Namen wie «Rheinlust», «Sassella» und andere erinnern daran, dass in manchen Kneipen Bonns Karrieren geschmiedet wurden. Auch wurden hier politische Neuausrichtungen vorbereitet. Der Rückblick zeigt eine amüsante Mischung aus Anekdoten und zielstrebiger politischer Planung. Das kleine und immer etwas verschlafen wirkende Bonn war auch für Überraschungen gut.
Mehr als ein Vierteljahrhundert ist Bonn nicht mehr die (wenn auch immer nur provisorische) Hauptstadt Deutschlands. Seitdem werden von der beschaulichen Bürger- und Universitätsstadt am Rhein nicht mehr die Geschicke des Landes bestimmt. Das ist länger her als eine Generation. Entsprechend reicher an grauen Haaren sind mittlerweile auch jene politischen Himmelstürmer, die zu Beginn der 1990er Jahre erstmals in den Deutschen Bundestag gewählt worden waren. Sie kamen aus verschiedenen Parteien. Norbert Röttgen, Ronald Pofalla, Armin Laschet und Hermann Gröhe aus Nordrhein-Westfalen etwa waren von der CDU, Cem Özdemir, Andrea Fischer, Volker Beck und andere vertraten das Bündnis 90/Die Grünen.
Keine Pizza, nur Pasta
Das Grüppchen der parlamentarischen Frischlinge einte seinerzeit eine gemeinsame Vision: Sie wollten (zumindest für sich) die festgefügte «Brandmauer» durchstossen, die da lautete, nie mit «denen» – den anderen eben – auch nur zu diskutieren. Also suchte man nach einem Ort, wo man sich treffen und miteinander das scheinbar Unmögliche bereden konnte. Und was eignet sich für derartige, konspirative Zusammenkünfte besser als ein Restaurant oder eine Kneipe? Die Idee war die Geburtsstunde der später legendär gewordenen «Pizza Connection». Und der Ort war das «Sassella» im südlichen Bonner Ortsteil Kessenich.
Das Ristorante am Karthäuserplatz gilt bei manchem noch heute als eine Kultstätte der alten, fast ein halbes Jahrhundert währenden Bonner Republik. Kanzler, Minister und Abgeordnete aller Schattierungen speisten und tranken dort. Im Weinkeller vom Besitzer Giorgio Tartero traf sich die «Pizza Connection» und liess ihren schwarz-grünen Fantasien freien Lauf. Natürlich blieb das «geheime» Polit-Schmausen nicht unentdeckt und wurde von den Altvorderen wie eine Verschwörung misstrauisch beäugt. Doch Helmut Kohl, der damalige Bundeskanzler, liess sie gewähren.
Die meisten der seinerzeitigen Grünschnäbel haben mittlerweile Karriere gemacht, aber durchaus auch erfahren, wie rasch in der Politik dem Aufstieg auch wieder ein tiefer Fall folgen kann. Die von mannigfaltigen Fantasien begleiteten Treffen sind inzwischen über 25 Jahre her. Immerhin – Koalitionen in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg beweisen, dass Schwarz-Grün längst keine graue Theorie mehr ist. Der lange Tisch aus Tannenholz im Weinkeller vom Sassella ist allerdings verwaist. Immerhin konnte Giorgio Tartero in der Zwischenzeit noch ein sprachliches Missverständnis aufklären: Pizza wurde dort nie gegessen, es gab nur Pasta.
Pragmatismus
Freilich war das Ristorante am Kathäuserplatz keineswegs der einzige Ort im Bonner Süden, an dem über Jahrzehnte wesentliche politische Entscheidungen getroffen wurden. Dort, wo sich heute das Museum für deutsche Geschichte (übrigens das meistbesuchte Museum in der Bundesrepublik) befindet, stand bis zu seinem Abriss Mitte der 1980er Jahre ein Eckhaus – die 1874 als Ausflugslokal erbaute «Rheinlust». Doch längst trafen sich dort die Bonner nicht mehr zu Kaffee und Kuchen auf dem Weg zum Rhein. Vielmehr «amtierte» in der bierdunst- und rauchgeschwängerten Kneipe über lange Zeiten hinweg eine der einflussreichsten Parlaments-Gruppierung mit dem selbst gegebenen Namen «Kanalarbeiter».
