Der junge Architekt Giacomo Paravicini hat Luzerner Bauten dokumentiert, die unter das Label «Brutalismus» fallen. Aus seinen architekturhistorischen Streifzügen ist ein Buch entstanden, das viele bekannte, aber auch unbekannte Werke der Boomzeit vorstellt.
Das Blättern in der Publikation gleicht für Boomer – und dazu gehört der Schreibende – einer nostalgischen Zeitreise. Abgebildet sind meist in Sichtbeton ausgeführte Bauten der 1960er und 1970er Jahre. Damals war diese Architektur Ausdruck der Avantgarde. Inzwischen gelten ihre Hinterlassenschaften oft als kalte, abschreckende Zeugnisse der damaligen Bauwut. Architekturhistorisch werden sie bisweilen ähnlich negativ gewertet wie vor einem halben Jahrhundert die Denkmäler des Historismus, als diese zum Abbruch beziehungsweise zur radikalen Ausräumung freigegeben wurden.
Nun stehen die in der Zeit des Wirtschaftswunders errichteten Komplexe zur Disposition, und es war gerade ein gefährdeter Bau – das von Walter Rüssli entworfene Altersheim Grossfeld in Kriens –, der Giacomo Paravicini anregte, sich mit den Zeugen der damaligen Vorliebe für Sichtbeton auseinanderzusetzen. Er beteiligte sich nämlich am Wettbewerb für eine neue Lösung, wobei man jedoch offenliess, ob diese Lösung Abriss oder Umgestaltung heissen sollte. Es ist derzeit noch nicht klar, wie das Projekt enden soll, aber es sieht ganz nach einem kompletten Neubau als Ersatz aus.
Unbefangene Annäherung
Wie sah es an anderen Orten aus? Die Neugier trieb Paravicini voran und daraus resultierte eine Publikation, die 53 Beispiele des sogenannten Brutalismus im Kanton Luzern vorführt. Der nicht auf Architektur spezialisierte Fotograf Michael Scherer suchte jedes Gebäude auf und tastete das Innere wie das Äussere mit der Kamera ab. Es sind ungewohnte Ansichten, vielfach bei bewölktem Himmel oder sogar bei Regen und Nebel eingefangen, welche insbesondere das Äussere mit der für Sichtbeton typischen Patina zeigen: verfärbte Flächen, teilweise mit Abplatzungen, schwarze Flechten und Ausblutungen.
Paravicini gehört mit Jahrgang 1989 einer anderen Generation an als die Planer und Schöpfer der ausgewählten Bauten, und er näherte sich unbefangen diesen Artefakten, die für viele nach wie vor abschreckende Zeugnisse des ungehemmten Fortschrittsglaubens der Nachkriegszeit sind. An vielen Orten wird der Wunsch, diese Schandflecke zu entfernen, von einer Mehrheit getragen. Paravicini urteilt nicht, ob dies zu unterstützen sei oder nicht, er möchte vielmehr schlicht die damalige Baukultur dem endgültigen Vergessen entreissen. Selbstverständlich schwingt da eine gewisse Faszination mit, und er ist damit nicht alleine. 2017 stellte das Museum Bellpark in Kriens Fotos von Simon Phipps aus, der den brutalistischen Spuren in England nachgegangen ist und diese in expressiven Schwarz-Weiss-Fotos darstellte.
Brut, brutalistisch, brutal
Doch was ist unter brutalistischer Architektur überhaupt zu verstehen? Im einleitenden Text spürt man das Ringen des Autors um eine verständliche Eingrenzung, die allerdings erfolglos bleibt: «Was genau unter ‘Brutalismus’ verstanden wird und wie diese Stilrichtung zu kategorisieren sei, scheint unmöglich zu beantworten.»
Das hat damit zu tun, dass zwei unterschiedliche Quellen für die Entstehung des Begriffs zur Auswahl stehen. Die eine bezieht sich auf die von Le Corbusier bevorzugte Ästhetik des «béton brut», des rohen Betons, der das Äussere bestimmen soll. Damit wird Brutalismus mit einem bestimmten Werkstoff in Verbindung gebracht.
