Glaubt man den fast täglich auf die rund 62 Millionen Stimmberechtigten niederprasselnden Meinungsumfragen, so könnte es am Sonntagabend in beiden Fällen äussert knapp ausgehen. Sowohl für den Bund als auch für den Wiesbadener Landtag weisen die Zahlen einen annähernden Gleichstand der hier wie dort bisher regierenden Koalitionen aus CDU/CSU (in Hessen natürlich ohne CSU) und FDP sowie der gleichfalls identischen Blöcke der Oppositionsparteien SPD, Grüne und Linke aus. Doch diese Daten sind hinsichtlich eines letztendlichen Wahlsiegs, respektive der künftigen Regierungspartner, nur in begrenztem Masse aussagekräftig.
Ohne die «linken Schmuddelkinder»
Denn der (mögliche) rechnerische Gleichstand der beiden Lager ist bloss theoretisch. Sowohl im Bund als auch auf der hessischen Landesebene schliessen die Sozialdemokraten nämlich eine Koalition mit den Nachfolgern der einstigen DDR-Einheitspartei SED (Die Linke) aus. SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hat das von vornherein kategorisch getan.
Nicht ganz so eindeutig klingt das zwar beim hessischen Herausforderer des CDU-Ministerpräsidenten Volker Bouffier, dem SPD-Hoffnungsträger Thorsten Schäfer-Gümbel. Aber es hört sich im Prinzip so an. Ausserdem steckt den dortigen Genossen noch immer der Schock von vor vier Jahren in den Knochen, als die damalige Spitzenkandidatin, Andrea Ypsilanti, während der gesamten Kampagne Stein und Bein geschworen hatte, auf keinen Fall mit den «linken Schmuddelkindern» zu paktieren – um dann unmittelbar nach Auszählung der Stimmen doch rot/rot mit grün zu propagieren. Das hatte die Partei seinerzeit fast zerrissen.
Wie präsentiert sich die Lage auf Bundesebene unmittelbar vor der entscheidenden Volksabstimmung? Nicht zu Unrecht kritisieren die meisten professionellen Beobachter – also vor allem Medien und Politikwissenschaftler – das weitgehende Fehlen von ebenso wichtigen wie strittigen Sachthemen während des jetzt zu Ende gegangenen Wahlkampfs.
Tatsächlich hatten die Hauptwidersacher (also CDU/CSU wie SPD) in erster Linie und lange Zeit praktisch ausschliesslich ihre Spitzenleute in den Vordergrund gestellt. Erst in den allerletzten Wochen ging Peer Steinbrück, der Herausforderer von Kanzlerin Angela Merkel, nicht ohne Punktgewinne zu verzeichnen, verstärkt mit Problemen wie Soziale Gerechtigkeit, Energiewende, Alters- und Jugendarmut sowie Bildung in die Offensive. Anscheinend hatten die Strategen im Berliner Erich-Ollenhauer-Haus begriffen, dass sie drauf und dran waren, ein krachendes Eigentor zu schiessen, wenn sie weiterhin fast ausschliesslich versuchten, ihr Feuer auf die Regierungschefin zu konzentrieren.
Reicht Beliebtheit zum Sieg?
Der Grund für die Attacken scheint auf den ersten Blick verständlich. Seit Monaten schon liegt Angela Merkel auf der Beliebtheits- und Popularitäts-Skala von Medien und demoskopischen Instituten mit weitem Abstand vor ihrem sozialdemokratischen Konkurrenten. Doch das Trommelfeuer auf die Person Merkel wurde mehr und mehr zum Rohrkrepierer: Es steigerte nämlich deren Bekanntheitsgrad nur noch weiter. Nicht ganz so deutlich, aber trotzdem klar erkennbar, ist auch der Vorsprung der CDU/CSU als Partei vor der SPD, der – anders als in Hessen – im Bund keine Chancen eingeräumt werden, das jetzige schwarz-gelbe Regierungslager allein durch eine Allianz mit den Grünen zu gefährden.