Es war eine Sammlung von sozialdemokratischen Bundestagsageordneten. Der rechte Flügel der SPD-Bundestagsfraktion, sozusagen. Sie selbst bezeichneten sich lieber als pragmatisch, auf jeden Fall nicht dogmatisch. Dennoch war ihr Selbstverständnis durchaus klassenbewusst. Ihre Vorstellung von Sozialismus aber war nicht geprägt von den Vorstellungen der revolutionären Bürgersöhne der studentischen Linken, sondern orientierte sich an der Interessenlage der Arbeitnehmerschaft und den tatsächlichen, praktischen Fortschritten für die Gesellschaft. Die meisten Kanaler hatten die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus immer im Blick. Die neue Republik sollte eine bessere werden.
Die «Kanalarbeiter-Gewerkschaft»
Unumstrittener Chef war viele Jahre lang der Abgeordnete Egon Franke aus Hannover, Spitzname «Canale Grande». An seinen «Kanalarbeitern» kam niemand vorbei, der in der SPD-Fraktion politisch etwas werden oder durchsetzen wollte. Kein Wunder, dass auch Parteigrössen wie Willy Brandt, Helmut Schmidt, Egon Bahr und manch andere den «Kanalern» regelmässig ihre Aufwartung machten. Aber keineswegs nur, um «Politik zu machen». An den Tischen wurde Abend für Abend auch so manche Runde Skat gekloppt. Dabei waren die «Sozis» keineswegs nur unter sich. Gern gesehener Gast war zum Beispiel auch der quirlige CSU-Mann und einstige Bundesinnenminister Hermann Höcherl. Als er und Egon Franke einmal aneinander gerieten, aber kurze Zeit später wieder friedlich vereint beim «Karteln» sassen, lagen sich ihre persönlichen Referenten noch lange unvermindert in den Haaren …
Und selbst als, zum Beispiel, Dr. Dr. Gustav Heinemann (genannt «Gustav Gustav») zum Bundespräsidenten gewählt worden war, juckte es ihm noch immer in den Fingern. Nachdem er sich allerdings – vermeintlich unbemerkt – mehrfach des Nachts aus der Villa Hammerschmidt durch den Park hinaus zur «Rheinlust» geschlichen hatte, liess sich der Chef seiner Sicherheitsleute bei ihm melden und bat: «Herr Bundespräsident, bitte lassen Sie doch diesen Unsinn. Wenn Ihnen etwas passieren sollte, sind wir nämlich ebenfalls dran.» Danach gab Heinemann tatsächlich seine nächtlichen Ausflüge auf – nicht ohne freilich die alten Skat-Kumpanen zu sich in die Villa einzuladen.
Ausschlaggebend für den Namen «Kanalarbeiter-Gewerkschaft» war übrigens ein Boykott des Bundestags-Restaurants durch die Genossen. Aus Protest wegen zu kleiner Portionen hatten sich einige von ihnen Brot und Wurst aus dem nahe gelegenen Büdchen geholt und dazu im Restaurant nur das Besteck bestellt. Auf die Frage eines Journalisten nach dem «Warum» antwortete der fränkische Abgeordnete Karl Herold spontan: «Weil wir die Gewerkschaft der Kanalarbeiter sind.»
Politik bei Wurstsalat und Bratkartoffeln
Nicht vergessen werden sollte die Tatsache, dass sich in der unmittelbaren Nachbarschaft der «Rheinlust» in jenen Jahren das Gebäude der indischen Botschaft befand. Und diese, staunte jedenfalls der Leiter der Bundestags-Fahrbereitschaft, muss anscheinend ein Ausbund an diplomatisch-parlamentarischer Aktivität gewesen sein, weil von nirgendwo sonst in Bonn tagtäglich so oft von Abgeordneten Beförderung erbeten wurde. Tatsächlich aber kamen die Anforderungen von den «Kanalarbeitern», die sich – verständlicherweise – nur ungern aus einer Kneipe abholen lassen wollten. Mit dem Ende der Bonner Republik verloren freilich auch die Kanaler an Einfluss und gingen schliesslich im heute noch in Berlin existierenden so genannten Seeheimer Kreis auf, der jedoch nie an die einstige Schlagkraft anknüpfen konnte.
