Manches passt auf den ersten Blick nicht zusammen vor der Bundestagswahl in Deutschland am 22. September. Die Stimmung, soweit sie sich in den medialen Kommentaren führender Meinungsmacher niederschlägt, ist unüberhörbar von einem seltsam missmutigen, lustlosen und grämlichen Grundton moduliert. Der «Spiegel» beklagt unter dem Titel «Die bequeme Republik» seitenlang die allgemeine Lethargie in diesem Wahlkampf. Der Starphilosoph Jürgen Habermas will in der gleichen «Spiegel»-Nummer bei der EU- ebenso wie in der Innenpolitik der Regierung Merkel einen «Fall von Eliteversagen» erkannt haben. Er wirft ihr «tranquilistisches Herumwursteln» vor. Sein ebenso prominenter Fachkollege Peter Sloterdjik erklärt, er werde diesmal gar nicht an der Bundestagswahl teilnehmen, weil er nicht mehr erkennen könne, «wo das geringere Übel liegt». Ein verblüffend dürftiges Argument für einen renommierten Denker, der sich als Demokrat versteht.
Zufriedene Mehrheit
Gleichzeitig liest man in den gleichen Gazetten, in denen solche missmutigen Meinungen verbreitet werden, dass die Deutschen laut jüngsten Umfragen mit ihrer Regierung so zufrieden sind wie nie zuvor («Der Spiegel», 32/2013). Eine Umfrage der britischen BBC in 25 Ländern ergab, dass Deutschland heute als das populärste Land der Welt gilt. Timothy Garton Ash, der bekannte Publizist und Deutschlandkenner aus Oxford schrieb in einem langen Essay in der «New York Review of Books», zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung des geteilten Deutschland sei die Berliner Republik «about as solid a bourgeois liberal democracy as you can find on earth». Innerhalb der EU sitze Deutschland dank seiner wirtschaftlichen Macht unbestritten im Führersitz.
Wie soll man die Diskrepanzen zwischen der weitverbreiteten Grämlichkeit unter den medialen Kommentatoren einerseits und der offenbar zufriedenen Grundstimmung bei der Volksmehrheit in Deutschland sowie den hervorragenden Einschätzungen ausländischer Beobachter andererseits erklären? Offenbar hat der Missmut der Meinungsmacher mit der fehlenden Dramatik des Bundestagswahlkampfes 2013 zu tun. Zwischen den Kanzlerkandidaten Merkel und Steinbrück scheint das Rennen seit langem gelaufen. Wo sollen da noch Spannung und aufregende Schlagzeilen herkommen? Im Vergleich etwa zu den grossen Duellen Brandt gegen Barzel (1973), Schmidt gegen Strauss (1980), oder Schröder gegen Kohl (1997) ist das tatsächlich ein lahmer, wegen des offenbar uneinholbaren Popularitätsvorsprung der amtierenden Kanzlerin wenig inspirierender Wahlkampf.
Wo ist die Euro-Krise?
Aber es liegt nicht nur am weiten Vorsprung Merkels vor Steinbrück. Es fehlen auch die grossen kontroversen und mobilisierenden Themen, wie einst in den siebziger Jahren der scharfe Streit um die Ostpolitik der sozial-liberalen Regierungen oder die aufwühlenden Debatten um die Nato-Nachrüstung in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Heute werden im deutschen Wahlkampf buchhalterische Schattenbox-Turniere ums liebe Geld ausgefochten, es geht um Mautfragen, Rentenperspektiven, Steuersatz-Filigran, Minimallöhne, Betreuungsgelder usw.
Zwar gäbe es auf den Feldern der Aussen- und EU-Politik einige brisante und dringliche Themen zu beackern. Doch davon scheinen die etablierten Parteien und ihre Matadore zurückzuschrecken. Die SPD und die Grünen deshalb, weil sie keine wesentlich verschiedene Rezepte zu Merkels aussen- und europapolitischem Kurs anbieten. Und dass man mit permanenten kassandrischen Unkenkonzerten vom angeblich unausweichlichen oder gar wünschenswerten Untergang des Euro beim deutschen Wähler kaum mehr Gehör findet, das muss jetzt die ganz auf dieses Thema fixierte Neu-Partei «Alternative für Deutschland» (AfD) bitter erfahren. Den Regierungsparteien CDU und FDP wiederum kann es wegen der vielen Unwägbarkeiten und Risiken, die im Zusammenhang mit der Euro-Krise auf dem Spiele stehen, nur recht sein, wenn Merkels Management bei diesem Komplex im laufenden Wahlkampf nicht ins Zentrum gerückt wird.