Also keine Aussicht auf einen Machtwechsel an der Spree, sondern stattdessen «Weiter so»? Keineswegs. Nach allen Untersuchungen hängt der Fortbestand des christlich-liberalen Bündnisses an dem berühmten seidenen Faden. Weniger bildhaft ausgedrückt – er hängt in allererster Linie vom Abschneiden des kleinen Koalitionspartners FDP ab.
Am vergangenen Sonntag, bei den Landtagswahlen in Bayern, hatten die Wähler die Freidemokraten nicht nur aus der CSU-geführten Regierung, sondern gleich auch noch aus dem Münchener Parlament gekickt. Mit nur drei Prozent Stimmenanteil blieb die Partei sogar deutlich unter der für den Einzug in ein deutsches Parlament notwendigen Fünfprozent-Hürde. Schaffen die Liberalen hingegen in Berlin dieses Hindernis, möglicherweise sogar mit sechs Prozent, und gewinnen CDU und CSU tatsächlich die ihnen prognostizierten 40 Prozent, dann steht einer Fortsetzung der jetzigen Regierung Merkel/Rösler (wenigstens rechnerisch) nichts im Wege.
Vorausgesetzt allerdings: SPD, Grüne und Die Linke machen nicht quasi in letzter Sekunde in der Wählergunst doch noch unerwartete Sprünge und auch die künftigen SPD-Granden halten sich an die Festlegung Peer Steinbrücks, nicht mit den Linken zu koalieren. Dazu eine kleine geschichtliche Anmerkung zum Verständnis: 1946 war die SPD in der sowjetischen Besatzungszone mit Gewalt gezwungen worden, sich mit der KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zu vereinigen. Viele Sozialdemokraten, die sich widersetzten, bezahlten diese Haltung mit jahrzehntelanger Haft, nicht selten auch mit dem Leben. Nach 1990 änderte diese SED dreimal ihren Namen und nennt sich mittlerweile «Die Linke»…
Fragezeichen hinter den Grünen
Mit Spannung erwartet wird auf Bundes- wie auch auf der hessischen Landesebene das Wahlergebnis der Grünen. Noch vor Jahresfrist erfreute sich die einstige Sonnenblumenpartei eines bis dahin noch nie erlebten Stimmungshochs. In Baden-Württemberg marschierte sie sogar an der SPD vorbei und stellte mit Wilfried Kretschmann erstmals einen Ministerpräsidenten sowie mit Fritz Kuhn auch noch den Oberbürgermeister von Stuttgart.
Inzwischen freilich befinden sich die Grünen augenscheinlich im Sturzflug und stehen momentan in der Wählergunst nur noch bei zehn Prozent. Tendenz weiter sinkend. In gewiss gezielter Überspitzung hatte schon vor geraumer Zeit der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter in einem TAZ-Interview einen früheren Erfolgsmechanismus der Grünen erklärt, der jetzt kaputt gegangen zu sein scheint: «Überragende Ergebnisse bekommen sie in den grossbürgerlichen Stadtvierteln, wo man morgens in Boutiquen einkauft und abends teuren italienischen Rotwein trinkt – aber trotzdem die Grünen wählt, weil man sich damit ohne grosse Anstrengung für einen Reformer halten kann».
Vieles deutet gegenwärtig darauf hin, dass gerade in dieser Wählergruppe ein Einbruch erfolgt ist. Dafür werden drei Gründe genannt. Erstens: Mit ihren Steuerplänen (vor allem bei der Vermögenssteuer) verschreckten sie erhebliche Teile der gut verdienenden Mittelklasse – etwa die ihnen ansonsten zugeneigten Lehrer. Zweitens: Der Vorschlag, pro Woche bundesweit einen fleischlosen Tag (Veggie-Day) einzuführen, wird als Anmassung der Partei empfunden, die Bürger reglementieren zu wollen. Und drittens hat ausgerechnet der eben zitierte und von der Parteiführung speziell damit beauftragte Professor Walter herausgefunden, dass in den frühen Jahren der Partei nicht nur Teile der Grünen einer Straffreiheit von Pädophilie – also Sex mit Kindern – das Wort redeten, sondern ausgerechnet die Partei-Ikone Jürgen Trittin als Student in Göttingen für eine entsprechende Veröffentlichung presserechtlich verantwortlich zeichnete. Speziell im bildungsbürgerlichen grünen Wählerlager zeigt das Wirkung.
