvement UNM, die 2001 von Saakaschwili selbst als prowestliche Partei gegründet wurde. Hierfür verantwortlich war der Berliner Architekt Jürgen Mayer H., der auch in Mestia drei formal recht überdrehte Gebäude realisierte. Bei der Parteizentrale überrascht die Folge von eng gestellten Lamellen, durch die mit ausgeschnittenen Kreisen eine tunnelartige Vorhalle führt. Die Räume selber sind als Volumen L-förmig in die Lamellenstruktur von aussen unsichtbar eingefügt.
Dass so viele Aufträge an ausländische Unternehmen vergeben wurden, stiess in Georgien begreiflicherweise nicht auf ungeteilte Zustimmung. Es kann auch so gedeutet werden, dass die Regierung den einheimischen Architektinnen und Architekten kein Vertrauen zu schenken bereit war. Immerhin trifft man bei der erwähnten Ausfallstrasse auf zwei bemerkenswerte Bauwerke, die von hiesigen Teams ausgeführt wurden. Das erste ist das Cash Center der Georgischen Staatsbank, das 2012 vom Tifliser Büro Studio Arci ausgeführt wurde. Eingerahmt von einem grünen Saum erhebt sich ein kubischer Block mit abgerundeten Ecken, der mit grünen, im Dunkeln leuchtenden Knöpfen perforiert ist. Beim Eingang ist die eine Ecke angehoben, als ob das hermetisch geschlossene Gebäude wenigstens hier den Schleier etwas lüften möchte.
Auf derselben Strassenseite und in unmittelbarer Nachgarschaft überrascht eine eckig gefaltete Betonrahmung, die eine Kaffeepflanzenproduktionsanlage kaschiert. Da das Dach wie die Umgebung mit einem Rasen versehen ist, erhält man den Eindruck, als ob etwas Undefinierbares aus dem Boden ans Tageslicht gehievt wurde. Alle Fenster sind im rückwärtigen und von der Strasse nicht einsehbaren Bereich angeordnet. Der 2019 eingeweihte Bau wurde vom Büro Giorgi Khamaladze Architects entworfen, das – schaut man sich die realisierten Projekte an – sich eines effekthascherischen architektonischen Vokabulars bedient.
Ein letztes Beispiel: Im Quartier, das westlich des Zentrums ausfranst, stehen, eher: tanzen seit 2017 zwei Hochhäuser, die sogenannten Axis Towers, die von einem georgischen Architektenkollektiv entwickelt wurden. Im Internet sucht man vergeblich nach weiterführenden Informationen. Die beiden Vertikalen sind komplementär komponiert, farblich wie formal. Sie drehen sich gegenseitig um eine imaginäre Achse, eine nicht uninteressante Lösung und durchaus vergleichbar mit anderen Beispielen zum Thema Hochhaus, wo man versucht hat, durch einen dynamischeren Aufbau Alternativen zu den in Verruf gekommenen Scheiben der 1960er Jahre anzubieten.
Tiflis ist beileibe nicht gebaut, im Gegenteil. Eine gewaltige Herausforderung dürfte die Verlegung der Eisenbahnlinie sein, die den Stadtteil östlich des Kuraflusses zerschneidet. Ein Masterplan für die Entwicklung der danach zur Verfügung stehenden Brache liegt auf, doch ob es gelingen wird, hier ein attraktives Areal mit Gemischtnutzung zu verwirklichen, ist derzeit unklar.
Was Saakaschwili inszenierte, ist für westeuropäische Architekturkritiker und -kritikerinnen nur schwer zu verdauen. Zu laut, zu bombastisch sind die Artefakte. Das unvollendete Kulturzentrum im Rike-Park steht für eine forcierte Initiative, welche die Bedürfnisse der Einwohner ausser Acht gelassen hat. Aber man darf nicht zu streng sein, denn die Befreiung von der jahrzehntelangen Knechtschaft im kommunistischen System wollten Saakaschwili und seine Entourage in diesem Falle unübersehbar feiern.
Alle Bilder © Fabrizio Brentini