Sainte Bernadette du Banlay im burgundischen Nevers ist eine der irritierendsten Sakralbauten des 20. Jahrhunderts. Eine kürzlich erschienene umfassende Studie versucht die Hintergründe des Entwurfes von Claude Parent und Paul Virilio zu erforschen.
Der Sakralbau wirkt im Stadtteil Banlay, der erst nach der Einweihung der Kirche mit einer riesigen Schulanlage und nüchternen Wohnblöcken aufgefüllt wurde, nach wie vor wie ein Fremdkörper. Auf der Claude-Parent-Strasse, benannt nach dem einen der beiden Architekten, öffnet sich in der Häuserflucht nach Osten eine grüne Schneise, die den Blick auf den wuchtigen Betonblock freigibt.
Eine brutale Betonmasse
Die Formgebung, die mittels einer doppelten Fraktur diesen Baukörper bestimmt, erschliesst sich erst nach dem vollständigen Umschreiten des Gebäudes. Eine erste Brechung ist durch die Verschiebung der zwei Grundrisshälften verursacht, sodass die gewaltige Schale, die sich über den Eingang stülpt, an eine zweite im rückwärtigen Bereich stösst. Diese zwei Volumina sind zur Mitte hin nach unten gekippt. Die so entstehende zweite Brechung wird mit der entsprechenden Betonverschalung zusätzlich betont. Wo die zwei Schalen sich berühren, stossen sie auf einen vertikalen Riegel, der bügelartig das gesamte Gebäude überspannt und als Lichtspender fungiert. Der Sockel ist teilweise eingezogen und bewirkt, dass die Betonmasse zu schweben scheint.
Nach dem Durchschreiten des Einganges befindet man sich in einem engen Foyer mit einer kleinen Werktagskapelle und einer Nische für die Tauffeiern. Man findet hier auch eine kleine Ausstellung, bestückt mit Informationstafeln zum Bau und mit der wunderschönen Originalmaquette aus Holz, die 1963 anlässlich des unter drei Teams ausgeschriebenen Wettbewerbes eingereicht wurde.
In der Mitte ist eine Treppe angelegt, die zum Hauptraum hinaufführt. Parent und Virilio wollten ursprünglich auch hier eine schräge Rampe einbauen, doch nach der erforderlichen Verkleinerung des Projektes war dies nicht mehr möglich. So mussten sie sich bei der Umsetzung darauf beschränken, den Boden von der Mitte zum Chorbereich wie zur hinteren Abschlusswand schräg ansteigen zu lassen. Man wird kaum ein anderes Beispiel finden, wo der Zugang zu einer Kirche unmittelbar in die Mitte des Sakralraumes führt.
Im Unterschied zum Äussern sind die Flächen im Innern glatt und ergeben eine faszinierende Symphonie unterschiedlicher Grautöne. Das Licht wird indirekt ins Innere geleitet. Karg ist die Möblierung mit den Holzbänken und den liturgischen Zeichen, die der Bildhauer Morice Lipsi aus einem Naturstein geschaffen hat. Die einzigen Farbpunkte setzen die winzigen, farbig verglasten und leider beschädigten Fenster von Odette Ducarre.
Zum Bauprogramm gehörten ein Pfarrhaus und zusätzliche Räume für den Religionsunterricht. Diese wurden im Untergeschoss eingerichtet; es sind kalte, lieblose Kammern, die für Jugendliche zweifelsohne eine Zumutung sind. Das Pfarrhaus hätte als turmartiger Betonkörper nahe der Claude-Parent-Strasse entstehen sollen, doch finanzielle Engpässe verunmöglichten die Realisierung.
Architektursprache der schrägen Ebenen
In seiner gründlichen Studie des ikonischen Bauwerks bezeichnet Sander die Kirche Sainte Bernadette als Hauptwerk des Labels Architecture Principe, das lediglich von 1963 bis 1968 existierte. Die Frage der Urheberschaft ist ungeklärt.
Bekannt ist soviel: 1963 trafen sich zwei Personen, die nicht unterschiedlicher hätten sein können. Claude Parent (1923–2016) durchlief eine Ausbildung als Architekt, lehnte sich aber schon während des Studiums an der Ecole des Beaux-Arts in Paris auf und festigte schon früh seinen Ruf als Rebell mit eigenen Auffassungen und Ideen.
Paul Virilio (1932–2018) bildete sich nach einem Architekturstudium als Glasmaler aus und verfasste später als Architekturtheoretiker an der Ecole Speciale d’Architecture in Paris zahlreiche, nicht immer leicht verständliche Texte über Aspekte der Geschwindigkeit. Er entwickelte eine kulturkritische Lehre unter dem Titel «Dromologie».
