Das Schweizerische Architekturmuseum in Basel präsentiert derzeit eine Gruppe junger japanischer Architekten und Architektinnen, die mit sparsamen und bescheidenen Eingriffen in bestehende Bausubstanz Architektur neu definieren.
Die Ausstellung «Make Do With Now» ist eine Antithese zur Weltarchitektur und gerade deswegen sehenswert. Schon im ersten Raum des Museums wird das Problem der Architektur in Japan mit wenigen Zahlen deutlich genug geschildert. Nach einem rasanten Anstieg der Bevölkerungszahl seit Mitte des 19. Jahrhunderts von rund 30 auf 128 Millionen im Jahre 2008 setzt nun der Schwund ein. Das bedeutet, dass bis 2040 mit einer Abnahme von nicht weniger als 17 Millionen zu rechnen ist. Damit verbunden sind eine Vergreisung der Gesellschaft, eine Entvölkerung der ländlichen Regionen und eine Zunahme des Leerwohnbestandes.
Vor vier Jahren standen 8,4 Millionen Häuser leer – das sind über 13 Prozent des Gesamtbestandes, Tendenz exponentiell steigend. Für angehende Architektinnen und Architekten sind das alles andere als rosige Aussichten. Die jetzige Ausstellung stellt Teams vor, die ihre Tätigkeit nach 2011, das heisst nach dem verheerenden Erdbeben von Fukushima, aufgenommen haben und welche die vordergründig hoffnungslose Ausgangslage im Bausektor als Chance für radikal neue Entwurfsstrategien begreifen.
Die Vergangenheit lastet schwer auf den Schultern der Newcomer, weist Japan doch zahlreiche Baumeister auf, die mit ihren Werken international Aufsehen erregten. Dazu zählen Kenzo Tange, Fumihiko Maki, Arata Isozaki, Tadao Ando, Toyo Ito, Kengo Kuma, SANAA, um nur die wichtigsten zu nennen. Es kann schon deprimierend sein, wenn man als junger Entwerfer erleben muss, dass die grossen Aufträge nun ausbleiben und man immer weniger gefragt wird, weil Generalunternehmer ohne Sinn für Gestaltung die Lücke füllen.
Bestehendes erhalten
Trotzdem geht das Leben weiter, und damit verbunden bleiben die Fragen aktuell, wie und wo man wohnen, einkaufen, Feste feiern, arbeiten und ausgebildet werden soll. Nicht mehr Tabula rasa ist gefordert, sondern eben «make do with now», das heisst, mit dem auskommen, was die Gegenwart anbietet.
Fünf Teams und zwanzig Einzelprojekte werden im Museum präsentiert, und wer das Ausstellungsgut nicht vor Ort verarbeiten kann, kann dies mit dem Studium der Monografie zur Ausstellung nachholen. Spektakuläre architektonische Gebilde sollte man jedoch nicht erwarten. Dafür bieten sich überraschende und höchst faszinierende Einblicke in Arbeiten, die das Potenzial haben, Modelle für das Bauen in naher Zukunft zu werden.
Statt bestehende Bausubstanz niederzureissen und sie durch handelsübliche Hochhausscheiben zu ersetzen, wird das Vorhandene auf seine Tauglichkeit für eine neue Nutzung hin erforscht. Man weiss heute, dass der Abbruch eines Hauses mit nachfolgendem Neubau den grössten ökologischen Fussabdruck hinterlässt. Warum also nicht das Bestehende erhalten und sanft umbauen?
2017 kauften Mio Tsuneyama und Fuminori Nousaku ein vierstöckiges Haus und begannen es umzugestalten. Dabei wurde das Haus zum Forschungslabor, in dem an Ort und Stelle geprüft werden konnte, wie man mit geringen Kosten Wohnraum schaffen kann, der den Bedürfnissen einer neuen Generation genügt. Beeindruckend an diesem Beispiel ist das langsame Vortasten der Architekten von Raum zu Raum, von Stockwerk zu Stockwerk, um das Neue mit der alten Bausubstanz zu verzahnen. Wie bei anderen Arbeiten auch, wird in einer solchen Haltung die Ehrfurcht vor der anonymen Handwerkerkunst spürbar.