Die Euro-Gegner
Überhaupt nicht einschätzbar ist schliesslich eine weitere politische Gruppierung, die sich erst seit relativ kurzer Zeit auf der Bühne tummelt – die Alternative für Deutschland (AfD). Ihre Gründer sind fast ausnahmslos hoch geachtete politische wie wirtschaftlich versierte Persönlichkeiten mit dem Ziel, die Bunderepublik müsse von dem (in den Augen der Initiatoren verderblichen) Kurs der Rettung der Gemeinschaftswährung Euro abgebracht werden. Dass damit vielen Bürgern aus der Seele gesprochen wird, ist nicht zu übersehen. Obwohl die diversen bisherigen «Rettungsschirme» stets mit Billigung auch der Oppositionsparteien SPD und Grüne vom Bundestag abgesegnet wurden, fürchten die Unionsparteien wohl nicht zu Unrecht, dass die Stimmen für die AfD vorzugsweise aus ihrem Lager abgesaugt würden.
Was also bleibt? Reicht es für CDU/CSU und FDP, ist die Frage leicht beantwortet: Weiter so. Wenn aber nicht, bleiben zumindest theoretisch zwei Alternativen. Die (natürlich erst nur) gedachte Siegerpartei CDU/CSU und die Grünen überwinden sämtliche, beiderseits über viele Jahre mit grosser Liebe und Leidenschaft gepflegten Feindschaften und bilden erstmals eine gemeinsame Bundesregierung. Keine Frage, an der Spitze liebäugeln etliche der inzwischen auch alt gewordenen einstigen Aufmüpfler und Bürgerschreckler mit einer solchen Möglichkeit. Wäre es für sie doch die wahrscheinlich letzte Chance, noch einmal die Freuden der Macht zu geniessen. Aber an der so genannten Basis würde vermutlich eine Revolution ausbrechen.
Die Grosse Koalition
Demnach doch die Grosse Koalition? Jedenfalls deutet – ein Scheitern der FDP vorausgesetzt – so ziemlich alles darauf hin. Spricht man freilich die Strategen von Union und Sozialdemokraten darauf an, reagieren sie, als bekämen sie den Ausschlag. Vor allem bei der SPD wirkt noch immer das deprimierende Erlebnis nach, dass ihre Leute beim letzten Mal (2005 – 2009) zwar in ganz erheblichem Masse an der Lösung der seinerzeitigen Bankenkrise beteiligt waren, die Erfolge jedoch am Ende von den Wählen vor allem Merkel und der Union gutgeschriebenen wurden.
Das ist auch der Grund für Steinbrücks «Mit mir nicht noch einmal». Sollte er also morgen sein Wahlziel verfehlen, wird er zurücktreten. Aber da sind ja immer noch der umtriebige und ehrgeizige Parteichef Sigmar Gabriel und der Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier. Beide haben sich mit der Unterstützung ihres Spitzenmannes wahrlich nicht überschlagen.
Über den Parteichef heisst es SPD-intern: «Steinbrück denkt an den 22. September, Gabriel an den 23.» Anders ausgedrückt: Sigmar Gabriel sucht seine Chance nach der Wahl. Und noch etwas könnte eine sozialdemokratische Neigung in Richtung einer Koalition befördern: Sollten sich Merkel und die Union vor diese alleinige Alternative gestellt sehen, könnte die SPD weitgehend die Bedingungen diktieren. Und zwar gleichgültig, wie gut oder schlecht sie abgeschnitten haben sollte.