Weder bei CDU/CSU, noch bei der FDP, noch bei der SPD-Linken hat es derartige fest gefügte Gruppierungen und Lokalitäten gegeben. Trotzdem haben sich zwei Namen eingeprägt: «Schumann-Klause» und «Provinz». Vor allem letztere ist wohl manchem noch in Erinnerung geblieben, der es später regierungsamtlich zu Rang und Namen brachte. Sie lag (heute ist nichts mehr davon erhalten), etwa 200 Meter von der ehemaligen Rheinlust entfernt, genau vi-à-vis vom Neubau des Bundeskanzleramts und wurde geführt von Heike Stollenwerk. Dort verkehrte ein eher jüngeres, links-grünes Polit-Publikum. Gerhard Schröder und Joschka Fischer pflegten Abend für Abend bei Wurstsalat und Bratkartoffeln auf Bierdeckeln Listen für ein irgendwann vielleicht einmal mögliches gemeinsames Kabinett zusammenzustellen, während die spätere Kieler Ministerpräsidentin Heide Simonis als Schankfrau laufend frisches Kölsch anschleppte.
Von den Grünen gehörten (der später zur SPD gewechselte) Otto Schily ebenso zu den Stammgästen wie die unlängst verstorbene Antje Vollmer und Waltraut Schoppe. Und man erzählt sich – wirklich bewiesen worden ist das nie –, dass eines Morgens nach durchzechter Nacht einige «Provinzler» auf die andere Strassenseite wankten und Gerhard Schöder symbolträchtig an den Gitterzäunen des Kanzleramtes mit dem Schrei rüttelte: «Ich will hier rein.» Wie man an seinem Beispiel erkennt, können Träume tatsächlich manchmal wahr werden. Einige Jahre später – 1998 – hatte es Schröder wirklich geschafft, Kanzler zu werden.
Lokalverbot für den Präsidenen
Tempi passati – vergangene Zeiten. Doch die Erinnerung lebt weiter an die Epoche, als in Bonner Kneipen Weltpolitik betrieben wurde. Aber auch wenn nicht alles was an den Theken im Bonner Süden ersonnen, gesponnen und hinausposaunt wurde, den Globus wirklich erzittern liess. Aber immerhin mitunter sogar erdumspannend für Aufmerksamkeit sorgte. So wie das vom Wirt des «Südpols», Udo Skomorowsky, gegenüber dem seinerzeitigen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker verhängte Lokalverbot. Das war im Sommer 1991. Der im alten Wasserwerk residierende Bundestag hatte gerade mit ziemlich knapper Mehrheit beschlossen, dass Berlin wieder die künftige deutsche Hauptstadt werden solle. Das vorausgegangene Ringen um diese Frage und die anschliessende parlamentarische Entscheidung hatten das Bonner Herz und die rheinische Seele wundgerieben. «Berlin» – das war mit einem Mal eine Art feindlicher Begriff. Etliche Bäckereien weigerten sich sogar, die leckeren in Fett heraus gebackenen und mit Konfitüre gefüllten Ballen weiterhin als «Berliner» zu verkaufen.
Weizsäcker hatte sich vehement für Berlin ausgesprochen, was seine Beliebtheit bei den Alt-Hauptstädtern natürlich deutlich verringerte. Allerdings ist kaum anzunehmen, dass er überhaupt von der Existenz des «Südpol» Kenntnis hatte und schon gar nicht, dass er je seinen Fuss dort hineinsetzen würde. Als dann jedoch dort auf der Werbetafel – schön eingerahmt von «Lachs und Reibekuchen», «Rheinischer Sauerbraten» und «Rote Grütze» – mit fetter Kreide geschrieben stand «Herr von Weizsäcker hat hier Lokalverbot», stürzten sich die Medien darauf – nicht nur die lokalen, sondern auch die internationalen. Entsprechend war der Vorgang auch Thema bei der morgendlichen Presserunde in der Villa Hammerschmidt. Und, wie man hörte, war das Staatsoberhaupt darüber überhaupt nicht amüsiert. Denn, auch wenn der Bundespräsident ein grosser Politiker und herausragender Staatsmann gewesen ist, so war ihm doch eine gewisse Eitelkeit und Freude an Beliebtheit keineswegs fremd. Auch das gehört zur Bonner Kneipengeschichte und deren Bindung an die grosse Politik.