Die Kanzlerin als Korrektiv
Es gibt noch weitere Gründe, weshalb dieser Wahlkampf die deutschen Gemüter wenig dazu animiert, an der den Deutschen zugewachsenen Rolle des EU-Primus und generell am geopolitischen Status quo zu rütteln. Die deutsche Frage, das heisst die deutsche Teilung, die nach 1945 zu den Kernaspekten des Kalten Krieges zählte, ist seit gut zwanzig Jahren gelöst. Das weit herum kaum mehr für möglich gehaltene politische Wunder der deutschen Wiedervereinigung hat Deutschland im politisch-historischen Sinne zu einem saturierten Land werden lassen. Auch deshalb braucht man sich nicht zu wundern, dass der Ruf von ruhelosen Kritikern und Meisterdenkern nach ausgreifenden neuen Gesellschaftsvisionen und europapolitischen Zukunftsentwürfen den Durchschnittsbürger nicht vom Stuhle reisst. Warum sich mit solch wolkigen Themen abmühen, wenn sich’s in der realen Gegenwart doch ganz passabel lebt?
In dieser milde irritierenden Gemengelage aus den aktuellen deutschen Erfolgsgeschichten und der im Hintergrund rauschenden Euro-Krise hält offenbar die Mehrheit der deutschen Wähler Angela Merkel für die beste Besetzung im Kanzleramt. Ihren unaufgeregten und dennoch selbstbewussten Regierungsstil scheinen viele als wohltuendes Korrektiv zum kurzatmigen, zur Hysterie neigenden Getöse des Medienbetriebes zu empfinden. Dass die nüchterne protestantische Pfarrerstochter in der Ex-DDR aufgewachsen ist, hat dem anfänglich harzigen, aber inzwischen weit fortgeschrittenen Prozess des Zusammenwachsens von West- und Ostdeutschland zusätzliche Schubkraft verliehen.
Keine herrischen Gesten
Wie alle ihre Vorgänger im Bonner und im Berliner Kanzleramt hat Angela Merkel tief verinnerlicht, dass wegen der Gespenster der deutschen Geschichte das demokratische Deutschland sich davor hüten muss, im europäischen Konzert mit herrischer Geste den überlegenen Taktgeber zu spielen. Niemand unterstellt denn auch «Mutti Merkel» im Ernst hegemoniale oder gar imperiale Ambitionen – abgesehen von dümmlichen Karikaturisten im Dienste Berlusconis oder griechischer Hitzköpfe. Dennoch wird von vielen Seiten im Euro-Krisenverbund der Wunsch nach mehr deutscher Führung artikuliert. Die heikle Gratwanderung zwischen dieser sachpolitisch begründeten Forderung und der Rücksichtnahme auf ebenso verständliche Empfindlichkeiten unter den europäischen Nachbarn hat die pragmatische Kanzlerin und promovierte Physikerin alles in allem bisher mit Respekt einflössender Trittsicherheit absolviert.
Thomas Manns Glaube an die Geschichte
Vor sechzig Jahren hielt der damals 78-jährige Thomas Mann, vor kurzem aus dem amerikanischen Exil nach Europa zurückgekehrt, in Hamburg eine Rede vor Studenten. In der bewegenden, sehr persönlich formulierten Ansprache appellierte der betagte Dichter an die deutsche Jugend, sich mit Geduld und Feingefühl für die Überwindung der deutschen Teilung und ein geeintes Europa zu engagieren. Wörtlich sagte Thomas Mann 1953 in Hamburg: «Es ist dunkel, und wir sind auf den Glauben angewiesen, dass die Geschichte schon Mittel und Wege finden wird, das Unnatürliche aufzuheben und das Natürliche herzustellen: ein Deutschland als selbstbewusst dienendes Glied eines in Selbstbewusstsein geeinten Europa – nicht etwa als sein Herr und Meister.»
Diesem Ziel hat sich das vor sechzig Jahren zerrissene und vom selbstverschuldeten Krieg zerstörte Deutschland inzwischen in einem Masse angenähert, wie das damals wohl viele Zeitgenossen kaum zu hoffen wagten. Gewiss ist auch Deutschland noch lange kein Idealstaat – aber gibt es das in der realen Welt überhaupt? Von Rückschlägen, Krisen und Stimmungseinbrüchen wird auch der gegenwärtige EU-Primus in Zukunft nicht verschont bleiben. Man sollte nicht vergessen, dass noch vor zehn Jahren über Deutschland das düstere Wort vom «kranken Mann Europas» im Umlauf war. Doch nun schlägt das Pendel eben in der Wahrnehmung vieler Deutscher schon seit geraumer Weile in eine bessere Richtung aus. Weshalb sollten sie in dieser vergleichsweise glücklichen Lage eine andere Regierung wählen?