Das erinnert an den Beitrag der Japaner an der Architekturbiennale von 2021 in Venedig, wo im japanischen Pavillon alle Einzelteile eines traditionellen Holzhauses ausgelegt waren. Das Büro 403architecture [dajiba] verschrieb sich der Analyse der Kleinstadt Hamamatsu, wo es in enger Zusammenarbeit mit der Bevölkerung Lösungen für sanfte Renovationen von Wohneinheiten entwickelt. Es geht um Umgestaltung der Innenräume, aber auch um eine Neuordnung der Aussenbereiche, die teilweise nur aus engen Gassen bestehen. Ein Grundsatz ist die Wiederverwendung von Werkstoffen, die ungenutzt lagern oder aus der bestehenden Substanz entfernt wurden.
Neubau aus Bauschutt
Ein anderes Team, dot architects, richtete in einer heruntergekommenen Halle Abteilungen für verschiedene Institutionen ein, die den Bewohnerinnen und Bewohnern eines Quartiers in Osaka Begegnungen ermöglichen sollen, so etwa eine Kantine, Räume für kulturelle Anlässe, Kleinläden und Büros.
Im grössten Raum des Basler Museums kann man im Uhrzeigersinn zwanzig Einzelprojekte studieren, die alle aufgrund der oben erwähnten Rahmenbedingungen entstanden sind. Das Atelier GROUP etwa setzte sechs nicht mehr benötigte vorfabrizierte Häuser zu einem Cluster zusammen und richtete hier zahlreiche Ateliers ein.
Das Team Ishimura+Neichi baute ein aufgegebenes Industriegebäude aus einer Stahlkonstruktion um – teilweise mit Werkteilen, die im Gebäude zurückgelassen wurden. Norihisa Kawashima/Nori Architects zeigen an einem Hochhaus, wie man eine furchtbar hässliche Glasfassade durch einen wesentlich freundlicheren Vorbau mit Holzpfeilern, Brüstungen aus Ton und reicher Bepflanzung aufwerten kann. Ein wichtiger Aspekt der Umgestaltung war, nur Werkstoffe zu benutzen, die insgesamt 85 Prozent weniger CO2-Emissionen verursachen als beispielsweise Beton und Stahl.
Das Büro Shun Takagi/Root A setzte sich bei einem Neubau eines Wohnhauses zum Ziel, lediglich Bauschutt zu verwenden. Das hatte dann zur Folge, dass der Entwurf nicht die Wahl der Baustoffe bestimmte, sondern umgekehrt, dass die in der Umgebung vorgefundenen Materialien das Design beeinflussten. Ein letztes Beispiel: Das Architektenkollektiv TAB entwirft für Bauwillige mit wenig finanziellen Ressourcen einzig eine aus Holz konstruierte Hülle, sodass die Bewohner das Innere kontinuierlich und nach ihren Bedürfnissen ausbauen können.
Gewusel ohne Hochglanz
Die Spuren all dieser Architekten sind nur schwer zu finden, zumal das Arbeitsfeld nicht die unverbaute Wiese mit Fernblick ist, sondern das undurchdringliche Gewusel, das für japanische Städte so typisch ist. Die Werke sind somit keine Kandidaten für die Hochglanzzeitschriften, und trotzdem weisen sie eher in die Zukunft als all die bombastischen öffentlichen Bauten, an die kein Architekturkritiker vorbeikommt.
Architektonische Arbeit ist so betrachtet mehr als nur das Ringen um den geeigneten Entwurf, sie ist fachübergreifend und sie muss Forschungen in Soziologie, Psychologie, Anthropologie, Biologie, Klimatologie, Politologie mitberücksichtigen. Ein kleines «Aber» ist jedoch am Schluss zu nennen: Werden diese Teams, sollten sie die Gelegenheit bekommen, prestigeträchtige Aufträge umzusetzen, solchen Versuchungen widerstehen? Zu wünschen ist ihnen dies.
Make Do With Now: Neue Wege in der japanischen Architektur
Bis 12. März 2023 im Schweizerischen Architekturmuseum Basel
Dazu: Yuna Shinohara/Andreas Ruby (Hrsg.): Make Do With Now. New Directions in Japanese Architecture, Christoph Merian Verlag Basel 2022