Die andere Quelle entspringt einem Buch, das vom englischen Architekturkritiker Reyner Banham 1966 herausgegeben wurde und mit «The New Brutalism» betitelt ist. Darin geht es aber mehr um eine ethische Haltung, die von Baumeistern verlangt, Werkstoffe rein und ehrlich einzusetzen, somit ohne Kaschierungen und Verzierungen. Das betrifft dann sämtliche Materialien, nicht nur Sichtbeton.
Durchgesetzt hat sich die corbusianische Entwurfsstrategie, die dank der plastischen Möglichkeiten des Sichtbetons komplex verschachtelte Grossskulpturen modelliert hat. Als extremes Beispiel sei das von Walter Förderer entworfene kirchliche Zentrum St. Johannes in Luzern erwähnt. Der Einfluss von Le Corbusier ist bei vielen der im Buch abgebildeten Werke unverkennbar. So ist das Priesterseminar Luzern eine Paraphrase des Klosters La Tourette bei Lyon, während das Fabrik- und Lagergebäude Milchsüdi in Hochdorf und die Mehrfamilienhäuser Büttenen in Luzern die Unités erkennen lassen.
Die berühmte Kapelle in Ronchamp beeinflusste gerade in der Schweiz zahlreiche Kirchenarchitekten, wie etwa das Team Naef, Studer und Studer, das sich beim Kirchenzentrum St. Maria in Nebikon und bei der kleinen Bergkirche St. Anna ob Wolhusen augenscheinlich von Le Corbusier inspirieren liess. Paravicini bekundete eine gewisse Sympathie für eine skulptural auffällige Tektonik, auch wenn er offen zugibt, dass letztendlich der Bauch entschied, welcher Bau nun in die Auswahl aufgenommen werden sollte und welcher nicht.
Es ist nicht zu leugnen, dass etliche Bauten dieser Richtung wuchtig, ja geradezu abweisend erscheinen, was dazu führte, dass das zunächst harmlose Adjektiv «brut» neu gedeutet wurde, nämlich als Wertung im Sinne von «brutal». Damit spielt der Titel «Brutales Luzern», das auf den ersten Blick missverstanden werden könnte, als eine Studie über Kriminalistik, wie Google denn auch vorschlägt.
Neubewertung brutalistischer Architektur?
Man spürt als Leser, als Leserin, die Leidenschaft, mit der Paravicini dieses beeindruckende Projekt angegangen ist. Weil das Planmaterial so disparat war, entschloss er sich, sämtliche Grund- und Aufrisse neu zu zeichnen, eine geradezu titanische Arbeit. Doch dies trug wesentlich zur Einheitlichkeit des Erscheinungsbildes bei. Textblöcke, Abbildungen und Pläne sind benutzerfreundlich aufeinander bezogen, und hierfür war der Grafiker Camillo Paravicini, der Bruder des Autors verantwortlich.
Es war nicht das Hauptanliegen des Autors, die Denkmalpflege wachzurütteln, um diese Baukultur als schutzwürdig zu nobilitieren. Aber allein die Tatsache, dass nun eine stattliche Studie über brutalistische Bauten existiert, dürfte die kantonale Behörde herausfordern, eine neue Sichtung der Baukultur der 1960er und 1970er Jahre vorzunehmen.
So ist das Schicksal eines weiteren von Paravicini ausgesuchten Beispiels, das von Ferdinand Mäder gleich neben der oben genannten Johanneskirche erstellte Schulhaus Schädrüti, ungewiss. Das Material Beton erlebt gegenwärtig eine zweite Krise, weil der bei der Herstellung verursachte CO2-Ausstoss hoch ist. Zudem erweisen sich Sanierungen von Sichtbetongebäuden als besonders aufwändig – ausgerechnet, galt der Beton doch als schnell zu verarbeitendes und günstiges Baumaterial. Und schliesslich nimmt die Diskussion um Umweltbilanzen bei Abriss und Neubau an Vehemenz zu, was unter Umständen den noch stehenden Zeugen des Brutalismus zugutekommen könnte.
Giacomo Paravicini: Brutales Luzern. Brutalistische Architektur im Kanton Luzern. Quart Verlag Luzern, 2023