Virilio und Parent suchten nach einer neuen Architektursprache. Nicht mehr rechte Winkel sollten massgebend sein, sondern fliessende Formen, insbesondere schräge Ebenen, was sie «fonction oblique» nannten, welche das Statische der bisherigen Stadtplanung durch das Dynamische des menschlichen Daseins ersetzen sollte.
Mit einer überbordenden Quellenanalyse versucht Sander die Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie und deren Adaption durch den französischen Intellektuellen Maurice Merleau-Ponty als Basis für die Theorien von Parent und Virilio zu erklären. Allerdings hat man beim Lesen von Sanders akribischer Spurensuche bisweilen den Eindruck, dass der Autor es nicht mehr wagte, die sinnvollen von nicht relevanten Querbezügen abzugrenzen. Zudem geht Sander vor allem der Entwicklung von Parent nach, während das Umfeld Virilios auffällig blass bleibt.
Atlantikbunker als Inspirationsquelle
In Bezug auf die Kirche in Nevers lohnt es sich, die 2010 erschienene Monografie zu konsultieren, die anlässlich einer Schenkung von Skizzen durch Parent an die Institution FRAC in Orléans herausgegeben wurde. Fundamental für die Formensprache ist Virilios Beschäftigung mit den Bunkern des Atlantikwalls. Auf unzähligen Wanderungen und ausgerüstet mit einer Leica-Kamera erforschte er die Betonrelikte aus dem Zweiten Weltkrieg, woraus 1975 eine Ausstellung im Centre Pompidou Paris resultierte. Die damit verbundene Publikation mit dem Titel «Bunker Archéologie» wurde mehrfach neu aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt.
Virilio versucht auf eine essayistische Art nicht nur die Betonmonolithen zu erfassen, sondern auch die Dynamik des Krieges. Metaphernreich vergleicht er die gewaltigen Blöcke mit Grotten oder Grabanlagen der Azteken und Etrusker, erkennt in ihnen anthropomorphe Strukturen, ja, er spricht sogar von sakralen Betonaltären angesichts der weiten Leere des Ozeans.
Für den Entwurf von Nevers ist die Feststellung nicht ohne Bedeutung, dass die Monolithen nicht im Boden verankert sind, was dazu führte, dass einige Exemplare umkippten oder sogar vom ursprünglichen Standort wegglitten. Einen weiteren wichtigen Einfluss auf den Kirchenbau in Nevers hatten die abgerundeten Kanten der Bunker, die dazu dienten, den Geschossen der Gegner weniger Angriffsflächen anzubieten. Für Virilio wie für Parent sind die Festungen Anti-Formen und gerade bei ihrer Suche nach Alternativen zu den traditionellen Architekturen attraktiv.
Kirche als Grotte
Die Bunkerästhetik ist bei der Kirche von Nevers allerdings nur einer von vielen Aspekten. Ebenso entscheidend sind die zwei geneigten Ebenen des Kirchenraumes, die eben durch die Vorliebe für die «fonction oblique» zu erklären sind. Des Weitern wird in den Texten von Parent und Virilio zu Nevers immer wieder das Thema der Grotte erwähnt, die in einem direkten Zusammenhang zur Patronin steht, denn Ausgangspunkt für die Ausstrahlung von Bernadette Soubirous waren ihre Visionen in der Grotte von Lourdes. Schliesslich ist auch die Zusammenarbeit mit Künstlern und Künstlerinnen grundlegend und verweist auf Parents Erfahrungen beispielsweise im 1951 gegründeten Kollektiv Espace, das eine Synthese von Architektur und Kunst anstrebte.
Sowohl in der Publikation von Sander wie in der Monografie zur Kirche sind weitere Beispiele von Gebäuden mit schrägen Ebenen abgebildet, so etwa das Solomon Guggenheim Museum von Frank Llyod Wright in New York, die Werke von Justus Dahinden, der explizit die pyramidalen Strukturen bevorzugte, das jüdische Museum von Daniel Libeskind in Berlin, die Rotterdamer Kunsthalle von Rem Koolhaas, die Werke von Zaha Hadid und von Coop Himelb(l)au bis hin zur Oper in Oslo, dem Hauptwerk des Teams Snøhetta. Und nicht zu vergessen, Jean Nouvel – was jedoch insofern nicht überraschend ist, als Nouvel 1967 Assistent im Büro von Architecture Principe war. Man müsste diesen Beispielen heute die Architektur von Bjarke Ingels hinzufügen, der geradezu verliebt ist in schiefe Ebenen. In der Schweiz ist die Arbeit von Parent und Virilio kaum bekannt; die Sprache von «fonction oblique» hatte gegen die sprichwörtliche Nüchternheit der Schweizer Architektur mit der Vorliebe für kubische Volumina einen schweren Stand.
Christian Sander: Claude Parent, Paul Virilio: Architecture Principe. Park Books, Zürich 2022
Fotos ©Fabrizio Brentini